Yin und Yang (3)

Ein leises Knurren war das Erste, das wieder in mein Bewusstsein schlich. Es wurde immer lauter, klang erstaunlich fremd und mit Abstand nicht so furchteinflößend wie Liams. Nichtsdestotrotz hörte es sich unglaublich nahe an und riss mich aus dem schwarzen Tief heraus, in das ich vorher hineingefallen war.

Langsam öffnete ich meine Augen und sah ein sehr dunkles Blätterdach über mir, das mich zuzudecken schien. Auf irritierende Weise fühlte ich mich wohl, geborgen, sicher.

»Malia?«, hörte ich seine tiefe, besorgte Stimme. Ich erkannte, dass er einige Meter entfernt sein musste, denn ich spürte weder seine Wärme, noch war seine Stimme klar und deutlich bei mir.
Das Knurren neben mir erlosch, ein weiterer besorgter Blick lag nun auf mir, das spürte ich. Mit aller Kraft wendete ich meinen Kopf zur Seite und sah zwei große Tatzen direkt neben meinem Gesicht, die Krallen des Tieres zu mir gedreht. Ehe ich einen klaren Gedanken fassen konnte, spürte ich etwas unangenehm Raues, Feuchtes über meine Stirn gleiten und verzog leicht das Gesicht. Liam schmunzelte im Hintergrund, woraufhin die Raubkatze sich in überdimensionaler Geschwindigkeit umdrehte und wieder zu Fauchen und Knurren begann.

Liam seufzte und setzte sich wieder auf einen Stein, der bei der Lichtung stand. Das Knurren versagte, als er eine Minute ohne jede Rührung dort gesessen hatte.
Langsam richtete ich mich auf und rieb mir den Kopf. Er dröhnte, als würde er mich für etwas bestrafen wollen. Allmählich kam dann auch die Erinnerung wieder und ich sah erschrocken um mich. Als ich letztlich zwei Projektile fand, atmete ich erleichtert auf. Sie waren mit herausgekommen, keine Spätfolgen für das arme Tier.

»Eh, ich will ja nicht unhöflich sein, aber kannst du deinem Schmusekätzchen vielleicht mal klar machen, dass ich mich auch nur um dich sorge?«, erklang Liams Stimme von dem Felsbrocken, während der Leopard wieder einen bedrohlichen Laut aus seiner Kehle ließ. Er war zu Liam gedreht, sein Schwanz zuckte angriffsbereit.

Verwirrt sah ich zwischen dem Leoparden und Liam hin und her. Meinte er nicht zuvor, dass jedes Tier Angst vor ihm hätte? Warum stand der Leopard jetzt also noch bei mir und ergriff nicht die Flucht, wie alle anderen es bei Liam taten?

Ich hörte ein Seufzen. »Du hast ihm das Leben gerettet, er steht für immer in deiner Schuld. Er würde dich vor allem und jedem beschützen, auch, wenn er sichtlich keine Chance hätte. Ich sitze seit fünf oder sechs Stunden hier, und er ist nicht einmal fortgegangen, um etwas zu essen oder zu trinken. Er bewacht dich wie seinen Augapfel.«

»Oh.«, gab ich nur von mir. Apropos Essen und Trinken, mein Mund war unglaublich trocken und mein Körper signalisierte mir jetzt auch klar und deutlich, dass ich mal besser was trinken sollte.

Ich war ein wenig überfordert mit der Aufgabe, die Liam mir erteilt hatte. Immerhin wusste ich nicht einmal, wie ich den Leoparden geheilt hatte. Außerdem waren meine menschlichen Sinne wieder beisammen, und diese schrieben mir Angst und Respekt in Großbuchstaben auf meine Gefühlstafel.
Allerdings wusste ich auch, dass ich keine Wahl hatte, denn anders kämen Liam und ich hier nicht heraus.

Vorsichtig stand ich also auf, ein bisschen schummerig war mir immer noch. Ich wankte ein wenig, war froh, dass sich direkt neben mir ein Baum befand und sich als Stütze anbot. Der Leopard vor mir drehte sich um und sah besorgt zu mir. Natürlich verspürte ich jetzt auch Angst, versuchte aber, sie in eine gute Portion Respekt zu verwandeln. Hätte mich dieses Tier umbringen wollen, wäre ich schon lange tot.
Er warf noch einen Blick zu Liam, der unverändert auf dem Felsen saß, ehe er zu mir kam und sich an mir entlang schmiegte. Wie eine Hauskatze, die sich am Bein ihres Besitzers rieb, rieb sich die größere Version der Rasse an mir und warf mich dabei beinahe um. Ich musste ein wenig Lächeln, und sah zu dem Tier herab, es zu mir hoch. Ich glaubte sogar, ein leises, schnurrenähnliches Geräusch wahr zu nehmen.
Das Tier war wunderschön. Treue, helle Augen blickten zu mir auf und ich erkannte einen ovalen Fleck mitten auf der länglichen Nase. Wie in Trance hob ich langsam meine Hand an, nahm Liams erschrockenes Aufstoßen nicht wirklich bewusst wahr, und strich ganz langsam und vorsichtig über den Kopf der anmutigen Gestalt. Anstatt nach mir zu beißen oder fortzulaufen, schloss es die Augen und schmiegte sich an meine Hand, drückte den Kopf dagegen und das Geräusch, das mich so an Katzenschnurren erinnerte, wurde ein wenig lauter. Ein paar Mal streichelte ich den Leoparden, ehe ich Liam mit der anderen Hand deutete, ganz langsam und vorsichtig näher zu kommen.
Augenblicklich zuckte der Leopard zurück, als Liam sich bewegte. Doch mit ruhigem auf ihn Einreden und weiteren Streicheleinheiten schaffte ich es, dass Liam sich uns nähern konnte. Vorsichtig holte dieser ein Fleischwurstbrötchen aus der Brotdose, die er griffbereit in der Hand hielt - vermutlich, um mir etwas zu essen zu geben, nachdem ich mal wieder stundenlang in Ohnmacht gewesen war -, und warf es dem Leoparden zu. Dieser musterte es vorsichtig, schnüffelte daran. Dann war es schneller weg, als meine Augen die Bewegungen verfolgen konnten.
Nach wie vor misstrauisch sah der Leopard zu Liam, doch seine angespannte Haltung hatte sich gelegt. Liam kam näher, ohne Knurren, bis er nur noch einen Meter von uns entfernt stand. Dann ging der bedrohliche Laut aus der Kehle der Katze in eine neue Runde, doch mit Zeit, Streicheleinheiten und gutem Zureden schaffte Liam es an dem Tier vorbei zu mir.

Ich erinnerte mich an seine Worte, dass er tausend Stiche einnehmen würde, um eine Katze streicheln zu können. Nun ja, das vor mir war vielleicht nicht die Art Katze, an die er dachte, aber es war eine Katze. Und vermutlich das allererste Tier, das Liam - abgesehen seinesgleichen - jemals so nahe gekommen war.

Leichtsinnig und dumm, wie der Trip nach Sri Lanka ohnehin war, griff ich nach einer von Liams Händen. Gleichzeitig sah ich sanft zu dem Leoparden hinab und versuchte, ihm zu vermitteln, dass von Liam keine Gefahr ausging. Er hätte dich auch töten können, wenn er gewollt hätte, dachte ich fest und hoffte, es würde bei dem Tier ankommen und er würde es auf irgendeine Weise verstehen, so wie es mich zuvor per Gedanken zu sich geführt hatte.
Doch es schien zu funktionieren. Der Leopard verlor auf ein neues seine angespannte Haltung und sah mit großen Augen zu Liams Hand in meiner auf.
Liam war vollkommen überfordert mit der Situation. Er wagte es nicht, sich zu bewegen, weil er Angst hatte, das Tier könnte ihn fressen - zumindest vermutete ich das, obwohl das eigentlich vollkommen banal war, weil Liam selbst an der Spitze der Nahrungskette stand -, und sah mich mit großem Ausdruck und geschockt an.

Noch geschockter war er, als er auf einmal Fell unter seiner Hand spürte. Sein Blick schoss augenblicklich herab zur Raubkatze, die ebenso missmutig gestimmt war, seine Berührungen aber zuließ. Sie schnurrte nicht, blieb aber still und ließ es zu.

Noch bevor ich wirklich anfangen konnte, Liams Faszination zu bewundern, raschelte es leise im Busch. Die Katze zuckte zurück, sprang in den Dschungel und verschwand.

»I-ich hab.. ich hab ein Tier gestreichelt.«, Liam starrte auf seine Hand, die eben noch den Leoparden berührt hatte. Obwohl es so dunkel war, sah ich seine Augen funkeln und das machte mich glücklich. Er sah ungläubig zwischen seiner Hand und der Richtung, in die das Tier verschwunden war, hin und her. Wenn ich genau hinsah, dachte ich sogar, zu sehen, wie sich Tränen in seinen Augen sammelten. Unbeweglich stand er da, in Fassungslosigkeit, Ungläubigkeit, Verzauberung, hingerissen und bestaunend.

Ich konnte nicht anders als grinsen. Wenn er strahlte, ging in mir eine Sonne auf, ganz unabhängig davon, ob sie sich gerade tatsächlich am Himmel sehen ließ.
»Wie Yin und Yang. Wir gleichen uns wohl doch auch im Bezug auf die Wirkung auf Tiere aus.«

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