Yin und Yang (2)

Schwer atmend lehnte meine Stirn nach wie vor an seiner. Sie schien zu glühen, sein gesamter Körper, wie immer. Er bebte aufgrund schwerer Atemzüge, als wäre er kurz davor, die Fassung zu verlieren. Mit seinen Händen griff er sanft, dennoch bestimmend an meine Taille und presste mich noch enger an seinen Körper. Er schloss die Augen, atmete tief durch, als würde er versuchen, den Moment zu inhalieren und nicht lediglich die Luft um uns herum.

Ich stand ebenfalls kurz davor, mich selbst in den Moment gehen zu lassen und alles, die Umgebung und unser Gesprächsthema, zu vergessen. Aber ich wäre ja nicht ich gewesen, wenn ich einfach so nachgegeben hätte. »Ich, ehm, ich verstehe nicht, was das mit meiner Frage zu tun hat.«

Liam ließ die Augen geschlossen, musste aber leicht schmunzeln. Zu gerne wüsste ich, was in ihm vorging. »Yin und Yang mögen sich zwar ausgleichen, was ihr Wesen ausmacht. Nichtsdestotrotz wärst du, hättest du genug Training gehabt, um einiges stärker als ich es bin. Zudem traut sich kein noch so leichtsinniger Ritter einfach so an einem Drachen vorbei, der ihn mit einem Mal umbringen würde.«

So langsam verstand ich. Wir glichen also Yin und Yang im Bezug darauf, dass ich gut war, dass ich Licht gab, das ich mit der Natur verbunden und dadurch positiv war. Er wirkte dann eher so wie mein Schatten, wie die Bestie, die mich schützte. Wie Yin und Yang glichen auch wir uns im Bezug auf Dunkelheit und Helligkeit aus, aber er war entstanden, um mich zu schützen und wie gelang das besser, als durch Angst?
Allerdings wollte ich trotzdem in den Nationalpark. Ich mochte es nicht als wahr anerkennen, dass sich die Tiere von ihm fernhielten. Wie grausam musste das sein? Selbst ein halbes Tier, aber niemals mit welchen in Kontakt. Nicht Hunde, Katzen, Pferde, Kaninchen, Hamster - wahrscheinlich hatte Liam nicht ein einziges Mal in seinem Leben den Zoo besucht. Das musste grausam sein.

Wieder schlich in mir der Drang ans Bewusstsein, ihm helfen zu wollen. Es musste doch irgendeine Möglichkeit geben; er war ja nicht schuld an dem, was er war. Ich verstand nicht, warum sein Schicksal dann noch so ungerecht war.
»Ich möchte trotzdem dahin.«, flüsterte ich vorsichtig gegen seine Lippen und ergatterte wieder ein leises Seufzen.

»Du lässt echt nicht locker, oder?«, murmelte er und öffnete die Augen langsam wieder, um mir dann tief in meine zu sehen. Augenblicklich verlor ich mich in dem Labyrinth aus grünen Smaragden, konnte aber zuvor noch leicht den Kopf schütteln.

»Du machst mich echt fertig.«, gab er letztlich nach. Seine Augen huschten kurz zu meinen Lippen, anschließend mit einem fragenden Ausdruck wieder zu meinen. Ich lächelte kurz und einverstanden, worauf ich einen unglaublich sanften, leider viel zu kurzen Kuss bekam. Anschließend wich Liam und damit all die Wärme von mir. Ich fühlte mich, als stünde ich in einem Schneesturm, obwohl wir gerade bestimmt über dreißig Grad hatten. Okay, das war vielleicht übertrieben, aber dennoch liefen kalte Schauer über meinen Körper, während meine Lippen das Einzige waren, was unter meiner Haut heiß prickelte.

—————————————————————

Mittlerweile stand die Mittagssonne genau über uns. Es war noch heißer geworden, als es zuvor gewesen war, und das, obwohl wir einen Tag vor Heiligabend standen. Unglaublich, wie unterschiedlich unser Planet an ein und demselben Tag sein kann.
Wir befanden uns gerade im Udawattakele Sanctuary Park, etwa zwanzig Minuten von Kandy entfernt. Es war praktisch, dass es so nahe gelegen war, denn so konnten wir einfach zurück fahren oder gar laufen, wann immer wir wollten. Wir hatten uns mit Absicht gegen die Möglichkeit einer Reisegruppe oder Führung entschieden, immerhin wussten wir nicht, wie die Tiere auf uns, vor allem auf Liam reagierten und wollten niemandem den Aufenthalt vermiesen, keine Tiere zu Gesicht bekommen lassen, nur weil Liam dabei war.
Und so liefen wir beide nebeneinander einen kupferfarbenen Sand- und Steinpfad entlang durch einen riesigen Wald. Es erinnerte mich tatsächlich mehr an einen Dschungel, denn die Bäume hier identifizierte ich als keinen der mir bekannten Bäume in mir bekannten Wäldern. Die Wurzeln von ihnen waren teilweise nicht einmal im Boden verankert sondern befanden sich über der Erdoberfläche, war wohl kein so fruchtbarer Boden hier. Die Sonne wurde uns mittlerweile durch ein Kronendach vorenthalten, aber dafür war es unter diesen Riesen ,ehr als nur schwül. Ich hatte eigentlich kein Problem mit verschiedenen Wetterlagen, auch diese machte mir weniger aus als so manch anderem, aber ungewöhnlich fanden es meine Lunge und meine Schweißdrüsen trotzdem. Ich hoffte, dass ich nicht zu sehr schwitzte; Schweißflecken vor Liam wären absolut peinlich. Bei ihm war das okay, er war ein Junge, aber ich als Mädchen?

Wir liefen bestimmt schon eine dreiviertel Stunde durch den Nationalpark, ohne ein einziges Tier zu Gesicht bekommen zu haben. Nicht einmal Vögel hörte ich um uns herum zwitschern, keine Ameise sah ich am Boden. Es erinnerte mich ein wenig an den Tag, an dem Steve und Lauren ihr Leben für ihr Volk, die Vampire, gaben, um mich für sich zu gewinnen. Das war misslungen, sie waren umsonst gestorben. Mittlerweile lebte ich ganz gut damit, ich hatte es überwunden; es tat mehr weh, zu wissen, dass sie nicht mich, sondern lediglich Macht wollten, als dass sie sich quasi selbst umgebracht hatten. Sie waren leichtsinnig gewesen und dafür hatten sie bezahlen müssen; das Risiko waren sie absichtlich eingegangen.
Auf jeden Fall erinnerte ich mich daran, mich damals schon darüber gewundert zu haben, dass keine Vögel am Himmel zu sehen waren. Liam und sein Rudel mussten schon anwesend gewesen sein, noch bevor wir den Park betreten hatten. Das würde auch Steves heimtückisches Grinsen erklären, als ich nach den Vögeln gefragt hatte.

Ein Blick zu meiner Rechten stoppte mein Herz kurz. Ich merkte, wie mein Körper zusammenzuckte. Liam lief neben mir, den Kopf gesenkt. Seine Schultern hingen ausdruckslos herab, ganz anders als der Stolz, mit dem er seinen breiten Rücken normalerweise präsentierte. Sein Blick war nach unten gerichtet und er trat immer wieder nach einem Stein oder einer Nuss oder etwas Ähnlichem. Was hatte ich nur getan?

Vorsichtig lief ich zu ihm herüber, näher neben ihm, griff nach seiner Hand. Ich sah, wie er ertappt etwas rot wurde, den Blick aber nicht vom Boden abwendete, um die Scham zu vertuschen. Langsam verschränkte er seine Finger mit meinen. »Naja, sehen wir es positiv. Wir müssen uns keine Gedanken darum machen, dass wir durch Moskitos Malaria bekommen.«, versuchte ich ihn aufzumuntern. Ich wusste, dass ich in Sachen Trösten echt keinen Orden verdiente, aber irgendwie musste ich es versuchen. Er wirkte so gebrochen, und auch sonst hatte ich oft den Eindruck bekommen, dass er gar nicht derjenige sein wollte, der er war.

»Ich würde mich von tausend Moskitos stechen lassen, um ein einziges Mal eine Katze streicheln zu können.«, murmelte er. Er ließ meine Hand zwar nicht los, ließ den Blick aber immer noch gesenkt und trat erneut einen Stein vom Pfad in einen Busch neben uns. Ich hatte vergessen, dass wir beide ja nicht so einfach sterben konnten.

Aber seine Aussage brachte mich auf eine Idee. Ich wusste nicht, ob es funktionierte, und meine menschlichen Züge strebten sich vehement gegen meinen Einfall, aber ich würde alles tun, um Liam ein Lächeln ins Gesicht zaubern zu können, und dazu zählte auch, über meinen eigenen Schatten zu springen.
Ich blieb stehen, sah mich um. Wir hörten keinen Mucks, waren fernab von jeglichen Personen und vermutlich auch Tieren. Von übernatürlichen Gefahren ging ich auch nicht aus, immerhin hatte ich meinen Bedrohungsdetektor gerade an meiner rechten Hand.
Liam blieb ebenfalls stehen, seine müden Augen musterten mich verwirrt. Gleich, Liam. Gleich bringe ich dich zum Strahlen. Hoffentlich.

Während ich entschlossen in den Dschungel hinein lief, weg vom Pfad und in die Tiefen des Baumlabyrinths, hatte ich keinerlei Angst vor Zecken, Spinnen oder Schlangen. Zum ersten Mal registrierte ich das Gefühl der Befreiung, das mit dem Bewusstsein einherging, nicht einfach so sterben zu können. Ich fühlte mich auf absurde Weise lebendig, denn ich konnte tun und lassen, wonach mir war, ohne mein Leben zu riskieren. Naja, also fast. Und nach der Geburt meines ersten Kindes würde sich das auch ändern, aber in diesem Moment fühlte ich mich frei.
Liam sagte nichts, folgte mir nur durch das Chaos von Ästen, Wurzeln und Blättern. Der Wald wurde immer dichter und schien, uns erquetschen zu wollen. Obwohl es immer dunkler wurde, verspürte ich nicht den Hauch einer Angst. Nein, im Gegenteil, ich fühlte mich auf sonderbare Weise mit dem Wald verbunden und wusste, ich würde mich nicht darin verirren.

Plötzlich schrillten alle Alarmglocken in mir. Automatisch blieb ich stocksteif auf der Stelle stehen, ließ Liams Hand los. Ich starrte in die Leere des Waldes, versuchte, das Gefühl zu ordnen und zu orten, was es auslöste. Ich spürte, wie Liam hinter mir den Mund öffnete, um etwas zu sagen, aber ich unterbrach ihn mit einem shhh, noch bevor er einen Ton ausspucken konnte.

Ich hatte sofort erkannt, was es war. Ich wusste nicht, wie es Geschehen war, aber ich wusste, dass es gleich zu spät war, wenn ich nicht handeln würde. Der Alarm, der mir durch alle Venen und Nervenstränge fuhr, war der Hilfeschrei eines Tieres. Lautlos war er für meine Ohren, ein stummer Jammerlaut, beinahe gänzlich vom Sterben erfüllt, der mein Herz pulsieren ließ.

Keine Sekunde später begann ich, zu rennen. Wo bist du?, schrien meine Gedanken wahllos und immer wieder, und es funktionierte. Der stumme Klagelaut wurde in meinem Kopf lauter, wie ein pochender Schmerz.
Und auf einmal drang ein echter Laut in meine Ohren; die leisen Stimmen von lachenden Menschen. Irgendwer amüsierte sich köstlich. Ich hörte, wie man Äste und Gras abschnitt, um sich durch die Gegend zu kämpfen. Es war das allererste Mal, dass ich das Gefühl von Hass verspürte. Abgrundtiefem Hass.

»Verjag sie.«, zischte ich, kurz davor, meine Kontrolle zu verlieren.

»Was?«, hörte ich die mir mehr als nur bekannte Stimme hinter mir, leicht besorgt und nun auch in Aufruhr und Panik versetzt.

»Du sollst sie verjagen.«, sprach ich herrisch, wie ich es von mir nicht einmal selbst gewohnt war. Ich war gerade nicht ich selbst, das wusste ich. Also, irgendwie war ich das schon, aber ich kannte diese Seite nicht.
Mein Blick schoss zu Liam, der mir in die Augen sah, zusammenzuckte und schluckte. »Jetzt.«, verlieh ich dem Ganzen Nachdruck. Ich hätte mich niemals gewagt, so mit ihm zu sprechen, wenn ich die Kontrolle hätte. Ich hoffte, das wusste er.
Von Liam bekam ich nur ein Nicken, dann verschwand er im Wald. Wieder hörte ich den Klagelaut, den Schrei, die Not in mir. Es wurde schlimmer. Wenn ich mich nicht beeilte, kam ich zu spät, das wusste ich.
Also begann ich zu rennen, tiefer und tiefer in den Wald. Halte durch, flüsterte ich immer wieder und versuchte, wen oder was auch immer nach mir rief, zu beruhigen und zu ermutigen. Je näher ich kam, desto pochender wurde der Schmerz in meinem Kopf. Aber auch ich musste durchhalten, musste finden, was im Sterben lag.

Gerade schlug ich einen großen Ast zur Seite, als ich an einer winzigen Lichtung ankam. Zwei Quadratmeter hatte sie vielleicht, aber es reichte.
Ein schreckliches Bild bot sich mir. Mein Herz stockte, vor Schock hielt ich mir den offen stehenden Mund zu. Meine Augen begannen augenblicklich zu Tränen, Schmerz breitete sich explosionsartig in mir aus.
Vor mir auf dem Boden lag eine Raubkatze, ein Leopard, in seinen letzten Atemzügen. Ich sah eine Schusswunde an seinem Hinterlauf, sah eine Schusswunde in seinem Rücken. Ich kam von hinten, doch er schien keine Angst zu haben - er sah zu mir, als würde er mir danken wollen, dass ich gekommen war. Als wisse er, was ihm bevor stünde, ohne Hoffnung aber Dankbarkeit, nicht allein von uns gehen zu müssen. Erschöpft legte sich sein Kopf ins Gras, er sah nach vorn und von mir Weg.

Ich wusste, ich konnte nicht zulassen, dass er starb. Ich konnte es nicht. Nicht, weil irgendwelche dummen Menschen dachten, sie könnten ein so intelligentes und wunderschönes Tier für Geld erlegen.
Ich wusste, was Liam gesagt hatte. Ich könnte sterben dabei, wenn ich es anwandte. Ich wusste ja nicht einmal genau, wie ich es anzuwenden hatte.
Aber wenn ich erst sterben würde, wenn ich die Welt in einen Eisblock verwandelte, dann doch sicher nicht bei dem Versuch, einem Tier das Leben zu retten, oder?

Ich wusste, die Entscheidung war fällig. Und ich hatte mich entschieden. Ich wollte nicht das Letzte sein, was dieser Leopard zu Gesicht bekam. Zumal er nicht einmal sehr alt aussah; er hatte noch so viel vor sich in seinem Leben.

Eilig schritt ich zu ihm, spürte seine Augen auf mir, doch er rührte sich nicht. Vor ihm kniete ich mich ins Blut, spürte zugleich, wie meine Hand zu glühen begann. Die Augen des Tieres vor mir wurden groß, seine Atemzüge schnell. Von Weitem hörte ich Menschenschreie, doch diese blendete ich aus. Unterbewusst nahm ich sie wahr, aber das war es.
Langsam strich ich über das Fell der Raubkatze. Es war nicht sonderlich weich, aber auch nicht verfilzt oder dergleichen. Ich wusste, dass alle meine menschlichen Züge gerade von mir gewichen waren - ich verspürte keinerlei Angst, ein so gefährliches und elegantes Tier zu berühren.
Ich sah, wie die Adern meiner Arme zu leuchten begannen. Wie flüssiges Gold, hatte Payne sie damals beschrieben, als ich Liam gerettet hatte. Ja, es sah tatsächlich aus wie flüssiges, leuchtendes Gold.

Als meine Hände auf den beiden Schusswunden waren, traf mich die Müdigkeit und Erschöpfung wie ein Schlag ins Gesicht. Ich wusste nicht, ob und inwiefern es funktionierte, hoffte, die Kugeln würden aus dem Körper des sterbenden Leopards unter mir verschwinden. Ich spürte auch, wie sich unter mir im Körper des Tieres etwas tat, kämpfte gegen die Müdigkeit an, versuchte, es zu retten.
Und ab diesem Moment wusste ich nichts mehr. Nicht, ob ich es geschafft hatte, ob das beißend helle Licht meinen Körper wieder verließ, ob der Leopard starb.
Es wurde lediglich alles mit einem einzigen Fingerschnipsen schwarz vor mir.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top