Yin und Yang (1)
»Liam, komm schon! Was machen wir? Wo bringst du mich hin?«, quengelte ich. Ich wusste zwar, dass wir erst seit zehn Minuten irgendeiner Straße folgten, aber ich kannte das Ziel nicht und das machte mich wahnsinnig. Und wenn ich wahnsinnig werden sollte, dann durfte ich Liam auch wahnsinnig machen.
»Wir sind ja gleich da. Also zumindest bei unserem Zwischenstopp.«, grinste er hingegen und zog mich enger an seinen Körper, weil der Bürgersteig schmaler wurde. Immer noch fuhren Autos, die Klimaschutzaktivisten vermutlich zur Depression getrieben hätten, umher und versprühten ihre Abgase in der Luft. Wofür gab man sich in so vielen Ländern der Welt die Mühe, auf die Abgase zu achten und elektronische Autos zu entwickeln, anstatt erstmal den Ländern zu helfen, in denen man noch mit Wagen aus dem zwanzigsten Jahrhundert herum tuckerte?
Liam und ich bogen um eine Ecke. Wir kamen in eine Fußgängerzone, links und rechts bahnten sich haufenweise Geschäfte und Marktstände an der engen Gasse zusammen und schienen sie zu erdrücken, wie Berge ein Tal erdrückten. Wortlos folgte ich Liam, der sich mittlerweile von meinem Körper gelöst hatte und mich an der Hand durch das Chaos und die Masse der Menschen hindurch führte. Um die Ecke hatte es noch gar nicht so laut geschienen, aber jetzt erreichten die Schallwellen mein Ohr als würde ich direkt neben einem Heavy Metal Sänger stehen. Ungefähr so unangenehm war es auch, kein Wort der Leute um mich herum verstehen zu können. Ich atmete kurz tief durch; wenigstens war ich hier nicht alleine.
Ich achtete gar nicht darauf, wie lange und wie tief Liam mich in das Gewirr herein zog. Es war voll, laut, unglaublich heiß und stickig. Ich wollte nur noch von dort weg, denn die Körper, die sich schwitzend und gezwungen aneinander rieben, waren echt nicht mein Ding. Irgendwann hielt Liam glücklicherweise und zwängte sich mit mir an einem kleinen Taschenstand vorbei zu einem Geschäft. Zuerst sah ich darüber ein blaues Schild mit roter Schrift, die wie ein Kunstwerk aussah aber ich dadurch, dass es Schriftzeichen waren, nicht identifizieren konnte. Das Schild war schon abgenutzt und das, was darunter in den Buchstaben des Alphabets stand, nicht mehr ersichtlich. Vor dem schmalen Eingang standen zwei Kartenständer mit Postkarten und ähnlichem, auf jeder war Sri Lanka anders abgebildet. Ich entschied, irgendwann noch einmal her zu kommen und Natalia, dem Heim, Summer und ihren Eltern und eigentlich jeder meiner Freundinnen eine Karte zu schicken. Aber nicht jetzt, denn jetzt wollte ich nur noch aus dem Tumult raus.
Unten in der Ecke des Schaufensters neben der Tür sah ich im letzten Moment einen grünen Sticker mit einer Eule, der mir den Hinweis gab, den ich suchte. Tripadvisor. Liam und ich würden heute also was Touristenartiges unternehmen, gut zu wissen.
Drinnen war eine ganze Menge los. Die Leute sahen ganz unterschiedlich aus, die meisten hatten eine Kamera um den Hals oder ihr Handy parat, um alles zu dokumentieren. Eine Familie mit zwei Kindern sah ich, die aussahen, als kämen sie aus China. Sie wirkten wie Zwerge, wenn ich Liam neben ihnen mit seinen knapp zwei Metern betrachtete, aber sie wirkten sehr sympathisch. Dann sah ich noch eine dunkelhäutige Familie, sehr formell und nobel gekleidet. Außerdem standen auch noch zwei ziemlich blasse Familien in dem kleinen Raum, die vermutlich irgendwo aus dem Norden kamen.
Als ich mich etwas genauer umsah, sah ich, dass überall Bilder und Poster mit Aktivitäten hingen. Ich erkannte viel Natur auf ihnen, Tiere, die es in Kanada und Spanien so nicht gab. Ich erkannte auch Restaurants, Bowlingbahnen, Lasertag und Kletterparks. Die Wände, an denen die Poster hingen, wirkten sehr morsch. Sie bestanden aus Holzdielen und ich bekam schon beim hinsehen Angst, dass sie unter meinem Blick zusammen brachen, aber gleichzeitig wirkten sie sehr stabil, immerhin hielten sie ein ganzes kleines Haus. Der Boden knarzte unter jedem meiner Schritte und ich wurde etwas rot, als die Kinder der Familien zu mir auf sahen. Der Boden knarzte nämlich unter meinen Schritten, aber nicht unter Liams, und er war augenscheinlich viel schwerer als ich.
Die Erwachsenen der Familien schienen das aber nicht zu bemerken, denn sie diskutierten gerade mit einer gestressten Dame. Sie sah aus, als wäre sie Mitte fünfzig. Lange, dünne, dunkle Haare, die am Ansatz grau waren, umrahmten ihr breites Gesicht. Man sah ihr ihre Stärke an, dass sie schon viel erlebt haben musste, aber sie machte dennoch einen netten Eindruck. Ihre Stimme klang etwas disharmonisch, aber ich war mir nicht sicher, ob das nicht einfach an der Auseinandersetzung mit der chinesischen Familie lag.
Liam und ich kamen an einem freien Platz an der kleinen Theke an. Zwei altmodische Kassen standen darauf, überall lagen Flyer. Die Sprache auf ihnen war zunächst in Schriftzeichen verfasst, etwas kleiner darunter aber glücklicherweise in Englisch.
Nachdem er sich nochmal nach mir umgesehen hatte, dann alle Leute im Raum inspiziert hatte und vermutlich abgesichert war, dass nichts hier eine Gefahr darstellte, wendete sich Liam nach vorne. Just in dem Moment kam ein kleiner Mann um die Ecke, der vielleicht Mitte zwanzig war. Sein Teint glich, wie von so vielen Menschen hier, einer hellen Version von Vollmilchschokolade. Seine schwarzen Haare fielen ihm auf die Stirn, aber sobald er lächelte, wirkte er ein paar Jahre jünger und sehr freundlich. Mit brüchigem Englisch empfing er Liam, der neben ihm aussah wie Wladimir Klitschko. Also, zumindest von der Statur her. Und dennoch war ich in dem Moment froh, dass das nur durch den Vergleich mit dem dünnen Mann hervorkam und Liam normalerweise zwar gut gebaut, aber kein Bodybuilder war. Seine Figur war eigentlich vergleichbar mit der von Shawn Mendes oder Usher in 2015.
Durch die Lautstärke, die von Außen hereindröhnte und auch durch die Diskussion neben uns verstand ich kaum ein Wort von dem, was Liam mit dem Mann besprach. Allerdings drehte er sich kurz darauf mit seinem typischen Grinsen zu mir um. »Links an der Wand, such dir eine Aktivität aus, die du heute gerne machen würdest.«, hörte ich die melodischste Stimme des Planeten Erde leise durch den Raum in mein Ohr schallen. Ich grinste direkt ziemlich breit und zog Liam am Arm zu mir herab, um ihm einen Wangenkuss als Dankeschön zu geben. Dann ging ich, gefolgt von ihm, zur linken Wand, wo zum Glück keine der Familien stand und alles ein wenig leiser wurde. Ich sah an der Wand hoch, dort waren einige weitere Unternehmungsideen in Bildern abgebildet, mit denen man scheinbar einen halben bis ganzen Tag füllen konnte. Ich sah Indoorgolf, ein riesiges Hallenbad, Restaurants, Nationalparks und natürlich einige Sehenswürdigkeiten, wie zum Beispiel Häuser und Tempel im asiatischen Stil.
Ich wusste direkt, wonach mir war, wollte Liam aber nicht zu kurz kommen lassen. »Was möchtest du denn so unternehmen?«, ich sah zu ihm rauf, er stand mittlerweile in seiner vollen Pracht rechts neben mir.
Lächelnd sah er zu mir runter, warm und sanft. Ich fühlte mich gleich wieder wie Zuhause, obwohl wir über tausende Kilometer vom verschneiten Kanada entfernt waren. »Das ist mir ganz egal, Süße. Such dir ruhig aus, was du möchtest. Solange du dabei bist, ist mir alles Recht.«
Ich kam näher zu ihm, während er mir sanft über den Rücken strich. Wieder wurde ich etwas rot, ich kam mir vor wie in einer realen Schnulze - und es gefiel mir. »Ich dachte vielleicht an den Nationalpark? Alles andere, naja, fast alles andere können wir ja auch bei uns Zuhause machen.«
Ich sah Liam kurz tief durchatmen, während er mich näher an sich heran zog. Seine Arme schlangen sich nun angenehm um meinen Rücken und pressten mich an seine heißen Körper, sodass er nur flüstern musste, damit ich ihn verstand. »Alles, außer den Park.«, murmelte er autoritär und sah mir dabei entschlossen in die Augen. Ich hingegen sah verwirrt zu ihm auf, »Was ist denn daran so falsch?«
Jetzt schmunzelte er ein wenig, als wisse er, dass mir gerade irgendetwas entging und er amüsierte sich an meiner Ahnungslosigkeit. Scharf dachte ich darüber nach, warum es keine gute Idee sein würde, aber mir fiel nichts ein, zumal meine Konzentrationsfähigkeit durch seine unmittelbare Nähe ohnehin beeinträchtigt war. Als meine Ohren dann sein raues und leises Lachen, das tief aus seiner Kehle kam, vernahmen, war es ohnehin aus und vorbei. »Man sieht richtig, wie es in dir rattert.«, grinste er und bekam sich kaum mehr ein.
Die Stirn kraus ziehend boxte ich ihm gespielt gegen die Brust. Sie war immer noch hart wie Stahl und ich war so überrascht von dieser Tatsache, dass der Schmerz erst nach einer Sekunde einsetzte. Ich schüttelte meine Hand und begann zu schmollen, bekam von ihm aber nur ein etwas lauteres Lachen. Pff, mein Schlag war schon härter gewesen, als gedacht. Und ihn schien das absolut nicht zu beeindrucken.
»Ich will aber in den Nationalpark.«, gab ich stur von mir und verschränkte die Arme vor der Brust. Ich sah von seinen Augen weg zur Seite und hob gespielt beleidigt den Kopf, vernahm ihm letzten Moment, wie er die Augen verdrehte. Seine Arme nahm er aber dennoch nicht von mir.
»Du wirst aber keine Tiere sehen.«, flüsterte er so leise, dass nur ich es hören konnte. Jetzt, weil er so ernst klang etwas verwirrt, schenkte ich ihm wieder meinen Blick. Oder viel mehr schenkte ich mir selbst den Blick auf den Adonis vor mir.
»Wieso?«
Liam gab mir ein eher trauriges Lächeln und wendete den Blick kurz nach unten, dann sah er mir wieder in die Augen. Seine smaragdgrünen Augen hatten sich für den Bruchteil einer Sekunde verändert; das Grün nahm wieder die unnatürliche Farbe von strahlendem Moos an, seine Pupille hatte sich verkleinert und generell hatte man kaum mehr seine Bindehaut sehen können. Instinktiv zuckte ich etwas zusammen, obwohl es nur ein Zehntel einer Sekunde war, wenn nicht noch weniger. Liam hatte noch nie irgendwelche Anzeichen seiner zweiten Gestalt in meiner Nähe von sich gegeben, zumindest mit der Absicht, sich mir zu offenbaren. Ich hatte vermutlich verdrängt, dass alles tatsächlich der Wirklichkeit entsprach, denn mir stockte kurz der Atem und ich fühlte mich wie festgewachsen. Bereit zur Flucht, zum Renen, das Adrenalin pumpte durch meine Adern. Wieder zuckte ich, als seine Hand meine Wange berührte. Heiß strichen seine Finger über meine Haut, hinterließen prickelnde Spuren. Vorsichtig beugte er sich zu mir herab, flüsterte »Keine Sorge, das ist die natürliche Reaktion eines Menschen. Ihr ward so lange unentdeckt und nicht bereit, eure Kräfte zu benutzen, dass ihr immer mehr wie sie geworden seid. Aber ich bin mir sicher, irgendwann muss ich mich nicht mehr vor dir verstecken.«, kurz darauf schmiegten sich seine Lippen sanft an meine und lösten sich so schnell wieder, dass mir keine Chance einer Reaktion überblieb. Allmählich beruhigte sich mein Herz wieder. Wie machte er das? Und was meinte er damit, er würde sich vor mir verstecken? Ich wusste doch, was er war.
Vorsichtig fuhr ich mit meiner Hand seinen Arm entlang in seinen Nacken, zog ihn herunter, sodass seine Stirn an meiner lehnte. »I-ich habe keine Angst vor dir.«, hauchte ich, leider weniger davon überzeugt, als ich hoffte, dass es klang.
»Ich rieche dein Nor- und Adrenalin.«, flüsterte Liam gleichermaßen, sein Atem ging flach, ich spürte seine Gänsehaut in seinem Nacken unter meiner Hand. Es war unmöglich, die Traurigkeit, den Selbsthass und das bisschen Enttäuschung nicht aus seiner Stimme herauszuhören. Es zerbrach mir das Herz, stampfte auf den Scherben herum. Ich merkte seine Schmerz körperlich, ein Stechen in meiner Brust.
»Das ist mein Körper, nicht meine Seele.«, ich schluckte leicht, stellte die Spannung und das Knistern zwischen uns wie ein Feuerwerk vor meinen Augen fest. Die Umgebung, wo wir waren und wie laut es war, war wieder vollkommen verdrängt. Alles, was ich sah, waren seine menschlichen, smaragdgrünen Augen vor mir. Alles, was ich hörte, war die angenehmste und harmonischste Stimme der Welt. Alles, was ich spürte, waren seine unregelmäßigen Atemzüge auf meinen Lippen und seine Gänsehaut unter meinen Fingern.
»Ich möchte trotzdem in den Nationalpark.«, flüsterte ich. Ich merkte, dass ich Liam gerade wieder in meiner Hand hatte, und es wäre um die vielen, exotischen Tiere zu schade, wenn ich das jetzt einfach so fallen lassen würde.
»Du wirst aber keine Tiere sehen.«, atmete er schwer, keuchte es beinahe und bekam die Augen nicht von meinem Gesicht abgewendet. »Sie haben alle Angst vor mir, dieselbe Reaktion wie du sie hattest.«, seine Brust bebte, seine Schultern bewegten sich mit seinen Atemzügen und seiner Brust in großen, irregulären Schwingungen. »Und sie erkennen mich. Tiere sind nicht so ahnungslos und wenig von Begriff für das Reale wie Menschen.«
»Bitte. Wenn ich schon Mutter Natur bin, dann muss sich das doch wenigstens ausgleichen.«, meine Stimme war getränkt in Heiserkeit, erstickt von dem Feuer zwischen mir und Liam.
Er atmete kurz und tief durch, als würde eine schwere Last auf seinen Schultern liegen und er war kurz davor, sie endlich abzulegen. Ich wusste nicht, ob sich diese Last auf seinen Sturkopf bezüglich des Parks bezog oder darauf, dass unsere Lippen nach einander schrien.
»Ein weiser Mann«, begann er, atemlos gegen meine Lippen zu hauchen. Elektrische Spannungen gingen von jeder Stelle aus, die er an meinem Körper mit seinen heißen Händen berührte. »sagte einmal, wir seien eine Art Yin und Yang. Der Unterschied ist, dass nicht du die Nacht und impulsiv bist, sondern ich. Ich verkörpere für alle Außenstehenden die Dunkelheit, Malia. Eine pulsierende, unberechenbare Gefahr, die skrupellos alles umbringen könnte, das sich ihr in den Weg stellt. Jeder, der weiß, was ich bin; sogar teilweise meinesgleichen haben«, er stockte, als würde das nächste Wort nur schwer über seine Lippen kommen und er würde es aus seiner Kehle heraus zwängen, »Angst vor mir. Du hingegen bist für sie wie Yin als Tag. Überlegt, eher passiv, strahlend und rein wie die Sonne am klaren Horizont. Wenn nicht die größte Gefahr oder Folter besteht, bleibt deine wahre Energie nach Innen gerichtet und du wirkst niemals, auf keine Person des Planeten, nicht einmal auf naive Menschen, bedrohlich. Deshalb bin ich da, deshalb wurde ich geschaffen - ich muss beschützen, dich von allen Risiken fernhalten, jedes Damoklesschwert, das einen Zentimeter zu viel in deine Nähe wagt,«, wieder schluckte er schwer, schien zu keuchen, kaum mehr Luft zu kriegen; seine Stimme erstickte, »vernichten. Ich muss dich behüten, muss dich bewachen, wie der Drache die wunderschöne Prinzessin.«
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