Urlaub (1)
Es war hirnrissig, leichtsinnig, unüberdacht. Ich wusste, hätten wir nicht kurz nach vier Uhr morgens an einem Sonntag gehabt, wäre ich nicht komplett verwirrt, wer ich war und warum ich mich auf komische Art und Weise zur wertvollsten Blume der Welt hingezogen fühlte, wäre ich mir in dem Moment nicht zu einhundert Prozent sicher gewesen, dass es Liams smaragdgrüne Augen gewesen waren, die mich angefunkelt haben, als ein schwarzer, überdimensional großer Wolf vor mir stand und mich auf seinen Rücken nahm; ich wusste, ich hätte es nicht gemacht. Ganz davon zu schweigen, wie viel mir Weihnachten und Silvester bedeuteten. Stumm holte mich die Erinnerung an die riesige Torte ein, die das Kinderheim jedes Jahr zu Weihnachten von der Stadt gespendet bekam. Ein Geschenk, das zeigen sollte, das wir nicht vergessen wurden, auch, wenn die Stadt vor uns einige andere Dinge versorgen musste.
Aber das war jetzt hinter mir. So war es nicht mehr. Weihnachten ist ein Familienfest, und da ich keine hatte - bei den Blakes fühlte ich mich mehr wie die beste Freundin Summers, deren Eltern auf Geschäftsreise waren und sie nicht alleine lassen konnten - konnte mir auch das egal sein. Immerhin war ich mein eigener Mensch, fast achtzehn Jahre alt. Klar bräuchte ich die Einverständniserklärung der Blakes, aber die kriegte ich leichter, wenn das Geld schon ausgegeben war.
Auf meinem kleinen Handy, das neben meinem Schoß zu meiner Linken lag, leuchtete das Display auf und zeigte mir eine neu eingegangene E-Mail an. Ich nahm es hoch und starrte auf das kleine Gerät, auf dem sich nun ein Ticket nach Sri Lanka und im Januar eins zurück befand. Ich würde meine Weihnachtsferien dort verbringen, auf der Suche nach mir selbst. Ich hatte mir ein Hotelzimmer in der Mitte des Landes ausgesucht, im Oak Ray City Hotel in Kandy. Wenn ich schon das erste Mal Urlaub in meinem Leben machte, alleine Weihnachten und Silvester verbrachte, konnte ich das wenigstens in einem halbwegs vernünftigen drei-Sterne-Hotel machen.
Seufzend legte ich den Laptop zurück auf den Schreibtisch, die Vernunft holte mich ein. Warum tat ich das? Was sollte ich da? Selbst wenn ich auf mysteriöse Art und Weise diese geheimnisvolle Blume zu Gesicht bekäme, was erhoffte ich mir davon? Würde es Summer, ihren kleinen Bruder und ihre Eltern nicht verletzen, dass ich am Fest der Liebe ungefähr achttausendzweihundert Meilen Luftlinie entfernt war? Und wo sollte ich überhaupt anfangen, zu suchen? Ich seufzte. Ich allein unterwegs in einem Land, das mir völlig unbekannt war. Warum hatte sich meine Vernunft nicht schon eher melden können? Meine Neugierde abschrecken können, ich vorwarnen können? Ich seufzte erneut. Vielleicht, ganz vielleicht würde sich vor Ort wieder der Instinkt melden, der mich schon eben davon überzeugt hat, dass die Kadupul-Blume in Sri Lanka irgendetwas mit meiner selbst zu tun hatte.
Als ich mich wieder ins Bett gelegt hatte, war Summer immer noch nicht herein gekommen. Vermutlich hatte sie meinen Alptraum heute das erste Mal tatsächlich nicht mitbekommen.
Ich drehte mich auf die Seite, starrte zum Fenster. Links, rechts und unten drang das Mondlicht, als wäre es in Versuchung, es heimlich zu tun, in das Zimmer ein und beleuchtete den Boden in einem Viereck. Ohne Deckel. Natürlich wusste ich, ich könnte theoretisch alles stornieren. Vielleicht würde ich das auch tun. Aber dann fiel mir wieder das Gespräch ein, dass ich zwischen Summer und Liam damals im Krankenhaus belauscht hatte, als sie auf dem Flur vor der Tür standen. Sie muss es wissen, Liam. Sie hat ein Recht darauf, zu erfahren, wer sie ist, hatte Summer damals gesagt. Nicht, dass ich mir nicht schon lange dachte, dass Summer auch einer von ihnen war. Sie kam mir in den Sinn, als ich alles Revue passieren ließ. Der kleine, helle Wolf mit einem gepunkteten Muster. Er passte zu der blonden Schönheit mit Sommersprossen und braunen Welpenaugen, die sie in der Gestalt eines Menschen hatte. Aber da ich zum einen keine Zeit hatte, weil ich mich erstmal um meine neuen Finanzen kümmern musste, und, weil ich zugegebenermaßen Angst vor dem hatte, was mir das Internet über.. Gestaltenwandler wie sie verraten würde, beschloss ich, mich erstmal auf die Suche nach mir selbst zu begeben. Dem Internet konnte man bei sowas eh nicht trauen; es gab viel zu viele Freaks, die dachten, sie würden sich auskennen, und dann irgendwelche Unwahrheiten verbreiteten. Außerdem hatte ich sogar Angst, ihr eigentliches Wesen beim Namen zu nennen, was größtenteils an meiner Vernunft lag, die kündigen wollte, sobald ich es in Gedanken aussprach.
Aber noch einmal zurück zum Eigentlichen: Summer wollte, dass ich es wusste. Liam, den ich erstmal für den Alpha hielt, weil er einen Befehl ausgesprochen hatte, der untersagte, mir irgendetwas von meiner Identität zu verraten, wollte nicht, dass ich irgendetwas wusste. Ergo müsste Summer ja irgendwie auffällig reagieren, wenn ich ihr von meinem 'Urlaub' in Sri Lanka berichtete und es ihm auf jeden Fall sagen, oder? Vorausgesetzt, ich war auf der richtigen Fährte. Denn zu meinem Glück war Summer echt eine miese Lügnerin; sie hatte mir nie in die Augen sehen können, sprach eine Oktave höher und bekam rosane Wangen, wenn sie mir die Bärengeschichte wieder und wieder für wahr verkaufen wollte.
Schmunzelnd beschloss ich, jetzt wieder zu schlafen. Ich hatte einen Plan, der mir verraten würde, ob ich auf der richtigen Fährte war, und er war idiotensicher. Mit einem Mal, als sich meine Gedanken beruhigt und meine Muskeln endlich wieder entspannt hatten, traf mich die Müdigkeit wie ein Schlag. In dieser Nacht träumte ich von einer Blume, die nur zwei Stunden lang blühte. Als eine eiskalte, weiße Hand sie pflückte, war sie augenblicklich verwelkt.
Als ich wieder aufwachte, schoss mir augenblicklich der Geruch von Pancakes in die Nase. Sie machte es zwar nicht oft, aber Summer machte die besten Pancakes der Welt, weshalb mein Gaumen und mein Magen mich dazu zwangen, aufzustehen, bevor ich überhaupt einen klaren Gedanken fassen konnte. Gähnend stand ich vor dem Fenster und fuhr die Jalousie nach oben. Es war bereits hell, die Sonne strahlte mir ins Gesicht. Nach einer kurzen Gewöhnungsphase an das helle Licht dort draußen, erkannte ich, dass die Dächer und Fenster der Autos gefroren waren. Zum ersten Mal, seit ich hier war, war es richtig kalt.
Während ich die Treppen hinab schleifte, und mittlerweile war es mir hinten wie vorne, dass mich Familie Blake im Nachthemd und mit zerzausten Haaren sah, als wäre ich aus meinem Winterschlaf erwacht, fiel mir ein, womit ich Summer konfrontieren wollte. Augenblicklich waren meine Sinne geschärft, ich hellwach, bereit, Informationen bezüglich ihres darauf folgenden Verhaltens zu sammeln. Aber zunächst musste ich eine gute Miene spielen, mir nichts anmerken lassen, um sie eiskalt zu erwischen. Mir fiel auf, dass es ungewöhnlich still im Haus war. Normalerweise kreischte ab neun Uhr Summers zehnjähriger Bruder die Bude zusammen, weil er beim Autorennen auf dem Computer wieder verloren hatte. Heute war das nicht so, obwohl mir die Uhr an der Wand verriet, dass wir schon zehn Uhr hatten.
»Guten Morgen.«, begrüßte Summer mich mit einem Lächeln, während sie den flüssigen Teig in der Pfanne verbreitete. Als Antwort bekam sie wie jeden Morgen ein Brummen von mir. Langsam schleifte ich mich langsam zum Tisch. Ich durfte mir nichts anmerken lassen.
»Kriegen wir Besuch?«, fragte ich vorsichtig, als mir aufgefallen war, dass sie bereits angezogen vor dem Herd stand. Ihre blonden Haare waren in einen Zopf gebunden und wehten mit ihren Bewegungen leicht hin und her.
Langsam drehte sie sich zu mir um, während das leise Zischen des Pancakes als Hintergrundgeräusch einen entspannten Morgen einleitete. »Meine Eltern sind mit Sam für heute in den Wald gefahren. Du weißt ja, er liebt die Kälte. Außerdem hat Liam sich fürs Frühstück angekündigt.«
Doch kein so entspannter Morgen. Absolut nicht. Mit einem Mal hatte ich die Augen aufgerissen und war von dem Stuhl aufgesprungen, auf den ich mich eben mühsam träge hinunter gelassen hatte. »Liam kommt? Wann?«, stieß ich hervor und versuchte, die aufgeregte Schnappatmung zu unterdrücken. Das gelang mir allerdings nur so semi gut. Panik stieg in mir auf - ich sah aus wie ein ausgehungerter Zombie und ein Kunstwerk von Junge kam gleich die Tür rein spaziert. Irgendwann gleich. »Und warum hast du mich nicht geweckt?«, fügte ich noch hinzu, ohne den vorwurfsvollen Unterton zurückhalten zu wollen oder gar zu versuchen.
Summers leises Kichern schallte durch den Raum. Es klang erheiternd und wärmte die ohnehin schon angenehme - naja, bis vor einer Minute - Atmosphäre. »Er hat mich darum gebeten. Er wollte sehen, wie du kurz nach dem Aufstehen aussiehst. Eigentlich wollte er dir beim Schlafen zu sehen, aber das sollte ich dir nicht sagen, weil das schon ein bisschen stalkerhaft ist. Aber egal, immerhin muss ich meine eigene Misere bei dir gerade retten.«, erklärte sie in aller Ausführlichkeit und stahl mir somit die wertvolle Zeit, die mir noch blieb, um mich irgendwie herzurichten.
»Wie lange hab ich noch?«, schob ich direkt an ihre Aussage, meine Stimme klang nahezu erstickt von der Hektik. »Zehn Minuten.«, grinste Summer amüsiert und wendete sich wieder ihren Pancakes zu. Ich hastete wie Usain Bolt die Treppen nach oben und stürzte mich ins Bad. In Null Komma Nichts hatte ich die Zähne geputzt, sogar Zahnseide verwendet, und mir die Haare gekämmt. Kaum war ich damit fertig, stürmte ich mein Zimmer und griff nach dem nächstbesten im Kleiderschrank; einen viel zu großen, blauen Sweater und eine schwarze Sportleggings durften heute meinen Körper verdecken. Kaum war dies angezogen, sprühte ich mich noch mit ein wenig Parfüm ein. Dann klingelte es. Das waren acht Minuten, keine zehn, grummelte mein inneres Ich, aber da er da war, hatte ich eh keine Wahl mehr und eilte die Treppen wieder runter.
Summer hatte ihm die Tür schon geöffnet. Ich spürte, dass er herein gekommen war, noch bevor ich ihn gesehen hatte. Denn immer, wenn Liam in der Nähe war, wenn er noch um die Ecke stand oder noch bei seinem Motorrad mit seinen Freunden redete, immer, wenn er sich mir näherte, stieg die selbe Aufregung in mir auf. Es war eine Mischung aus Vorfreude und Sehnsucht, beinahe so, als wäre ich der größte Fan von ihm, der bald sein heiß begehrtes Idol sah. Alles in mir begann zu prickeln, wenn mein Körper seine Präsenz in weniger als zwanzig Metern spürte. Es war schon ein wenig gruselig, das musste ich zugeben - verraten hätte ich diese Aufregung, die immer und immer wieder in mir prickelte und mir ein Grinsen ins Gesicht zauberte, auch nie jemandem, aber dennoch ließ sie mich noch schneller die Treppen hinab sausen.
Vielleicht auch etwas zu schnell.
Auf der allerletzten Stufe dachte sich mein Socke wohl, dass er mir eine kostenlose Rutschpartie spendieren wollte, denn ich verlor das Gleichgewicht und spürte meinen Fuß irgendwo, nur nicht auf festem Untergrund. Ich fiel nach vorne, schon gefasst darauf, gleich auf dem Boden aufzuschlagen, und kniff die Augen zusammen.
Ich kniff die Augen weiter zusammen. Und noch eine Sekunde länger.
Eigentlich müsste ich den Boden schon geküsst haben.
Eigentlich.
Vorsichtig blinzelte ich und entspannte meine Gesichtszüge. Irgendwie hatten meine Füße trotzdem nicht den Weg zum Boden gefunden.
Als ich meinen Blick an mir entlang richtete, sah ich einen Arm unter meinen Kniekehlen. Der Schockzustand löste sich nach und nach auf und ich merkte, dass meine rechte Hälfte an einen glühenden, harten und zugleich sanften, starken Körper gelehnt war. Während ich der muskulösen Brust nach oben folgte, löste sich die Flamme, die seine Präsenz in mir entfachte, auf, und wurde von einem lodernden Feuer abgelöst. Keine Sekunden leckten die Zungen des Feuers von ihnen gegen meine Haut, an jeder Stelle, an der er mich berührte. Nun spürte ich auch den anderen Arm von ihm, der sich um meine Schultern geschlossen hatte. Mein Herz schlug mindestens drei Mal so schnell wie während meines Sprints nach unten.
Ich war mir sicher, ich sah in das Gesicht eines Gottes. Seine Haare waren noch etwas feucht vom Duschen, sahen aber unglaublich weich aus. Just in dieser Sekunde verspürte ich den Drang, hindurch zu fahren. Ich musterte erst seine markanten Gesichtszüge, seine hohen Wangenknochen, seine vollen Lippen, die leicht geöffnet waren. In dieser Sekunde fiel mir auf, wie nahe ich ihm gerade war, was mein Herz aussetzen ließ. Ich sah nicht nur seinen leicht geöffneten, rosanen Mund, sondern spürte seine schweren Atemzüge an meinen eigenen Lippen und meinem Kinn abprallen, spürte seine Brust an meiner Seite beben. Ich folgte dem imaginären Faden, der meinen Blick über seine perfekte Nase zu seinen strahlenden Augen führte. Das Grün, das mich sonst oft an warm leuchtende Blätter im Wal erinnerte, neben der Tatsache, dass es so einzigartig war wie ein Edelstein, wurde von seine groß gewordenen Pupillen an den Rand gedrängt. Ich konnte sehen, wie seine Augen zu meinen Lippen schnellten, seine Pupillen noch ein Stück größer wurden. Allein das sorgte dafür, dass mich eine Gänsehaut von oben bis unten überzog. Alles, die ganze Hektik, Panik, Schnelligkeit war verflogen. Während ich in Liams Armen lag, fühlte sich die Zeit beinahe wie gestoppt an. In dieser Sekunde bewegte sich alles, außer seine Flinken Augen, wie in Slowmotion.
Bis sich jemand im Hintergrund räusperte.
Die Magie, die Harmonie, ja, die Sehnsucht zwischen uns war kurzerhand verpufft. Wie eine Blase, in der nur Liam und ich uns befanden hatten, die geplatzt wurde. Ich sah noch, wie seine Wangen sich in ein zartes Rosa verfärbten, ehe er mich sanft herunter ließ.
Mein Blick - und da ich wusste, Liam war damit beschäftigt, mich so vorsichtig wie möglich herunter zu lassen und schenkte meinem Gesichtsausdruck daher für eine Sekunde keine Aufmerksamkeit -, den ich an den Störenfried hinter uns alias Summer richtete, war geprägt von Vorwurf und Wut. Sie hingegen sah nicht mich an, sondern Liam. Komischerweise schien auch ihr Blick ziemlich vorwurfsvoll, aber ich konnte mir nicht erklären, warum.
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