Schauermärchen (2)
Liam seufzte leise, als hätte er gewusst, dass ich mit ihm anfangen würde. Er sah wieder runter auf seine Hände, die verschränkt in seinem Schoß lagen. Ich wusste nicht, was er gerade tat - wägte er ab, womit er anfangen sollte? Oder wies er mich vielleicht doch wieder zurück? Auffordernd ließ ich meinen Blick auf ihm liegen, brachte ihn zu einem weiteren, nachgiebigen Seufzen, ehe er wieder zu mir sah. »Also schön.«
Überrascht sah ich ihn an. So wie er ausgesehen hatte, hätte ich im Leben nicht gedacht, dass er sich kommentarlos der Ehrlichkeit widmen würde. »Mach's dir bequem, das könnte einen Moment dauern.«, entgegnete er mit einem gequälten Lächeln um die Lippen, lehnte sich zurück und klopfte auf seinen Schoß. Ich verstand sofort, legte mich hin und platzierte meinen Kopf auf dem angenehmsten Kissen der Welt; seinem Oberschenkel.
Liams Hand fuhr in meine Haare. Er begann, mit ihnen zu spielen, sie um seine Finger zu zwirbeln und hindurch zu fahren, während er sprach. Ich wusste, es beruhigte ihn, weshalb ich es zuließ. Mal abgesehen von der Tatsache, dass es auch mich beruhigte und ich es willkommen hieß, egal, wie er mich berührte. »Versprich mir, mich nicht zu unterbrechen, ja?«
Ich nickte einwilligend und resignierend. Ich wollte, dass er endlich anfing, und es nicht endlos hinauszögerte.
»Du hattest.. naja, du hattest von Anfang an recht. Es waren keine Bären, die euch und.. die Williams«, er spuckte ihren Namen aus wie die größte Beleidigung, »erwischt haben. Es-«
»Ach was.«
»Malia.«, mahnte er autoritär und ich erinnerte mich an das eben gegebene Versprechen. Upsi.
»Entschuldigung.«
Zur Antwort spürte ich seinen Körper Bewegungen ausführen, was mir symbolisierte, dass er genickt hatte. »Allerdings wurdest du auch nicht direkt angegriffen. Wir haben nur.. dafür gesorgt, dass dir nichts passiert. Das mit deinem doppelten Bruch damals war nicht Summers Absicht, sie hat nicht gewusst, dass Arthur seinen Griff so fest um dich hatte.«, er seufzte leise, als würde es ihm selbst leid tun. »Sie ist in dem Ganzen nicht so geübt gewesen. Wer hätte schon erwartet, dass du dich nach all den Jahren plötzlich zu erkennen gibst. Und zwei oder drei Wochen Übung machen nun mal auch keinen Champion.«, witzelte er leise, dennoch entging mir die Traurigkeit in seiner Stimme nicht. »Kommt nicht nochmal vor, versprochen.«, hängte er hintendran und strich mir sanft über die Haare. Ich nickte bloß, immerhin sollte ich ja still bleiben. Davon abgesehen, dass das nicht wirklich die besten meiner Erinnerungen waren.
»Weißt du.. vor vielen, vielen Jahrhunderten war die Welt noch eine andere. Damals gab es uns noch nicht. Wir wissen auch immer noch nicht genau, wie sie entstanden sind, immerhin sprechen wir nicht mit.. toten Kreaturen, aber.. sie waren auf einmal da.«, er seufzte leise, als würde etwas in ihm hochgeholt werden, das er lieber vergessen hätte. »Naja, weißt du, hier in Sri Lanka, da gab es vor vielen Jahrhunderten ein Dort namens Yuamarí. Sie lebten in Frieden, unbeschwert. Es war einer der ersten menschlichen Stämme auf Sri Lanka und auch nicht besonders groß, es gab vielleicht zweihundert oder dreihundert Einwohner. Auf jeden Fall hatten sie einen Häuptling, Amacchi, und er hatte auch eine Frau, Suraya. Suraya erwartete zu der Zeit ihr drittes Kind von Amacchi, sie waren sehr glücklich. Sie waren der Stamm, der.. naja, der die Kadupulblume pflegte und als teuerstes Geschenk Gottes annahm, weil sie so selten war und sie verwelkte, sobald man sie pflückte. Sie kannten keine richtige Währung, sie betrieben Handel und du kannst den damaligen Wert dieser Blume mit etwa zwei Kindern vergleichen. Frag mich nicht, warum man Blumen überhaupt gegen Menschen tauschte, aber solche Völker sind ja bekanntlich sehr abergläubisch. Sie schrieben dieser Blume Heilkräfte, Wunderwirkungen, eben alles erdenklich Gute zu. Es gibt einige Erzählungen, die das belegen sollen, aber die wirken sehr absurd. Ich meine, was würdest du davon halten, wenn dir jemand berichtet, dass ein man ein Blütenblatt abgebissen hat und plötzlich nicht mehr blind war?«, wieder spürte ich eine Regungen. Wie ich ihn kannte, schmunzelte er gerade.
»Es wird jetzt ein wenig kompliziert, also pass besser gut auf. Wenn du Fragen hast oder nicht mitkommst, frag sie anschließend, sonst verlier' ich den Faden.«, warnte er vor, ich nickte nur wieder.
»Eines Nachts verschwand ein elfjähriger Junge, damit fing alles an. Aufgelöst suchte die Mutter Amacchi am nächsten Morgen auf, flehte ihn kniend um Hilfe an. Er schickte sechs seiner fünfzig-köpfigen, kleinen Armee, den Jungen zu finden. Mehrere Wochen waren sie spurlos im angrenzenden Wald verschwunden, nur zwei von ihnen kamen total verängstigt wieder. Man hielt sie für geisteskrank, sie redeten nur wirres Zeug von Menschen mit rasierklingenscharfen Zähnen und bleicher als Marmor. Ihre Gefährten hatten sie verloren, wussten nicht, wo sie waren, alles war so schnell von statten gegangen. Amacchi stellte sie Suche nach dem Jungen augenblicklich ein, sendete die beiden traumatisierten Übrigen in Pension und zwang seine restlichen vierundvierzig Soldaten, härter denn je zu trainieren. Er war einer der wenigen, der die Gefahr spüren konnte, die in den Wäldern lauerte.
Wieder vergingen einige Wochen, es war nichts weiter geschehen. Gerade, als die Ruhe allmählich zurückkehren wollte, verschwand nachts eine fünfundzwanzig Jährige, die im siebten Monat schwanger war. Wieder kam es zu Aufruhen und Unbehagen. Besonders Suraya machte sich Sorgen, immerhin war sie ebenfalls hochschwanger, noch weiter als die verschwundene Frau.
Schon dort begannen die ersten Unstimmigkeiten zwischen dem Häuptlingspaar. Sie dachte, alle Probleme wären gelöst, wenn sie umsiedeln würden. Er hingegen war vollkommen davon überzeugt, dass die Lösung des Problems wäre, Wachen nachts zu postieren. Er hörte nicht auf Surayas Einwände, den Wachen könnte etwas zustoßen, und postierte sie. Die ersten Nächte lief auch alles gut. Die Wachen wechselten sich ab und es geschah nichts.
Bei einem Schichtwechsel war es dann soweit. Eine wunderschöne, blonde, süßlich duftende Gestalt suchte den Eingang des Dorfes auf und flehte um Hilfe, weinte bitterlich. Die Männer, vollkommen benommen von einer solchen Schönheit, gewährten ihr den Einlass natürlich. Die Frau wurde in der Dorfmitte als Sima vorstellig. Ich erspar dir die Einzelheiten, aber bis sie wieder in den Wald verschwunden war, war das Dorf um siebzehn Friedhofsplätze gewachsen und fünf der Leichen hatten keinen Tropfen Blut mehr in sich.«, ich hörte an seiner Stimme, wie es ihn anekelte. Und mich auch. Ich wusste genau, dass die Frau, Sima, dass sie ein Vampir gewesen sein musste. Aber das Wort huschte nicht über seine Lippen, die diese Geschichte erzählten wie eine ferne Erinnerung.
»Amacchi und Suraya überlebten, hatten aber weitere vier Soldaten verloren. Jetzt hatten sie nur noch fünf Offiziere und fünfunddreißig Soldaten. Diesen Abend gerieten sie wieder in Streitigkeiten. Suraya war fest davon überzeugt, dass es einen Weg geben musste, einen friedvollen. Sie glaubte, die Kadupulblumen könnten helfen, vielleicht der Verzehr oder eine Art Trank oder so etwas.
Amacchi hielt das für Humbug und beschloss, sich auf die Suche nach, und jetzt lach bitte nicht, einer Hexe zu machen, von der ihm sein Großvater berichtete. Jahrzehnte ward sie nicht gesehen, aber er glaubte an ihre Existenz wie an die der Menschen. Das wiederum hielt Suraya für Unsinn, aber sie konnte ja nicht gegen ihren Mann ankommen. Zwei Soldaten nahm er mit, den Rest ließ er dort, um das Dorf und seine Frau zu beschützen. Seinem Großvater zufolge sollte die Hexe in einer weit entfernten Höhle ihren Platz gefunden haben, sei hinterlistig, aber er hatte keine Wahl mehr gesehen. Fünf Tage ohne Vorkommnisse im Dorf und bei ihnen selbst liefen sie, bis sie besagte Höhle fanden.
Gaça, besagte Hexe, war eine unglaublich alte, große, weise Frau. Man beschreibt sie mit langem, weißen Haar, Haut beinahe durchsichtig, in weißen, zerschlissenen Gewändern, mit zwei hundeähnlichen Kreaturen in ihrer Höhle. Als sie von den Vorkommnissen im Dorf hörte, willigte sie augenblicklich ein. Sie hatte keine List im Sinn, immerhin waren die toten Kreaturen einer ihrer damaligen größten Feinde. Sie befahl Amacchi, mit all seinen Soldaten wiederzukehren und versprach, ihm eine unbesiegbare Armee zu vermachen, im Gegenzug würde er alle dortigen toten Lebenden zur Strecke bringen. Er willigte ein, und auch, als er zehn Tage darauf mit seinem ganzen Heer dort eintraf, hatte das Dorf keine Spur mehr von der Blondine gesehen. Natürlich hatte Suraya währenddessen große Sorgen, aber ihr Mann schien guter Dinge zu sein, dass in der Zeit seiner Abwesenheit kein Angriff stattfinden würde. Er dachte, die Hexe hätte irgendwen gesendet, um das Dorf zu schützen.
Gaça hatte in Zwischenzeit einen Zauberspruch zusammen gebracht. Sie hoffte darauf, dass er funktionierte, weil sie ihn noch nie zuvor benutzt und immerhin selbst zusammen gebastelt hatte. Das verschwieg sie natürlich und versicherte Amacchi und seinen Gefährten, sie würden zu unbezwingbaren Kämpfern mit unglaublicher Stärke werden. Amacchi selbst hielt sich aus dem Zauber raus, das war alles, was Suraya von ihm verlangt hatte.
Naja, dann.. sagen wir mal so. Gaça hat ihr Bestes gegeben, aber Brutus, einer ihrer hundeähnlichen Wesen - du musst wissen, er war viel größer als ein Wolf, sein Gesicht war aber verzerrter und es sah eher so aus, als wäre bei diesen Kreaturen ein Zauber schief gegangen -, musste just in dem Moment Niesen, in dem die Hexe den Zauberspruch gesprochen und die Ziele auf die vierzig Männer verteilt hatte. Dummerweise sprühte Brutus' DNA genau über die fünf Offiziere, als der Zauber sie blitzartig traf. Tja, fünfunddreißig Soldaten wurden zu massiven Männern, die fünf Offiziere blieben, wie sie waren. Gaca konnte aber auch nichts mehr daran ändern, weil so ein Zauber ziemlich an Kraft verlangte und sie darauf erstmal in Ohnmacht fiel.
Etwas peinlich berührt machte sich Amacchi also mit seinen fünfunddreißig bärenähnlichen Soldaten und fünf unveränderten Offizieren wieder zurück. Als sie dort ankamen, wütete das Chaos im Dorf. Häuser brannten, blutleere Leichen waren auf dem Dorfplatz auf einen Haufen gesammelt. Die Soldaten griffen sofort ein, waren schnell wie die toten Wesen selbst durch Gacas Zauber. Einen der mittlerweile Drei erwischten sie und zerrissen ihn in Stücke. Dummerweise wirkte die Berührung wie Gift, der Zauber verflog. Sie sahen voller Schrecken, wie der abgetrennte Kopf helmisch grinste, während eine der Hände einen der Soldaten erwürgte. Sie schmissen die Reste ins Feuer, geruchloser, lilaner Nebel entstand, aber die Kreatur schien besiegt.
Amacchi suchte gleichzeitig Suraya auf, doch sie war nirgends zu finden. Er erinnerte sich an ihre Worte und rannte zum heiligsten Ort, den es gab. Den Ort, an dem die Kadupulblume wuchs und gedeihte. Sie hatten geraden die beiden Stunden in der Nacht erreicht, in dem die Blume blühte.
Als er ankam, lag seine Frau schon vor den Blumen wie in ihrem selbsterwählten Grab. Sie hatte mehrere Brandwunden erlitten und es war klar, dass das Surayas letzte Minuten waren. Amacchi kniete neben ihr, weinte, schrie, entschuldigte sich, und lockte Sima damit auf den heiligen Boden. Lange Rede, kurzer Sinn: Sima hatte sich an Amacchi bedient, der andere Vampir, und so leid es mir tut, es war Arthur, war auch aufgetaucht und Suraya schien abgedankt zu haben. Keiner der anwesenden bemerkte, wie sie mit letzter Kraft die blühte einer der Kadupulblumen aß und dann endgültig zusammen sackte.
Man sagt, sieben übernatürlich große Wölfe kamen aus dem dunklen Wald und fielen über die kalten Wesen her. Sima konnten sie erwischen, brachten sie um, als wäre es ein Kinderspiel. Nur Arthur floh.«, er seufzte erneut, diesmal aber erleichtert. Ihm war die Aufgabe zugefallen, Arthur zur Strecke zur bringen. Ein paar Monate zurück lag sein Tod.
»Nach dieser grauenvollen Nacht änderte sich das Dorf Yuamarí grundlegend. Sie wählten einen neuen Häuptling, bildeten ein neues Heer. Auf dem heiligen Boden fanden sie nichts als einen Säugling. Keine Blutspuren, keine Leichen, keine Fußabdrücke. Nur den Säugling, ein Mädchen.«
Liam nahm die Hand sanft aus meinen Haaren und hob meinen Arm vorsichtig hoch, betrachtete meine Hand, als würde er darauf etwas suchen. »Sie kamen wieder, Arthur hatte drei neue Genossen gefunden. Aber nicht nur das, in Zwischenzeit hatten sich fünfzig neue Wanderer im Dorf angemeldet plus zwei Neue, die seit jener Nacht das Dorf besuchten. Die Wölfe kamen des Auftauchens Nacht wieder, rissen zwei von vieren. Als der letzte Vampir sich einen der Werwölfe schnappen wollte, schallte der Schrei des gefundenen Säuglings durch das gesamte Dorf. Urplötzlich..«, er drehte meine Handinnenfläche zu sich, ».. ging der Vampir in Flammen auf. Kein Wasser konnte das blaue Feuer, das aufgetaucht war, löschen. Man brachte den schreienden Säugling heraus, weil er drinnen keine Ruhe geben wollte. Seine Adern leuchteten wie flüssiges Gold, und auf seiner linken Handinnenfläche erschienen die Umrisse der Kadupulblume. Es erlosch erst, als nur noch Asche vom Vampir übrig war. Der Säugling fiel in Ohnmacht. Arthur verschwand, war seither nicht mehr gesehen.
Wenig später fand man die Leiche Surayas blutleer im tiefen Wald. Das einzige Problem bei der Sache war, dass sie kein Baby mehr in sich trug.«, er ließ meine linke Hand sanft lächelnd los.
Unsicher drehte ich mich auf den Rücken und starrte ihn von unten an. Meine Gedanken klangen so absurd, dass ich sie nicht auszusprechen wagte.
Doch Liam schien zu verstehen. Lächelnd glitt seine Hand über meine Haare, ehe er flüsterte »Als Arthur meinte, du siehst genauso aus, wie sie, meinte er deine Urururururur-und so weiter Großmutter.«
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