Schauermärchen (1)

Als ich wieder aufwachte, schoss mir zu allererst der beißende Geruch von Weihrauch in die Nase. Aufgeweckt, als wäre es eine giftige Chemikalie, schreckte ich hoch und riss die Augen auf. Das Bett neben mir war leer, aber ich hörte Liams Stimme vor der Zimmertür. Er sprach wieder Latein, ich verstand kein Wort. Nichtsdestotrotz ließ seine Tonlage nichts Positives erhoffen.

Es war das erste Mal seit unserem Aufbruch, dass ich wirklich gut ausgeruht die Umgebung betrachten konnte. Unser Zimmer war nicht allzu groß. Weiße Wände und ein dunkler Boden bildeten die Hülle, vor dem Bett ein kleiner Fernseher, rechts zwei ebenso dunkle Türen. Vermutlich führte eine davon zum Bad und hinter der anderen drang Liams Stimme hervor. Zwischen beiden Türen gab es eine kleine Kommode mit einem Spiegel darüber, rechts vom Bett stand der Schrank. Ein Blick nach links zeigte mir, dass Liam die Vorhänge aufgezogen hatte. Die Sonne ging gerade auf, wir hatten also irgendwas zwischen acht und zehn Uhr.

Als plötzlich etwas Lautes gegen die Zimmertür krachte, schrak ich erneut auf. Es hatte sich angehört, als würde jemand einbrechen wollen und zog die Variante vor, die Tür einzutreten. Ohne weiter nachzudenken sprang ich auf und eilte zur Tür, die ich im großen Bogen öffnete. Glücklicherweise hatte Liam sich derweil wieder aufrecht hingestellt, ansonsten wäre ich jetzt platt wie eine Flunder.

Zwei Augenpaare starrten mich geschockt an. Das Erste war smaragdgrün. Es kam mir mittlerweile so familiär vor, als würde ich nicht nur seit ein paar Monaten, sondern seit Jahren in sie hinein blicken und mich darin verlieren dürfen. Liam stand direkt vor mir und wirkte aufgebracht. Sein gesamter, muskulöser Körper war angespannt, als würde er sich größer machen wollen, als er eigentlich war. Seine Haare standen in alle Richtungen ab, er konnte also noch nicht so lange wach sein. Seine Augen bestätigten diese Vermutung mit ihrer Müdigkeit, wirkten aber sehr mahnend und warnend, als würde er mir sagen wollen, ich solle gehörigst im Zimmer bleiben und wie ich so töricht sein konnte, diese Tür zu öffnen. Irritiert erwiderte ich seinen Blick kurz, ehe ich zu der anderen Person ihm gegenüber sah.

Er war groß, mindestens genauso groß wie Liam. Und genauso muskulös. Er hatte schwarzes Haar, das weich und nicht so zerzaust aussah, wie Liams. Seine Züge waren genauso markant, er hatte ebenso hohe Wangenknochen. Sein Teint war dunkler, er musste wohn hier aus der Gegend kommen. Seine dunkelbraunen, großen Augen fixierten mich, mein Gesicht, als würden sie jedes Detail an mir aufsaugen wollen. Die gesamte Anspannung wich aus dem jungen Mann, den ich auf etwa zwei oder drei Jahre älter als Liam schätzen würde. »Incredibilis.«, flüsterte er, seine Stimme ein genauso sanfter Hauch wie der Sommerwind in diesem Wort. Sie war tief und sanft, hatte Ähnlichkeit mit Liams in besonderer Weise, aber hörte sich doch so verschieden an. Der junge Mann bestärkte auf kuriose Art das Gefühl in mir, in Sicherheit zu sein und beschützt zu werden, obwohl ich ihn noch nie zuvor gesehen hatte.

In der nächsten Sekunde schob Liam sich vor mich. Ich sah nur kurz, wie seine Augen zu Schlitzen geformt waren und den jungen Mann vor uns wie eine Gefahr fokussierten. »Ne nimis prope eam.«, knurrte Liam ihm bedrohlich zu.
Diese Stimmlage von ihm war neu für mich. Er hatte zwar mal unsere Clique ermahnt, aber dabei klang er irgendwie selbstsicherer. Ich wusste zwar nicht, was er sagte, aber ich wusste, dass es irgendetwas Beschützendes mir gegenüber und Drohendes dem anderen gegenüber. Der Schwarzhaarige schien allerdings unbeeindruckt und beobachtete mich weiter.

»Du sprichst kein Latein, oder?«, fragte er plötzlich. Er hatte ein nicht mal ansatzweise so gebrochenes Englisch, wie die Dame gestern an der Rezeption. Er hatte jedoch einen mir fremden Akzent. Es klang ein wenig indisch, fand ich.

Unsicher sah ich zu Liam auf, erhaschte einen kurzen, besorgten Blick zu mir, ehe sein Blick noch drohender zu dem jungen Mann fiel. Ein flaues Gefühl breitete sich in meinem Magen aus, weil Liam die Situation anscheinend überhaupt nicht passte. Anstandshalber schüttelte ich aber trotzdem meinen Kopf.

In mir kam die Frage auf, wer zum Henker dieser Typ war, dass er einem Alpha Angst einjagen konnte. Immerhin war Liam nicht nur für menschliche Genossen Angst einflößend, wenn er wollte. Und doch kam mir dieser Mann dort so vertraut vor wie Liam bei unserem ersten Treffen. Ich konnte mir nur nicht erklären, wieso.

»Et nihil scit.«, zischte Liam. Einer seiner Arme schob mich hinter seinen breiten Rücken, vermutlich um mich vor den Blicken des Unbekannten zu schützen. Als er mich berührte, schoss mir augenblicklich die Wärme seiner selbst durch die Adern und ließ Flammen von Innen an meiner Haut lecken, ein angenehmes Kribbeln verursachen. Ich entspannte mich augenblicklich und tat, was er von mir wollte; ich blieb hinter ihm.

Der Fremde grinste nur etwas dümmlich. »Mein Kontinent, meine Regeln. Du weißt genau, dass du dich unterordnen musst.«
Liam erwiderte darauf nur ein Knurren, was mich zusammen fahren ließ. Was hatte das alles hier bitte zu bedeuten?

Ein Blickaustausch zwischen den beiden und Liam trat knurrend zur Seite, gab mich frei. Nichtsdestotrotz bekam ich im nächsten Moment einen Arm um meine Taille gelegt und wurde an seinen Körper heran gezogen. Wollte er mich gerade markieren?

»Ich bin Amrik Laghari.«, stellte sich der Unbekannte mir nun vor und verbeugte sich vor mir. Verwirrt blinzelte ich ein paar Mal; Payne hatte das die eine Nacht auch schon gemacht.. Unsicher hielt ich ihm meine Hand hin und erwiderte ein »Malia Williams«. Er nahm meine Hand und schüttelte sie kurz und geübt. Seine Haut war genauso heiß wie Liams, heißer noch als Summers und die des Restes. Es war unmöglich nicht zu merken, dass er übermenschlich war.

»Ich erwarte euch um Zehn im Milano Cake Center. Ich werde jemanden mitbringen und ich erwarte Pünktlichkeit und eine Erklärung. Tut mir leid, Malia, aber ich kaufe ihm beim besten Willen nicht ab, dass er dich nur wegen einem Urlaub über Weihnachten und Silvester an einen Ort wie diesen bringt. Hab keine Angst, wir werde dir nichts tun. Höchstens deinem Gefährten, wenn er die Regeln missachtet.«, der letzte Satz war geknurrt. Dann schenkte er mir ein sanftes Lächeln, Liam ein Nicken, und verschwand so leise, als hätte er Samtpfoten.

Liams Arm um meine Taille löste sich. Er stapfte angespannt ins Zimmer zurück, ich folgte ihm und schloss die Tür lautstark hinter mir. Wieder stach mir der beißende Weihrauchgeruch in die Nase. Allerdings war mir die Tatsache, dass es hier so stank, genauso egal wie die Tatsache, dass ich gerade nur im Pyjama mit einem Vogelnest von Haaren vor jemandem stand, der sich vor mir verbeugt hatte.

Unruhig lief Liam vor dem Fenster auf und ab, welches er geöffnet hatte, um den Geruch zu vertreiben. Immer wieder kam ein Seufzen von ihm und er sah ungeduldig auf die Uhr, wie uns halb neun anzeigte. »Wer war das?«, flüsterte ich und ließ mich vorsichtig aufs Bett sinken. Liam sah nicht so aus, als würde er jetzt reden wollen.

»Hat er doch gesagt. Amrik Laghari.«, er spuckte seinen Namen aus wie ein Schimpfwort. Was war hier los? Er hatte doch, abgesehen des dümmlichen Grinsens, ganz nett gewirkt.

Ich entschied, an dieser Stelle erstmal nicht weiter zu bohren. Immerhin wirkte Liam sehr aufgebracht und gestresst, was mir das Herz brach. Den Zustand musste man echt nicht noch verstärken. Also entschied ich mich für ein anderes, unabhängiges Thema. Zumindest glaubte ich, dass es unabhängig vom Ersten war. »War das mit dem Geruch nach Weihrauch Absicht oder kam der von draußen?«
Natürlich wusste ich, dass es Absicht gewesen sein musste. Als ich aufwachte, war das Fenster ja geschlossen gewesen.

»War Absicht.«, antwortete Liam knapp und monoton, immerhin endlich ehrlich und lief immer noch vorm Fenster auf und ab. Wenn das so weiter ging, hatte er einen Pfad in den Boden gelaufen.

»Und.. verrätst du mir auch, wieso?«, fragte ich jetzt noch vorsichtiger und zögerlicher. Liam war wirklich nicht gut drauf und ich konnte nicht einschätzen, wann er explodieren würde.

Er seufzte und fuhr sich mit den Händen verzweifelt durch das Gesicht und Haar, blieb stehen. Besorgt sah er mir in die Augen, plötzlich lag eine Mischung aus Traurigkeit und Angst darin. Er zögerte einen Moment, sprach dann aber doch weiter. »Damit er dich nicht riecht.«, flüsterte er und ließ sich langsam vor mir auf dem Bett nieder.

Verwirrt versuchte ich, aus seinen Worten schlau zu werden. Damit er mich nicht riecht? Wie rieche ich denn? Arthur hatte es damals zu mir gesagt, Misses Hanson hatte mir dazu auch ein Kompliment gemacht. »Hat funktioniert, bis du die Tür aufgemacht hast.«, ergänzte Liam und hatte sich an die Bettkante positioniert. Jetzt schweigend senkte er den Blick auf seine Hände, die er verschränkt auf seinem Schoß platziert hatte. Nervös trommelte er mit seinen Fingern auf dem jeweils anderen Handrücken.

Ich fühlte mich schuldig. Hätte ich mich im Griff gehabt, hätte ich die Tür niemals geöffnet und das alles wäre nie so gekommen, Liam wäre jetzt nicht so traurig, wütend und ängstlich. Automatisch hob ich vorsichtig meine Hand und strich über sein zerzaustes, dunkelbraunes Haar. Es war genauso weich wie immer. »Es tut mir leid.«, flüsterte ich, rutschte näher zu ihm und umarmte seinen großen Körper seitlich. In mir stieg sofort die Hitze aus, die er verbreitete, aber das machte mir nichts. Mittlerweile hatte ich mich daran gewöhnt, dass mein Schwarm wortwörtlich heiß war. Noch vorsichtiger lehnte ich meinen Kopf auf seiner Schulter ab und starrte aus dem Fenster. Unter meinem Arm spürte ich sein Herz pulsieren, als würde er gerade einen Marathon laufen. Mir ging es nicht anders.

»Es muss dir nicht leid tun, Liebes.«, flüsterte er und legte sanft und dankend seine eine Hand auf meinen Arm, ehe er seinen Kopf langsam an meinen lehnte. »Du konntest es ja nicht wissen.«, damit drückte er mir einen langen Kuss auf den Scheitel, ehe er seinen Kopf wieder gegen meinen lehnte.

Eine schier endlos scheinende Stille legte sich zwischen uns. Jeder schwelgte in seinen eigenen Gedanken.

Ich wusste, dass ich ihn fragen musste. Es wurde Zeit, er konnte es nicht auf ewig vor mir geheim halten. Aber wollte ich das überhaupt noch? Wenn doch so viele Leute Angst davor hatten, ich könnte nicht mehr die selbe sein, wenn ich Bescheid wüsste? Würde anders handeln, anders denken? Was, wenn Liams Angst davor, meine Liebe zu verlieren, berechtigt war? Ich weiß, es klang mehr als absurd in meinen Ohren. Aber das lag an dem Zeitpunkt, an meiner Unwissenheit, und das wusste ich.
Und was hatte es mit diesem Amrik auf sich? Was meinte er damit, dass es sein Kontinent war und Liam sich fügen musste? Lief er Gefahr auf irgendetwas? Zwar hatte ich das Gefühl, einen jahrelang verloren geglaubten Freund vor mir stehen zu haben, als Amrik vor mir stand, aber das galt ganz offensichtlich nicht für Liam.

Ich brauchte nicht lange, um mich zu entscheiden. Wenn ich Liam schützen wollte, gab es nur einen Weg, und das war die Macht des Bewusstseins. Ich hatte ihn schon einmal auf mysteriöse Art und Weise beschützen können, damals, nach dem Footballspiel. Ich würde es auch jetzt wieder können. Die Gefahr, ihn nicht mehr zu lieben, war es mir wert, in Kauf zu nehmen dafür, ihn in Sicherheit zu wissen. Zu wissen, wie ich verhindern konnte, dass Liam starb oder verletzt wurde, war mir mehr wert als alles Geld der Welt.

Vorsichtig löste ich mich von Liam und setzte mich neben ihn zu ihm gerichtet in den Schneidersitz. Als er seinen Blick aufrichtete, stockte ich kurz. Seine Augen schienen mit Tränen gefüllt, als wäre er kurz vorm Weinen. Nimm es in Kauf, redete ich mir selbst zu. Nimm es in Kauf, um ihn zu beschützen.

Ich atmete kurz tief durch, Liam versteckte seine Tränen hinter einer neugierigen Maske. Wäre ich mir nicht zu einhundert Prozent sicher, eben noch seine Trauer mit vollem Verstand gesehen zu haben, hätte ich bezweifelt, überhaupt solche Emotionen erblickt zu haben. »Wir hatten einen Deal.«, sprach ich langsam und heiser. Konnte ich ihm das wirklich antun? Gäbe es nicht noch eine andere, bessere Möglichkeit?
Nein, die gäbe es nicht. Ich musste es tun. Sein Blick war unergründlich, war abwehrend gegenüber dem, was er dachte, kommen zu sehen.

»Du bist mein erstes Puzzleteil.«

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[„Incredibilis" = „Unglaublich"]
[„Ne nimis prope eam." = „Komm ihr nicht zu nahe."]
[„Et nihil scit." = „Sie weiß nichts."]

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