Rivalen (1)

Liam und ich liefen gemeinsam durch die Straßen von Kandy. Es war sehr warm und die Luft stand still, als existiere das Wort ‚Luftzug' nicht. Alles, was meine Haare immer wieder durch die Luft wirbeln ließ, waren die strengen Abgase der Autos zu meiner Rechten. Obwohl Liam an der Straße lief, peitschte mir der Auspuff jedes einzelnen den Mitgrund für die beschleunigte Klimaerwärmung um die Ohren.

Kandy war nicht wirklich eine sehenswerte Stadt. Natürlich gab es auch schöne Ecken mit asiatischer Architektur und die Schriftzeichen wirkten beim Anschauen schon sehr weise, aber da wir gerade eine ziemlich heruntergekommene Straße entlang schritten und auf der Suche nach dem Milano Cake Center waren, lohnte es sich bisher nicht wirklich, hier Urlaub zu machen. Der viele Verkehr war ein weiteres Minus, allerdings musste man dazu sagen, dass wir einen Tag vor Heiligabend hatten und da es Montag war, gab es auch hier mit Sicherheit viele Last-Minute-Einkäufe von Männern, die es bisher verpeilt hatten, Teenagern, die sich nicht stressen lassen wollten oder Frauen, die so viel zu tun hatten, dass es untergegangen war.

Bei unserem vorigen Gespräch hatte Liam mir sehr viel Stoff zum Nachdenken gegeben. Er hatte recht behalten; es hatte meine Sicht, meine Perspektive auf das hier und jetzt, auf die Realität um einhundertachtzig Grad gewendet.
Ich sollte die gefährlichste Waffe der Welt sein? Weil meine Ururururur- und so weiter Großmutter eine Blume gegessen hatte? Und Vampire suchten nach mir, um mich für sich zu gewinnen? Und ich fühlte mich automatisch besonders zu Alphas hingezogen? Meine Mutter hatte all das mit Absicht getan? Aber wenn sie mich doch so geliebt hat, wie sie immer sagte - warum hatte sie mich dann nicht behalten? Ich meine, wenn ich das Gen dann vererbt hatte, wäre es für mich doch sicherer gewesen, in der versifften Bude zu bleiben, die täglich von drei verschiedenen Männern besucht worden war, oder? Und wie hatten mich Lauren und Steve damals eigentlich gefunden?
Mir war klar, dass auch sie Vampire gewesen sein mussten. Liams Rudel hätte ansonsten anders gehandelt, sie nicht in Stücke zerfetzt und verbrannt. Auch ohne, dass Liam mir das gesagt hatte, wusste ich, dass es so gewesen sein musste. Ich fühlte mich dumm und naiv, die Adoption einfach so zugelassen zu haben, obwohl ich ja nicht ahnen konnte, wer oder was ich war. Ja, was war ich eigentlich? Mensch? Nein, Menschen konnten so etwas nicht. Menschen waren nicht unsterblich. Und Liams Worten zufolge könnte ich die Welt in eine Sahara oder Arktis verwandeln, wenn ich wollte. Zwar würde ich dann wegen dem Energieverlust sterben, aber ich könnte theoretisch. Und ich hatte Blitze kontrolliert, um Liam vor Qualen zu beschützen. War ich vielleicht sowas wie..?

»Liam?«
»Ja?«, der große junge Mann neben mir sah zu mir herab. In der Morgensonne schimmerten seine grünen Augen wieder wie Edelsteine und ich merkte augenblicklich, dass seine volle Aufmerksamkeit auf mich gerichtet war. Mein Herz machte einen Hüpfer.
»Bin ich sowas wie Mutter Natur?«, immerhin meinte er ja auch, dass die Natur ohne mich sterben würde. Woher sie das wohl herausgefunden haben?
»Du bist nicht nur sowas wie Mutter Natur, du bist Mutter Natur. Aber der Begriff ist veraltet, wir nennen dich die Königin der Nacht. Der ist schöner und kommt deinem Stellenwert zumindest ansatzweise nahe.«, lächelte er warm und sanft zu mir herab. Anscheinend erwartete er, dass das wieder ein großer Brocken zu schlucken war für mich, aber da ich mir so etwas schon gedacht hatte, hatte der ursprüngliche Brocken zumindest etwas gebröckelt. Nichtsdestotrotz legte Liam vorsichtig und sanft einen Arm um mich. Seine Körperwärme machte mir immer noch nichts aus, und mit ihr verbreitete sich ein Gefühl von Wärme und Wohlbefinden in meinem Körper aus.
»Und.. warum sprecht ihr alle Latein, wenn ihr doch aus Sri Lanka kommt und die Amtssprachen hier Sinhala und Tamil sind?«
Liam lachte wieder leise und rau. Ich wusste nicht, was an dieser Frage so witzig sein sollte, aber mein Kopf war viel zu voll mit ungeordneten Informationen und Offenheiten, sodass ich keinen Platz für weitere Hypothesen hatte. Und die Nerven für sowas hatte ich sicher auch nicht. »Die Totlebenden kommen aus dem alten Rom. Als sie dort auftauchten, unterhielten sie sich über Latein, damit die Ureinwohner nichts verstanden. Jeder von uns muss Latein flüssig sprechen können, um deine Sicherheit zu gewährleisten.«

Ich schluckte. Ich konnte nicht fassen, dass ich eine so wichtige Person im Leben so vieler Kreaturen war. Ich war doch nur ein zur Adoption frei gegebenes Mädchen aus einer Kleinstadt im Norden Spaniens.

Liam und ich hatten aus Sicherheitsgründen die ganze Zeit geflüstert. Zwar war weit und breit keine Menschenseele außer unseren auf dem schmalen, steinernen Bürgersteig zu sehen, aber von Liam und den anderen wusste ich, über was für ein feines Gehör sie auch in menschlicher Gestalt verfügten. Wie es wohl sein musste, ein Werwolf zu sein? Eigentlich stellte ich es mir ziemlich cool vor. Man war rasend schnell, elegant, hatte unfassbar gute und geschärfte Sinne, man war stark wie ein Löwe und konnte andere einschüchtern, wann immer man musste. Ich stellte mir das echt angenehm vor. Ich glaubte, ich wäre viel lieber ein Werwolf gewesen als das, was ich war. Dann würde ich nicht von allen betätschelt werden und hätte nicht überall Augen, die auf mich gerichtet waren. Außerdem wäre ich genauso schön wie Summer, Ava, Sienne, Juliet und Luna. Ich käme mir nicht mehr vor wie ein bunter Hund zwischen all den Schönheiten mit den hohen Wangenknochen, eindrucksvollen Augen und makelloser Haut.
Nicht, dass ich so anti-selbstbewusst war. Mir war schon klar, dass meine Haut eigentlich auch ziemlich gut war, dass meine Haare eigentlich immer weich und lang waren, ganz egal, welches Shampoo ich nahm, dass auch ich eher markante Gesichtszüge hatte und gerade Zähne und auch meine tiefbraunen Augen leuchteten, wenn die Sonne darauf fiel, in einem interessanten bernsteinfarbenen Ton. Aber neben diesen wunderschönen Kreaturen fühlte ich mich ein bisschen wie Aschenputtel beim Erbsen zählen, auch, wenn ich das so vermutlich nicht zugeben würde.

Nach ein paar kurzen Anweisungen von Liams Handynavigation kamen wir auch an der gewünschten Bäckerei an. Kaum kam diese in Sicht, nahm Liam sanft den Arm von mir und spannte seinen gesamten Körper an, wodurch er noch ein oder zwei Zentimeter größer wurde. Ich verstand sein Verhalten allmählich. Er hatte ihr nicht das Kommando, obwohl er gewohnt war, es zu besitzen. Außerdem lief er mit jedem Aufeinander-Treffen von mir und einem der anderen Alphas - aus Liams Sicht - Gefahr darauf, dass ich mich genauso zu ihnen hingezogen fühlte, wie zu ihm selbst. Und wenn er mich wirklich so liebte, wie er sagte, musste das echt schwer für ihn sein. Am liebsten hätte ich deshalb auch auf dem Absatz kehrt gemacht; ich wollte nicht, dass Liam in Angst und Bange versetzt wurde, und schon gar nicht, durch mich.

»Also dann.«, murmelte er eher zu sich selbst als zu mir und öffnete mit einer großen Bewegung die Tür des kleinen Cafés.
Es sah sehr gemütlich aus. Es gab einen einzigen größeren Raum, der sich etwas nach hinten in die Länge zog. Rechts von mir befand sich eine bordeauxfarbene Wand mit weißen Bänken und Tischen, die Polster der Bänke waren schon sehr abgenutzt. Anscheinend hatten sie hier entweder viele Besucher, die es schnell benutzt wirken ließen, oder wenige, die zu wenig Geld für eine Renovierung einbrachten. Ohne jemanden zu verurteilten tippte ich eher auf Letzteres, denn der Laden war auch jetzt nicht besonders gefüllt.
Der Boden war genauso dunkel wie der unseres Hotelzimmers. Die Decke und die rechte Wand waren weiß. Vor der rechten Wand zog sich eine lange Theke; vorne lagen allerlei Brötchen und Brote, es folgten belegte Brötchen und weiter hinten erst die Obst-, dann die Sahnekuchen. Einige von den Kunstwerken hinter der Glastheke waren mir fremd, was nicht zu verwundern war, wenn man sich auf einem ganz anderen Kontinent befand. Mir fiel auf, dass mir nur noch Australien, Südamerika, die Antarktis und Afrika fehlten, dann hätte ich alle Kontinente des Planeten besucht. Wäre allerdings vermutlich keine so gute Idee, immerhin würde Liam mich vermutlich eher nicht alleine lassen und Amrik hatte ihn schon extrem schnell ausfindig gemacht.

Apropos Amrik; er hatte es sich augenscheinlich in der hintersten Ecke gemütlich gemacht. Neben ihm saß ein ebenfalls schwarzhaariger Mann. Er hatte einen Dreitagebart und trug ein hellblaues, einfarbiges Hemd. Er wirkte seriös und dennoch etwas unterlegen, obwohl er sich mit Amrik köstlich zu amüsieren schien. Beide lachten. Ihre Teints hatten denselben Farbton und auch ansonsten ähnelten sie sich ein wenig in ihren Gesichtszügen. Ich schätzte, er war für Amrik sowas wie Zack für Liam. Nicht der Alpha, aber sowas wie der Beta. Der beste Freund, Ratgeber und treuester Anhänger des Alphas.
»Das ist Nilay. Sowas wie Zack für mich, nur, dass bei ihnen deutlicher ist, wer die Oberhand hat, weil Amrik so ekelhaft arrogant und herrisch ist.«, flüsterte Liam mir so leise wie möglich ins Ohr, in der Hoffnung, die anderen beiden hätten es nicht gehört. Zumindest klang es so, aber sicher war ich mir nicht, weil Liam ja eigentlich am besten wusste, wie scharf die Sinne der Anführer waren. Augenblicklich sahen beide giftig zu Liam, der ihren Ausdruck zu ignorieren schien. Er hielt auch nur wenige Sekunden an, wenn beide Augenpaare richteten sich auf mich.

Es waren aber keine neugierigen Blicke. Ich kannte den Unterschied, es war schon so oft geschehen. Ich spürte, wie sie versuchten, mich mit ihren Blicken auszuziehen. Und bei sowas sollte ich mich wohlfühlen? Dass ich nicht lachte.
Auch Liam schien die Situation aufzufallen, denn ein mahnendes Knurren dröhnte leise und so tief, dass ich es kaum wahr nahm, aus seiner Kehle. Allerdings schossen die Blicke Amriks und Nilays wieder hoch in mein Gesicht und setzten ein freundliches Lächeln auf. Ja, ihr mich auch.

»Sag mal, haben die sie noch alle?«, flüsterte ich Liam so leise wie möglich zu und hoffte, dass die beiden Genossen es nicht mitbekamen. Nein, eigentlich war es mir egal. Sie konnten ruhig wissen, was ich dachte.

Und anstelle Liams bekam ich prompt eine Antwort mit indischem Akzent. »Entschuldigung, aber du wirkst nun mal auf alle übernatürlichen Kreaturen so anziehend. Ist Teil der Tatsache, dass du nicht sterben sollst - je anziehender die Frau, desto schwerer ist es, sie umzubringen. Manche von uns verstecken das halt nur besser als andere. Und besonders Alphas sind sehr angetan von dir, aber das sollte dir mittlerweile ja schon aufgefallen sein.«, ich könnte schwören, dass seine Stimme nur ein Flüstern war. Seine Lippen bewegten sich kaum, er war mindestens vier Meter von mir entfernt, und keiner außer mir, Nilay und Liam schien es zu bemerken. Unsicher sah ich zu Liam hoch, der wieder leicht errötete und verlegen zur Seite weg sah, während er mir einen Stuhl aus dem Weg zog. »Korrigiere. Manche haben eben die Eier dazu, es offensichtlich zu zeigen, und andere eben nicht.«

Wieder verdrehte ich die Augen. »Weniger notgeil ist mir lieber.«, spottete ich und bekam ein amüsiertes Grinsen von vor mir geschenkt. Liam war einfach zu süß, wenn er sich ein leises Lachen unterdrückte. Nilay und Amrik hingegen schienen überrascht von so einer direkten Antwort, wurden ebenfalls rot, was wirklich schwer unter ihrem dunkleren Teint zu erkennen war, und sahen betreten nach unten. Beide murmelten eine leise Entschuldigung, während Amrik mir ein paar Scheine zu schob, als wir am Tisch ankamen. Ich nahm an, dass es Sri-Lanka-Rupien waren, die Währung hier. Auch damit hatte ich mich vertraut gemacht und mir war klar, dass das Geld gut für eine, aber niemals für zwei Personen reichen würde und schon gar nicht, wenn einer davon ein Vielfraß von Werwolf war. Ich grinste bei dem Gedanken etwas in mich hinein und beschloss, meine neu gewonnene Macht gleich mal auszutesten. Schadete ja gerade keinem, der es nicht verdient hatte.
Entschlossen räusperte ich mich und sah abwartend in Richtung Amrik. Der Blick seiner dunkelbraunen Augen, die mich etwas an die Farbe von Zartbitter erinnerten, sprachen Bände. Er verstand augenblicklich, schob mir aber eher weniger begeistert noch einmal die selbe Anzahl Rupien über den Tisch, womit sich das Ganze verdoppelte. Zufrieden gab ich ein leicht arrogantes »Danke« von mir, grinste überheblich und -trieben zu den beiden Herren am Tisch und ging mit Liam, wobei ich seine Hand nahm, zur Theke zurück.

Dieser bekam das amüsierte Grinsen schon gar nicht mehr von seinem Gesicht runter und verschränkte stolz unsere Finger ineinander.
Ich grinste ebenfalls und flüsterte in dem Bewusstsein, dass mich die anderen beiden am Tisch, der wieder etwas weiter weg war, gut hören konnten »Echt, du hast Angst davor, dass ich auf sowas stehe?«

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