Regina per noctem (1)
Die gesamte Fahrt über schwieg Payne. Kein Mucks kam aus seinem Mund; alles, was den Raum erfüllte, waren unser beider Atemzüge und das Surren des Motors.
Ein Seitenblick verriet mir, dass er extrem angespannt war. Er saß da, als wäre seine Wirbelsäule an einen Stahlpfosten angepasst worden, als würde er irgendeine Gefahr spüren. Ich wollte fragen, setzte immer wieder an, klappte immer wieder vorsichtig meinen Mund auf, doch dann ließ ich es. Wenn ich nicht einmal Liam hatte um den Finger wickeln können, wie sollte ich es dann bei einem seiner Freunde schaffen, denen ich nicht mal halb so nahe stand?
Wir bogen gerade eine Straße ein, die mir genauso unbekannt war wie unser Ziel - immerhin war ich noch nie bei Liam Zuhause gewesen und soweit ich weiß, hatte nicht mal Summer jemals einen Fuß in sein Haus gesetzt -, als Paynes Atmung abrupt stoppte und er laut schluckte, als würde etwas passieren, dass schlimme Folgen haben könnte. Seine geweiteten Augen verrieten mir, dass er selbst einen Hauch Angst verspürte, vermutlich lief ihm gerade ein eiskalter Regenschauer den Rücken hinab. Hastig, viel schneller, als ich es jemals sein könnte, umfasste er den Lautstärkeriegler am Radio und drehte die Musik auf.
Doch es war zu spät.
Ein lauter, schmerzerfüllter Schrei hallte durch den Wald und schien über Stock und Stein, durch noch so dicke Stahlwände zu uns durchzudringen. Ich hielt den Atem an und umfasste den Türgriff so fest, dass meine Knochen weiß unter meiner Haut hervortraten. Es war kein menschlicher Schrei gewesen. Es war der Schmerzensschrei eines Tieres, der mir bis auf Mark und Knochen ging.
Meine Atmung verschnellerte sich augenblicklich. Meine Lunge schien einfach nicht genug Luft zu kriegen, mein Herz pochte so hart gegen meine Brust, als wollte es sie wie eine Fessel durchbrechen. War das eben Liam gewesen? Hatte er sich weh getan? Wurde ihm weh getan? Er meinte, er müsse mich vor etwas beschützen. Aber wovor? Und warum hatte er gewollt, dass ich heute Nacht bei ihm übernachte? Auch, um mich zu schützen? Zu viele Fragen, zu wenig Antworten. Noch nie hatte ich mich mental so aufgewühlt gefühlt, so unwissend, dass es quälender war als Schmerz.
Mit meinen Ängsten begann mein Körper zu randalieren. Ich hörte das Blut in meinen Ohren rauschen, alles übertönend. Alles, was ich spürte, war mein Herzschlag, der durch meinen Körper pulsierte, als würde er eine tickende Bombe sein. Mein Magen zog mich zusammen, fühlte sich leer und gleichzeitig so an, als würde er sich gleich ausgiebig auslassen müssen. Es durfte nicht Liam treffen. Nicht Liam.
Ich schlang meine Arme um meinen Körper, hielt ihn zusammen, bevor er auseinander fiel. Ich atmete schwer, immer schwerer, ringte um meine Luft. Ich spürte etwas an mir rütteln, immer kräftiger. Nur verschwommen spürte ich Paynes Hände an meinen Schultern, seine verzweifelten Rufe wie ein verschwommenes, monotones Bild in meinem Unterbewusstsein, komplett versunken und nicht erreichend.
Wie ein Blitz durchzog mich der nächste Schrei, der aus dem Wald kam. Ich erkannte sofort, dass er einem anderen angehört hatte. Der erste Schrei hatte mich zwar in Panik versetzt, aber der zweite ging klar und deutlich als Liams hervor.
Und dann ging alles ganz schnell.
Ein helles Licht durchzuckte die Wand meiner Lider, nicht von vorne, von rechts oder links oder gar oben; nein, es kam von unten und strahlte, wie ich noch nie etwas strahlen gesehen hatte. Vorsichtig, immer noch völlig in Panik und nach Luft hächelnd hob ich meine Hand von meinem zitternden Körper, hielt sie ein Stück von mir weg. Es war meine linke Hand, aus der das beißend helle, goldene Licht strömte. Doch es kam mir nicht suspekt vor, ganz im Gegenteil. Ich fühlte mich stark, fühlte mich, als könnte ich ihn retten. Auf einmal verlangsamte sich meine Atmung, meines Körpers Schwingungen wurden klangen allmählich ab. Stattdessen ergab sich auf meiner Handinnenfläche das helle, stechende Licht zur Erkenntnis. Die salzigen Spuren, die auf meinen Wangen wie in Sand hinterlassen wurden, wurden immer mehr verdrängt.
Das Licht, das aus meiner Hand kam, schien zu lodern. Wie eine Flamme schoss es heraus in immer neuen Wellen, bis es sich langsam im meine Haut ein brannte. Es schmerzte nicht, ich spürte kein Leid. Nein, ich spürte mich stärker als je zuvor, machtvoller. Ich wusste, ich konnte Bäume ausreißen, wenn ich wollte.
Als ich auf meine Hand sah, erstarrte ich. Das Licht, das mir eben noch beißend und himmlisch zugleich erschienen war, leuchtete jetzt von Innen heraus auf meiner Hand auf. Aber nicht irgendwie, nein. Regina per noctem. Es waren die Umrisse der Königin der Nacht, der Kadupul-Blume.
Payne war zurückgewichen. Er schien nahezu erfürchtig, als ich ihn ansah. Er senkte den Kopf automatisch, als würde er sich verbeugen.
Ein weiter Schrei durchzuckte meine Adern. Es brauchte nicht viel, dass ich erkannte, dass es Liam war. Und ich hatte den Drang, zu helfen. Nein, nicht bloß den Drang. Nein, es war mehr. Es war meine Pflicht, ihm zu helfen, ihn zu retten. Es war mein Instinkt, der mich kurz verschnaufen, dann das Fenster der Beifahrertür öffnen und meine, jetzt von Innen heraus leuchtende Hand dem Himmel empor strecken ließ. Meine Adern verfärbten sich allmählich. Nach und nach drang das Gold aus meiner Handinnenfläche in sie ein, ließ sie genauso golden unter meiner Haut aufleuchten, wie die Wurzeln der Blume in meiner Hand.
Hatte man mich in dem Moment gefragt, wie ich das tat, hätte ich keine Antwort gekannt. Hätte man mich gefragt, warum ich meine Hand zum Himmel herauf streckte, als würde ich versuchen, die Wolkendecke über Sylvan Lake zu erreichen, hätte ich es nicht erklären können. Ich hätte nicht mal sagen können, was oder wer ich war. Alles, was ich wusste, war, dass ich Liam retten musste, weil er in großer Gefahr war. Und alles, was ich tat, war, auf meinen Instinkt zu hören.
Ein lautes Krachen ertönte, dann schien es, als hätte sich der Himmel gegen etwas beschworen, dass sich im Waldinneren befand. Kurz darauf durchzuckten fünf Blitze den Horizont und schossen in den Wald hinein. Mit diesem Moment wich alle Kraft, die ich in mir gespürt hatte, aus meinem Körper heraus. Das Licht, dass eben noch ein Signal an die Wolkendecke zu malen schien wie das Logo von Batman, erlosch und hinterließ nichts als meine normale, menschliche Hand, die mit meinem Körper zusammen sackte. Ich riskierte einen letzten Blick zum Wald, doch ich sah kein Feuer. Die Blitze hatten also keine Bäume getroffen, doch draußen schien es mucksmäuschenstill zu sein. Kein Ton, kein Geräusch schaffte es, mein Gehör zu erfassen. Ich merkte nur noch, wie ich auf dem Beifahrersitz des Autos von Payne nach vorne kippte, ehe alles um mich herum schwarz wurde.
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Ich spürte etwas sehr weiches unter mir, etwas warmes. Es war nicht ganz so weich wie beim letzten Mal, war nicht ganz so komfortabel. Irgendetwas umschloss meinen Körper, sanft und umhüllend, wie eine große Decke, die mich aufheizte. Nach und nach schärfte sich mein Gespür und ich begann, den heißen Atem an meiner Wange war zu nehmen. Mein Kopf lag in einer Art Kuhle, meine Stirn an etwas sehr warmen, glattem, seidigem. Vorsichtig blinzelte ich und versuchte, mich aufzurichten. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich die Orientierung wieder beisammen hatte, aber immerhin hatte ich es geschafft, mich aufzusetzen. Ich hörte ein leises Brummen unter mir, spürte ihn seinen Körper strecken. Ich saß, mit einem beim links und einem rechts von seinem Schoß, und sah zu ihm herunter. Müde blinzelten mich seine grünen Augen an, die sogar jetzt zu strahlen schienen, obwohl ich kaum etwas sah.
Noch etwas anderes ließ mich stocken. Zwar sah ich nur kaum etwas, allerdings genug, um die Farbunterschiede in Liams Gesicht wahrnehmen zu können. Sein eines Auge war blau, als hätte man ihm die Faust drauf gerammt und gehofft, sein Kopf würde wie Glas zersplittern. Seine Lippe war aufgeplatzt, an seinen Wangen verliefen tiefe Kratzspuren, an seinem Hals sah ich etwas, das aussah, wie Bisswunden. Ich erstarrte, hob vorsichtig meine Hand. Kopfschmerz setzte ein wie ein Migräneanfall, doch ich ignorierte es entschlossen. Liam war abertausende Male wichtiger. Kurz, bevor ich sein Gesicht berühren konnte, hob er seine Hand im rasenden Tempo. Sanft umschlossen seine Finger mein Handgelenk und legten es neben seinem Kopf ab. »Hey.«, hörte ich brüchig, nahezu verletzlich aus seinem Mund kommen. Es brach mir das Herz, ihn so verwundet zu sehen. Wie ein Messerstich mitten hinein fühlte es sich an, bevor man mir mein ganzes Herz heraus riss.
»Was ist passiert?«, fragte ich leise, mehr gehaucht als gesprochen, aber ich wusste, dass er mich hören konnte. Vorsichtig beugte ich mich zu ihm herunter, stützte mich links und rechts von seinem Kopf ab und sah ihm tief in die Augen. Irgendetwas blitzte in ihnen auf, aber ich konnte nicht ausmachen, was es war.
Liam atmete tief durch, hob nun etwas langsamer seine Hand und strich mir eine Strähne, die nach vorne gefallen war, wieder zurück hinters Ohr. Als seine Fingerkuppen meine Ohrspitzen berührten, begannen diese heiß zu kitzeln; wie jedes Mal, wenn er mich anfasste. »Wir wissen es nicht genau. Payne fuhr dich gerade zu mir, als ich noch etwas zu regeln hatte mit der Mannschaft. Ich wollte dich nicht noch länger der Kälte aussetzen. Und irgendwann bist du einfach umgefallen, also, in seinem Auto.«, während er sprach, sah er mir unentwegt in die Augen. Ich hätte sauer sein müssen, ihn verlassen müssen, wegrennen und nie mehr auftauchen müssen, aber ich konnte nicht. Ich konnte ihm jetzt nicht böse sein. Er lag dort unter mir, so schwach, so verletzt, ich konnte ihm das nicht antun. »Ich glaube, du hast nicht genug gegessen oder getrunken oder sowas.«
»Nein, ich.. ich meinte mit dir.«, erklärte ich und hauchte es ihm gegen die Lippen. Besorgt musterte ich die Bisswunde an seinem Hals, die in einen hellen, grünen Fleck verlief. Er sah aus, als wäre er schon ein paar Tage alt, fast unsichtbar, dabei hätte ich schwören können, dass der blaue Fleck heute Morgen, nicht mal bei dem Spiel heute Abend, noch nicht da gewesen war.
»Mit mir? Was ist denn mit mir?«, fragte er, als wisse er nicht, wovon die Rede war. Als würden ihn seine Verletzungen nicht Schmerz empfinden lassen, als würde er nicht so aussehen, als wäre er von einem Auto überrollt und in eine Krokodilsgrube gefallen.
Leise seufzte ich. Hörte das denn nie auf? »Wann bist du endlich ehrlich zu mir?«, flüsterte ich, ließ von seinem Gesicht ab und bettete meinem Kopf wieder in seiner - nicht verletzten - Halsbeuge. Zum Glück konnte ich mich nicht daran erinnern, auf welcher Seite ich aufgewacht war, denn ein schlechtes Gewissen hätte mir gerade noch gefehlt.
»Ich weiß wirklich nicht, was mit mir sein sollte. Mir geht's gut. Ich kann mich nicht beklagen.«, versprach er, aber es klang mehr gekrächzt als gesprochen und ehrlich.
Leise seufzend gab ich es auf. Mir war, schon wieder, bewusst, dass ich keine Chance hatte, diesen Kampf mit ihm zu gewinnen. Oder mit irgendjemand anderem aus seinem Rudel. Außerdem siegte die Müdigkeit erneut plötzlich in meinem Kopf, mein Verstand klinkte sich langsam aber sicher aus.
Bald Malia, bald. In Sri Lanka. Dort warten alle Antworten auf dich, dort liegt deine wahre Geschichte, dein wahres Ich vergraben.
Liam zog die Decke nochmal langsam zurecht, die ich eben versehentlich nach hinten geschoben habe, als ich mich aufgesetzt hatte. Ein leises, müdes Brummen drang aus seiner Kehle. Es klang so harmonisch, so friedlich, so harmlos, als würde es ihm absolut gut gehen und er wäre einfach nur sehr, sehr müde.
Ich schloss die Augen, genoss die Nähe und Wärme, die er mir spendete, und versuchte, mich nicht auf das Geschehene, sondern auf das Jetzt zu konzentrieren. Morgen hätte ich schließlich genug Zeit, ihm die Breitseite dafür zu geben, es mir immer noch nicht zu sagen, obwohl er unter mir lag, als hätte er unter einer Horde Elefanten den Teppich gespielt.
Gerade, als ich im Übergang zum Traumland war, hörte ich ein vages, leise geflüstertes »Danke.«, aus seinem Mund, das so ehrlich klang, wie er noch nie zuvor zu mir gewesen war. Doch ich war meines Weges zu weit fortgeschritten, um noch etwas zu erwidern, und glitt in einen Traum von gold-leuchtenden Blumen und einem Unwetter.
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