Merry Christmas (1)
Die nächsten Tage verliefen recht angenehm, obwohl viel Aufregung in der Schule herrschte. Das lag vor allem daran, dass Weihnachten vor der Tür stand und alle im Weihnachtsfieber waren, als wäre es ihr erstes Heiliges Fest. Natürlich mochte ich Weihnachten auch, ohne Frage, aber als Bettina mit einer Weihnachtsmütze und einem Weihnachtspulli Plätzchen an alle verteilte, die ihr über den Weg liefen, schien mir das dann doch etwas übertrieben.
Summer und Zack wurden in dieser Woche vermutlich das am besten angesehenste Paar der Stufe. Sie versprühten beide so viel Liebe und Wärme zu einander, grinsten ununterbrochen und liefen nur noch zu zweit herum, dass sogar ich dabei errötete, obwohl ich damit mehr oder weniger nichts zu tun hatte. Da Summer sich bisher auch nicht bei mir dafür bedankt hat, ging ich davon aus, dass Liam nicht erwähnt hatte, dass ich quasi die Drahtzieherin hinter der Erlaubnis war, aber das machte mir nichts. Sie waren so glücklich zusammen, dass ich gar nicht anders konnte, als mich ausschließlich für sie zu freuen.
Die anderen in unserer Mädchen Clique schienen sich auch für die beiden zu freuen. Allesamt strahlten sie jetzt mit Summer an der Spitze, als wäre ihnen eine große Last abgenommen worden. Wir verbrachten nun auch die Pausen alle gemeinsam, und damit meine ich auch die Jungs, das ganze Rudel. Ich wusste, ich hätte keinem von ihnen ein besseres Geschenk machen können, als diese Freiheit, über uneingeschränkte Kontaktmöglichkeiten.
Obwohl wir alle zusammen saßen, wie an diesem Freitag, verbrachte ich die meiste Zeit in Liams Nähe. Von Tag zu Tag fühlte ich mich wohler und sicherer bei ihm, von Tag zu Tag flogen mehr Schmetterlinge durch meinen Bauch, wenn er mir sein Lächeln schenkte und mit mir sprach. Er besuchte mich in dieser Woche jeden Abend für ein paar Stunden, in denen wir uns unterhielten, uns amüsierten, einen Film ansahen und auch mal ein bisschen Zeit dem Küssen widmeten. Es war alles unglaublich perfekt in dieser Woche. Ich fühlte mich nicht mehr wie die Neue aus Europa, sondern wirklich eingegliedert. Mir war bewusst geworden, wie nahe mir diese Leute ans Herz gewachsen waren, wie viel sie mir bedeuteten. Besonders Liam, der sich außerhalb des Gefängnisses der Schule nicht einmal ansatzweise so kalt und arrogant gab, wie drinnen.
Gerade saßen wir in der großen Mittagspause, elf Leute an der Zahl, gemeinsam am großen Tisch in der Mensa. Es war der letzte Tag in diesem Schuljahr, die Mensa war überfüllt und aufgeregtes Gegacker und Gekicher drang aus jedem erdenklichen Winkel in mein Ohr. Ich saß wieder neben Liam, wie immer, der mich mit einem Arm an sich gezogen hatte und mit dem anderen die Pommes von seinem Teller aß. Ich war schon seit ein paar Minuten fertig, immerhin aß ich nicht mal ansatzweise so viel, wie der Rest.
Da gerade keiner von ihnen sprach, ergriff ich das Wort. Dabei löste ich mich von Liams Arm und griff in meine Handtasche. »Okay, Leute. Wie ihr wisst sind Liam und ich ja über Heiligabend und Neujahr unterwegs und, naja. Ich weiß, so die Weihnachtsstimmung hatten wir dieses Jahr alle nicht, aber ich wollte euch trotzdem ein paar Aufmerksamkeiten schenken. Schließlich ist Weihnachten ja auch Weihnachten.«, lächelte ich etwas verlegen. Neun neugierige Gesichte sahen zu mir, das Zehnte links von mir wusste, dass es noch auf sein Geschenk warten durfte. »Hilfst du mir bitte kurz?«, fragte ich leicht lächelnd und schob Liam nach und nach Umschläge und keine Geschenke zu, die ich in einer Extra-Tasche hatte. Ich hatte sie eben mit ihm zusammen aus meinem Auto geholt und er hatte mir angeboten, sie zu tragen, weil sie doch recht schwer war. Er nickte und reichte jeder Person das entsprechende Geschenk.
»Ich hoffe nur, dass du nicht zu viel ausgegeben hast.«, entgegnete Juliet schüchtern lächelnd. Ja, über das Thema Geld hatte ich mir viele Gedanken gemacht. Immerhin war ich die einzige von uns, die es wirklich - nicht einmal selbst verdient - hatte. Aber ich war niemand, der das gerne irgendwem unter die Nase rieb.
»Nein, keine Sorge. Also, klar, ich weiß, die Sachen sind jetzt nicht so billig, aber ich hoffe, dass ihr nicht denkt, es sei übertrieben.«, lächelte ich vorsichtig, während ich eine sehr warme, sanfte Hand beruhigend meinen Oberschenkel auf und ab streichen merkte. Ich schenkte Liam ein dankbares Lächeln, der dies mit einem zuckersüßen Grinsen erwiderte.
Die Jungs hatten von mir alle das selbe bekommen - Liam inklusive, aber ihm hatte ich es schon vorher gegeben, weil ich es nicht anders ausgehalten hatte. Ich konnte einfach nicht abwarten, ihn wieder zum Strahlen zu bringen. Das war wie eine Droge für mich.
Auf jeden Fall hatte ich allen Jungs jeweils eine Karte für das nächste Freundschaftsspiel von den Calgary Stampeders gegen die BC Lions im Januar geschenkt. Ich wusste von Liam, dass allesamt Fans der Footballmannschaft Calgary Stampeders waren, und da das Freundschaftsspiel ziemlich nahe lag und ich ganz zufällig jemandem im Netz fand, der die fünf Tickets in einer Reihe verkaufte, aber nur alle fünf zusammen, habe ich einfach zugegriffen. Wie erhofft strahlten nun mit einem Mal alle Jungs gleichermaßen. Ja, ich weiß, ich hatte gesagt, dass ich ihnen etwas Billigeres schenken würde - aber dazu hatte ich nicht Nein sagen können. Und bei den Geschenken für die Mädchen hatte ich mich wirklich etwas zurückgenommen.
Ava hatte ich eine Flasche ihres Lieblingsweins gekauft. Weil er etwas teurer war als die üblichen im Supermarkt, trank sie ihn nicht so oft. Sienna hatte von mir ein dickes Kochbuch geschenkt bekommen - die Weihnachtsedition. Sie liebte es, zu kochen, allerdings waren ihr letztens erst ein paar Plätzchen verbrannt und ich dachte, das käme nett rüber. Natürlich hatte ich darauf geachtet, dass sich das Ganze preislich ausglich. Luna hatte von mir ein neues, gutes Glätteisen bekommen, weil ihr altes vor zwei Tagen kaputt gegangen war. Juliet hatte ich alle Bände von After von Anna Todd gekauft, weil sie immer auf der Suche nach etwas Gutem zum Lesen war und ich wusste, dass sie diese Reihe noch nicht gelesen hatte. Für Summer, mit der die Freundschaft momentan wieder auf Hochtouren lief und die miese Stimmung hinter uns gelassen war, hatte ich mir etwas einfallen lassen. Ich hatte ihr nichts beim Weihnachtsshopping holen können, weil sie dabei gewesen war. Ihr hatte Liam eine rot-glitzernde Geschenktüte zugeschoben, in der viele - um genau zu sein, zwanzig - Umschläge drin waren. Auf jedem von ihnen hatte ich ‚Öffne mich, wenn..' aufgedruckt und untendrunter eine Situation geschrieben, zum Beispiel wenn sie sauer war oder wenn sie einen schlechten Tag hatte. In der Tüte des schlechten Tages hatte ich dann ein Kussbild, das ich heimlich aufgenommen hatte, von ihr und Zack und ein Bild von einem Hundewelpen, der zu grinsen schien, herein gesteckt.
Insgesamt kamen die Geschenke super an. Nach und nach bekam ich eine kurze Umarmung von jedem und ich spürte, wie mich die Glückseligkeit übermannte. ich liebte es, andere zu beschenken und zu sehen, dass ich genau ins Schwarze getroffen hatte. Jetzt reichte auch jeder mir und Liam sein Geschenk, mahnten aber, dass wir es erst an Heiligabend öffneten, damit wir etwas zum Auspacken hatten. Und so verstaute ich zwanzig kleine Geschenke wieder in der Tüte, in der die anderen zuvor gewesen waren.
Nach den letzten beiden Schulstunden trafen wir uns nochmal auf dem Gelände vor dem Eingang. Es hatte, wie die ganze Woche, wieder geschneit und ich stand auf einer etwa zehn Zentimeter hohen Schneeschicht. So extrem war ich den Winter nicht gewohnt, aber abgesehen davon, dass ich durch meine dicke Jacke hindurch fror, hatte ich mich schon an das Klima hier gewöhnt. Ich fror noch mehr, als ich Liam und die anderen nur in T-Shirts vor mir stehen sah. Sie schienen absolut kein Problem mit der Kälte zu haben und ich fühlte mich, eingemummelt wie ich war, ein bisschen wie das schwarze Schaf in der Runde.
Generell war die Stimmung gekippt. Es stand der Abschied von allen bis auf Summer und Liam bevor und irgendwie wurde mir etwas flau im Magen. Ich wusste, wenn ich wieder kam, würde ich alle hier anwesenden Personen aus einem anderen Licht betrachten, ganz anders wahr nehmen, wenn ich ihre wahre Natur kannte, und das schienen sie auch zu wissen. Jeder von ihnen drückte mich nahe an sich, flüsterte mir beruhigend zu, dass alles gut sein würde, ich ja Liam dabei hatte, mir keine Sorgen machen sollte. War es denn so schlimm, was mich in Sri Lanka erwarten würde? Langsam bekam ich Angst davor und fragte mich, ob ich das alles überhaupt wissen wollte, ob ich nicht lieber einfach in Unwissenheit blieb. Als Sienna mich als Letzte verabschiedet hatte und ich wieder zurück zu Liam trat, sah ich nochmal in die Runde. Vor mir standen wunderschöne, makellose Gestalten. Alle hatten eine unfassbar reine Haut, strahlten eine Wärme aus vom Körper und von Innen, waren liebevoll, genauso, wie sie waren. Das durfte ich ihnen nicht vergessen. Aber allein die Tatsache, wie sie dort standen; in Shirts mitten im Schnee, im Winter Kanadas, ließ mich wissen, dass mein Entschluss der Richtige war. Ich schluckte den Kloß in meinem Hals herunter. »Habt ein frohes Fest und einen guten Rutsch.«, lächelte ich ihnen entgegen. Ich wusste, mein Lächeln wirkte etwas geschwächt, weil ich in Unsicherheit schwebte, aber die anderen nahmen es kommentarlos hin. Summer lief zu ihrem Auto, während Liam die Tasche mit unseren Geschenken neben mir her laufend zu meinem Auto trug.
Auch zwischen uns herrschte eine unangenehme Stille. Ich wusste nicht, was ich gerade hätte sagen oder tun sollen. Die Worte der anderen hatten mir wirklich einen Schrecken eingejagt, Bammel vor Liams und meinem Trip kreiert. Wieder merkte ich, wie sich ein Kloß in meinem Hals bildete, obwohl ich mir sicher war, dass die Reise notwendig war.
»Sie haben Angst davor, dass du nicht mehr dieselbe bist, wenn ich dich wiederbringe.«, zerriss Liam letztlich den Faden der Spannung zwischen uns und verstaute die Tüte in meinem Kofferraum.
Vorsichtig, nahezu ängstlich schritt ich vor ihn und sah zu ihm hoch. »Laufe ich denn Gefahr darauf?«
Ich vernahm, dass er leise seufzte. Dann nahm er sanft beide meiner Hände, umschloss sie mit seinen großen, sanften Fingern und wärmte sie. »Du wirst dich in jedem Fall verändern. Ich habe aber keine Angst davor, dass du nicht mehr die Person bist, die jetzt vor mir steht.«, in seinem letzten Satz schwang etwas mit, das ich noch nicht entziffern konnte. Es war mir fremd, so einen Unterton hatte er noch nie gehabt. Auch, wenn seine Aussage geflüstert war, spürte ich, dass sich mehr dahinter verbarg.
Ich erinnerte mich daran, dass er zu Summer gesagt hatte, er würde auf ein Geständnis meinerseits warten. Ich glaubte, es hatte etwas mit dem Thema Liebe zu tun, wenn er sprach von einer Pflicht, mich zu beschützen, aber nicht einer Pflicht, mich zu lieben. Vorsichtig sah ich ihm in die Augen, suchte nach etwas und wurde hinter den Mauern, die er um seine Emotionen gebildet hatte, fündig. Vermutlich aber auch nur, weil er mich fündig werden ließ. Es beunruhigte mich, dass das bis eben noch Ungewisse an ihm seine pure Angst war. »Und.. was liegt dir stattdessen zur Last?«, flüsterte ich unsicher. Wenn ich ihm helfen konnte, würde ich das um jeden Preis tun. Aber ich wusste nicht, ob ich es konnte, und das war mein Problem.
Liams Brust bebte wieder, seine Atmung war flach, als bereitete er sich auf eine Flucht vor. Anscheinend fiel es ihm mehr als schwer, gerade ehrlich zu sein. Er räusperte sich, atmete tief durch, ehe er sich kurz schüttelte und mir wieder in die Augen sah. »Ich hab Angst davor, dass du mich nicht wirklich liebst.«
Irritiert sah ich zu ihm. Warum um alles in der Welt zweifelte er meine Gefühle für ihn an? Er wusste, dass ich nicht mit jedem einfach so etwas hatte. Er wusste, dass ich bewusst nicht einfach zu haben war.
Ich wollte gerade etwas ansetzen, als Liam mir zuvor kam. »Nein, Malia. Sag nichts. Ich weiß, was du denkst, aber du weißt nicht, was wir beide eigentlich sind. Noch nicht. Und ich würde gerne die letzten Momente dieses Traums ausnutzen. Nur für den Fall, dass du eine andere Perspektive bekommst, als ich sie jetzt habe.«, ich spürte, wie sich eine der Hände löste, als er mit mir sprach, und sich sanft auf meine Wange legte. »Versprich mir bitte einfach, mich nicht abzustoßen, auch, wenn du deine Gefühle für mich anders deutest. Ich weiß, es ist und war alles sehr egoistisch von mir; dafür haben mich die anderen schon lange genug angeschnauzt und zur Schnecke gemacht, aber ich konnte nicht anders. Von dem Moment an, als du damals in der Caféteria in mich rein gelaufen bist, wusste ich, dass du die Eine bist; ganz egal, was die Geschichte unserer Vorfahren sagt und was nicht. Ich konnte.. Ich konnte es mir nicht verbieten, wenigstens einmal in meinem Leben das Gefühl zu haben, geliebt zu werden und lieben zu dürfen. Ich hoffe, du kannst mir das später noch verzeihen.«, damit drückte er mir mit seinen unglaublich weichen Lippen einen langen Kuss auf die Stirn, ehe er mich alleine im Schnee an meinem Auto stehen ließ.
Ich bekam augenblicklich Tränen in die Augen; ich konnte nicht sagen, wieso. Vielleicht, weil das alles so ernst klang. Vielleicht, weil ich es nicht ertragen konnte, dass er Angst hatte. Vielleicht auch, weil ich selbst Angst hatte, vor dem, was auf mich zu kam.
Alles, was ich wusste, war, dass in meinem Kopf gerade nur ein Wort nach Freilassung schrie. »Versprochen.«, flüsterte ich gegen den Wind, und ich wusste, er hatte es gehört.
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