Frage nach der Realität (2)

Liams Ausdruck änderte sich in keiner Sekunde. Als hätte er eine Maske auf, ein Pokerface, das sich nicht aus der Ruhe bringen ließ. »Nein, Malia. Ganz sicher war es ein Bär. Der Förster hat ihn doch erschossen. Bald kannst du's bestimmt in der Zeitung lesen.«, er lächelte mir dabei warm zu, als hätte er Verständnis für meine ‚Wahnvorstellungen'. Pff, dass ich nicht lachte. Ich machte mir zwar einen Kopf um alles, hatte immer mal wieder vage Vermutungen, weit hergeholte Theorien aus meinen Fantasien, aber Halluzinationen hatte ich ganz sicher nicht.
Dennoch blieb mir keine Wahl. Ich wusste, dass Liam nichts sagen würde, schon bevor ich überhaupt auf die Idee gekommen war, ihm von meiner Vermutung zu erzählen. Immerhin hatte ich das Gespräch von ihm, und ich glaubte, dass es Summer gewesen war, in Erinnerung zu haben. Keiner von ihnen hatte vor, mir irgendetwas zu erzählen. Sobald ich hier raus war, würde ich mich selbst auf die Suche machen. Etwas anderes blieb mir nicht.

Liam war gegangen, gleich nach seinen Worten, und hatte die Tür hinter sich zugezogen. Ich musste noch ein paar Tage im Krankenhaus bleiben, bis sie mich ruhigen Gewissens aus dem kalkweißen Gefängnis herausließen. Komischerweise war ich dabei keine einzige Sekunde alleine. Nicht, dass es mich gestört hätte - Unterhaltung an einem sonst für den Patienten, der nichts zu tun hatte als auf den genesenen Zustand zu warten, so langweiligen Ort, war das Beste, das mir passieren konnte. Allerdings nicht ohne, dass mir auffiel, wie aufmerksam jeder von ihnen war. Sienna, Ava, Luna, Juliet und Summer - alle waren derart auf der Lauer als wüssten sie von einem Terroranschlag, der auf mich in einem Krankenhaus in einer Kleinstadt in Alberta verübt werden sollte. Mittlerweile wusste ich, dass wir nicht mehr in Sylvan Lake waren, sondern in Lacombe. Sylvan Lake hatte nämlich, oh Wunder, kein eigenes Krankenhaus.

Neben der ohnehin suspekten Art meiner Besucher, zu denen ab und an aber eher seltener auch Liam zählte, merkte ich, wie jeder von ihnen an die Bärengeschichte zu glauben und überzeugt davon zu sein schien. Beinahe hätte ich angefangen, ihnen die Geschichte abzulaufen. Besonders glaubhaft wirkte sie, als sie mir eine Zeitung mit dem Artikel unter die Nase hielten. Aber abends, als sie geglaubt hatten, ich schlief schon, hörte ich einen Satz aus Lunas Mund, der mich zurück zu meiner eigenen Interpretation des Ganzen warf; Wir haben dich alle davor gewarnt, dich ihr zu nähern. Ich hatte keine Ahnung, was es bedeuten sollte. Ich war mir ja nicht mehr ganz so sicher, wer ich jetzt eigentlich war und warum eine Horde riesiger Wölfe auf mich Acht gab wie auf eine Göttin, aber ich wusste, dass sie mich anlogen, allesamt. Vielleicht hatte einer von ihnen ja einfach nur gute Beziehungen zum städtischen Zeitungsverlag.

Ich wohnte im Übrigen tatsächlich bei der Familie Blake. Sie hatten eines dieser klischeehaften Amerikaner-Häuser, mit einer großen Veranda in mintgrün. Ich war schon oft dort gewesen in den ersten drei Wochen, mittlerweile wohnte ich bereits einen Monat in Kanada. Ich konnte mir allerdings auch schwer vorstellen, nochmal zurückzuziehen. Zugegebenermaßen fühlte sich der Grund, weshalb ich Natalia und meine alte Heimat im Stich lassen musste, auch für mich selbst ein wenig absurd an - aber hier hatte ich einige neue Freunde gefunden, bei denen ich mich trotz ihrer gesamten Heimlichtuerei wohl und geborgen und sicher fühlte. Außerdem fühlte ich mich sehr wohl bei den Blakes selbst; sie waren eine wirklich nette Familie, hatten viel mehr Liebe über, als ich gewohnt war, und Summers Mutter war viel Zuhause. Sie hatte einen Job in der Bäckerei in der Stadt, aber da dort sehr wenig los war - ich wiederhole: eine Kleinstadt in Alberta, die vom Tourismus lebte und wir gingen geradewegs auf den Oktober zu, in dem die mir bekannten Länder keine Ferien haben -, war sie eben oft daheim.
Weshalb auch immer war ich die einzige Erbin der Williams. als auf einmal der Anwalt und ein Polizist vor mir standen und mir weiß machten, dass mir auf einmal eine Villa, fünf Autos und ein Konto mit einem zweistelligen Millionen Betrag gehörten, fiel ich beinahe in Ohnmacht. Ich war es nicht gewohnt, gar nicht gewohnt, auf einmal Geld zu besitzen. Und dann so viel. Aber man sagte, dass die beiden weder Geschwister, noch Tanten, noch Onkel, noch Kinder, geschweige denn Eltern hatten und ich somit die rechtmäßige Alleinerbin war, denn großartig Freunde hatten sie auch nicht und das Testament, in dem Arthur stand, war auch hinfällig, denn der hatte genauso keine Familie wie die Williams. Sehr suspekt, sehr irritierend, sehr verwirrend. Es hatte nicht lange gebraucht, bis ich das Konto um zwei Millionen erweitert hatte, denn ich wollte das riesige Haus nicht und hatte es verkauft. Die Autos der beiden wollte ich erst Liam und seinen Kumpels vermachen, aber sie hatten komischerweise nur die Nase gerümpft und dankend verneint - dabei hätten sie sehr teure Wagen ganz umsonst bekommen. Auch die Eltern meiner Freunde schienen sehr wenig interessiert. Aber mir war das so ziemlich gleich, zumindest im Endeffekt, denn ich verkaufte die Autos - bis auf mein eigenes - für fünfhunderttausend kanadische Dollar. Ich meine, klar mochte das nach Außen beinahe so wirken, als hätte ich sie umgebracht, um an ihren Reichtum zu kommen, und ich war mir sicher, der ein oder andere Bewohner der Kleinstadt war davon überzeugt, aber zum einen verriet die Zeitung etwas anderes und zum anderen war es mir egal. Sollten die Leute doch denken, was sie wollten - meine Freunde und alle mir wichtigen Personen kannten die Wahrheit und unterstützten mich, und das reichte mir vollkommen. Im Übrigen hatte ich die Klamotten und die Staffeleien inklusive den Malutensilien behalten. Sie standen nun alle im Keller der Blakes - ich würde die Klamotten saisonweise nach oben holen, denn alle auf einmal würde die Kapazität meines neuen Schranks überfordern.
Vier Millionen hatte ich meiner Heimatstadt Laredo gespendet, das war ich ihr schuldig gewesen. Eine weitere Millionen ging an das Kinderheim, eine andere an meine ehemalige Schule dort. Ich hatte mich kaum retten können - jedes Kind der kleinen Schule und jedes Kind des Kinderheims hatten einen, wenn nicht sogar zwei Dankesbriefe an mich geschrieben. Unglaublich gerührt hatte ich auf dem Bett gesessen und mir immer wieder neue Tränen verkniffen. Sie waren so unglaublich süß gewesen.
Nachdem ich zwei weitere Millionen an Tierschutzorganisationen, Kinderhilfen, Frauenhäuser, Krankenhäuser, an die Forschung und an Hilfe zur Selbsthilfe gespendet hatte, hatte ich immer noch einen zweistelligen Betrag, wenn ich mein Konto einsah. Ich entschied mich jedoch dafür, sie anzulegen und sichern zu lassen - dabei war ich nicht so dumm und sammelte alles auf einmal, nein, ich fuhr zu verschiedenen Standorten von der Bank, bei der ich war, splittete den Betrag und ließ ihn in kleineren Mengen in drei verschiedene Tresore vor Ort legen, die nur mit Fingerabdruck und einem Schlüssel zu öffnen waren. Ein ganzes Wochenende hatte ich gebraucht, um die verschiedenen Städte anzufahren, wobei ich fast ganz Kanada unsicher machte, aber das war es mir wert, mein Geld an sicheren Orten zu wissen, aufgeteilt, dass, falls etwas gestohlen wird, ich einen Schlüssel verlieren sollte, nicht alles auf einmal weg war. Und wenn ich wirklich dringend viel Geld brauchen würde, dann müsste ich erstmal alle Standorte anfahren und könnte gründlich überdenken, ob gegebene Sache mir das Geld wert war.
Für Leute, die es gewohnt waren, viel Geld zu haben, mag das vielleicht fraglich sein - auch die Blakes zeigten mir einen Vogel - aber ich konnte nie sicher genug sein. Sogar jetzt hatte ich noch ein mulmiges Gefühl, wenn ich an den Betrag dachte, der nun mein war. Vielleicht rührte das mulmige Gefühl auch einfach von der Menge des Geldes her.

Über einen Monat war vergangen, wir hatten Anfang November, und die Schiene an meinem Handgelenk konnte endlich abgenommen werden. Ich fühlte mich mit einem Mal wieder frei, musste meinen Arm dort aber dringend rasieren.

Viele Gedanken hatte ich mir wegen dem Wolf-Bären-Humbug nicht mehr gemacht. Das Geld hatte meine Gedanken tatsächlich so vereinnahmt und überfordert, dass die Story nach hinten rutschte. Nicht zuletzt war es aber, das musste man auch anmerken, die Schuld meiner Clique. Sie überspielten alles perfekt, taten immer mehr so, als wäre es ein Bär gewesen, und ab und zu vergaß ich sogar, dass ich noch vorhatte, meinem selbsterlegten Auftrag Folge zu leisten.

Es war eine Samstagnacht, in der ich wieder nassgeschwitzt aufwachte. Der erste Samstag des Novembers diesen Jahres. Es war mir komischerweise nicht oft passiert, als wäre mein Körper auf eine derartige Konfrontation von Gewalt und Übernatürlichem schon lange vor meinem Wissen vorbereitet gewesen, aber manchmal, ja, nur selten, holten mich die Todesschreie Arthurs und seiner Gefährten ein. Immer wieder hatte ich versucht, dann keine Aufmerksamkeit zu erregen, weiter zu schlafen, zumal Summer die ersten Nächte danach wegen der mentalen Unterstützung nach einem traumatischen Ereignis mit einem Bären immer bei mir gewesen war. Außerdem lag sie nebenan im Zimmer, bisher war ich mir immer sicher gewesen, dass sie meine Alpträume auf irgendeine Art und Weise mitbekommen hatte. Meistens begründete sie es damit, ich hätte geschrien, doch diese Nacht regte sich nichts. Ich lauschte zwei, drei, fünf, zehn Minuten, doch ich hörte das Knarzen ihrer Zimmertür nicht, das ihrem besuch immer zuvorkam. Langsam setzte ich mich gerade, sah mich im Zimmer um. Die Uhr an der Wand verriet mir, dass wir bereits drei Uhr siebenundvierzig hatten, aber das war mir egal. Jetzt war sie da, die Erinnerung an Arthurs Worte; Jahrhunderte lang gewartet, wenn du nicht so riechen würdest, dass ich ihn gelockt hätte, den Alpha. Nicht zuletzt die Worte, die sich wie heißes Eisen in mein Gedächtnis eingebrannt hatten. Regina per noctem.

Ich griff nach dem Laptop, der auf dem kleinen Schreibtisch vor dem Fenster stand, und lehnte mich dann wieder an die Rückenlehne des Bettes. Nachdem ich ihn hochgefahren hatte, war das Erste, was mich interessierte, was diese komischen Worte bedeuteten. Also öffnete ich den Übersetzer und hoffte inständig, dass Summer nichts mitkriegen würde. Ich wüsste, sie würde mich wieder aufhalten, mir wieder einreden, dass ich nicht auf irgendwelche Wahnvorstellungen hören sollte und besser schlafen sollte, dass die Zeitungen sogar darüber berichtet hätten und dass Wölfe ohnehin zu schreckhaft seien, auch nur in die Nähe eines Menschen zu kommen. Auch, als ich erwähnte, dass sie größer waren als Rinder, wurde das nur als absurd abgestempelt und fallen gelassen.
Doch nicht jetzt.
Nicht.
Jetzt.
Mit einem Mal brannte ich darauf, zu erfahren, was los war. Was hier vor sich ging, was mit mir vor sich ging, was sie mir nicht erzählen durften, weil Liam es ihnen verbot. Schnell tippten meine Finger die drei Worte in das Übersetzungsprogramm ein. Ein paar Male wurden mir Rechtschreibfehler angezeigt, was mich aber nicht wunderte, immerhin hatte ich keine Ahnung, um welche Sprache es sich handelte. Es klang mir und meinem Verstand völlig fremd, während mein immer trügerischer werdende Instinkt mir sagte, dass es eine vertraute Sprache war, die mir eigentlich bekannt vorkommen sollte.

Meine schnellen Finger huschten über die Tastatur wie die Finger des Pianisten von Queen über das Klavier bei Bohemian Rhapsody hinweg flogen. Ich brannte auf Antworten, brannte auf die Frage, wer ich war und was das alles hier sollte, ob ich mich wirklich täuschte oder nicht. Doch je mehr Versuche ich für die richtige Rechtschreibung brauchte, desto geringer wurde das Maß meiner Hoffnung, meines Glauben an mich selbst. Vielleicht war es doch alles nur Einbildung, gar nicht echt gewesen..

Tief atmete ich durch. Dieses Mal hatte ich das Gefühl, alles richtig eingetippt zu haben, als ich mir die drei Worte ansah. Irgendwie regte es doch noch einmal die Hoffnung in mir an. ‚Regina per noctem' stand nun in der Spalte des zu übersetzenden Textes. Da ich mir bei meinen spanischen Kenntnissen sehr viel sicherer war, würde es auf spanisch übersetzt werden. Zunächst erkannte der Übersetzer, dass es Latein war. Vielleicht leitete sich das Gefühl des Heimischen, das sich auf seltsame Art und Weise in mir verbreitet hatte, deshalb her; spanisch war eine romanische Sprache und war im Latein verwurzelt. Eine andere Erklärung hatte ich für das Vertraute nicht, das ich verspürt hatte, und um ehrlich zu sein gruselte ich mich ein wenig zu sehr vor meinen eigenen Antworten, um weiter darüber nachzudenken.

Endlich sagte mir das Internet zu und die Antwort erschien mir auf dem Display. La reina de la noche, das war es, das vor mir das weiße Feld mit schwarzen Buchstaben zierte. Die Königin der Nacht.

Ich war nur noch verwirrter. Die Königin der Nacht? Was hatte das denn zu bedeuten? War es irgendein Kosename? Hatte es irgendeine spezielle Bedeutung? Es klang nach Macht, nach sehr viel Macht. Ich versuchte zwar, es nicht zu verbinden, doch der Gedanke kroch aus den hintersten Ecken meines Gehirns, unaufhaltsam und unzähmbar. Was, wenn das alles tatsächlich kein Zufall war? Was, wenn alles wirklich passiert war? Was, wenn.. wenn mein Name nicht bloßer Zufall war? Immerhin bedeutete auch er ‚Königin'.

Vollkommen verwirrt wusste ich mir nicht anders zu helfen, als weiter im Internet zu recherchieren. Ich gab den Begriff in die Suchleiste ein und klickte auf den Such-Button. Anspannung machte sich in mir breit, die Nervosität vereinnahmte mich völlig. Ich wusste nicht, wie lange das Internet sich Zeit ließ, aber es war definitiv zu lang.

Ich sah mich vorsichtig nochmal im Zimmer um, während meine Finger nervös auf den Bereich der Tastatur trommelten, an dem es keine Tasten gab. Keiner da, keiner wach. Ein Wunder, dass sie nicht schon längst auf der Matte stand und mir den Laptop abgenommen hatte.

Als ich wieder auf den Display sah, hatte die Seite geladen. Interessiert sah ich mir die kleinen Ausschnitte der Seiten an, die als Top-Treffer galten. Zunächst wurde mir ein fiktiver Charakter angezeigt, klar, Mozarts Zauberflöte. Da hätte ich auch selbst drauf kommen können, immerhin hatten wir das Stück im Unterricht in Spanien detailreich durch genommen.  Aber das konnte es nicht sein, das war nicht, wonach ich suchte.

Ich scrollte an den Videos und Darstellern vorbei weiter nach unten, bis ich auf etwas stieß, dass meine Aufmerksamkeit erregte. Die Art, wie du riechst, hatte Arthur kurz vor seinem Tod mir gegenüber erwähnt. Ich klickte auf die Seite, die mir ‚die Königin der Nacht' als die teuerste und wertvollste Blume der Welt vorstellte., auch unter dem Namen Kadupul-Blume, oder wissenschaftlich unter Epiphyllum oxypetalum bekannt. Sie kam nur, zumindest die seltenste Variante davon, in Sri Lanka vor. Nur zwei Stunden in der Nacht blühte sie, wenn man sie pflückt, verwelkt sie sofort. Kein Wunder, dass sie als unbezahlbar galt. Aber was hatte das mit mir zu tun? Irgendetwas in mir schien mich mit dieser Blume zu verbinden, die Bilder schienen mich zu rufen. Natürlich würde ich das nie jemandem erzählen, es war ja vollkommen absurd, aber irgendwie spürte ich eine Verbindung zu ihnen, die ich mir nicht erklären konnte.

Königin der Nacht, die Bedeutung meines Namen, dass ich irgendwie besonders zu riechen schien - das konnte doch alles kein Zufall sein, oder? Ich meine, ich war mir zu einhundert Prozent sicher, dass ich keine Asiatin war. Meine Mutter war eine drogenabhängige Prostituierte in Madrid gewesen, über meinen Vater sagte sie immer nur, dass er gut aussah. Aber an mehr konnte sie sich nicht erinnern. Nichtsdestotrotz war ich mir da ziemlich sicher, denn ich hatte keinerlei asiatischen Züge in meinem Aussehen,

Und dennoch ließ mich diese suspekte Verbundenheit zu dieser Blume nicht los..

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