Frage nach der Realität (1)

Das Erste, das ich spürte, als mein Bewusstsein in meinen Körper zurück fand, war ein pochender Schmerz in meinem Kopf. Ich fühlte mich gelähmt, fühlte mich eingesperrt. Es war so schwer, die Augen zu öffnen. Niemals hätte ich gedacht, dass etwas so Alltägliches, so Banales, so viel Kraft beanspruchen würde. Schon bald merkte ich, dass es keinen Sinn hatte, sich weiter anzustrengen. Ich ließ meine Augen geschlossen und versuchte, mich auf meine anderen Sinne zu fokussieren.
Das laute Rauschen in meinem Ohr wurde langsam leiser, bis es nur noch ein entfernter Laut war. Wie an einer Küste, an der der Wellengang besonders laut war, ließ es die verschwommenen Stimmen zunächst in den Hintergrund sinken. Es kostete mich Mühe, erneute Anstrengung, wenn auch weniger als das Öffnen meiner Lider.
Dann drang mein Körper mehr in mein Bewusstsein. Trotz dem tobenden Gefecht, dass sich von Innen nach Außen an meiner Stirn abzuspielen schien und andauernd irgendwer mit Messern versuchte, das Äußere vom Inneren zu vertreiben, spürte ich, dass ich auf etwas Weichem lag. Mein Kopf lag etwas höher als der Rest meines Körpers, ich lag mit dem Bauch zur Decke hin gerichtet. Außerdem merkte ich, dass ich nirgendwo draußen liegen konnte, nicht mehr an dem Ort war, an dem ich meinen Körper zuletzt vorgefunden hatte.

Die Stimmen wurden klarer, nach und nach verstummte das Rauschen. Meine Augen konnte ich immer noch nicht öffnen, aber ich erkannte, dass nicht das Rauschen die Stimmen so leise wirken ließ, sondern dass sie tatsächlich leise waren. Sie mussten aus dem Nachbarzimmer kommen, zumindest musste irgendetwas den Schall daran hindern, zu meinem Ohr zu gelangen.
»Sie muss es wissen, Liam. Sie hat ein Recht darauf, zu erfahren, wer sie ist.«, hörte ich eine weibliche Stimme. Ihr Klang war mir so bekannt, und doch so fremd. Mein Gehirn schaffte es noch nicht, genug Leistung zu erbringen, zu verknüpfen. Verübeln konnte ich es ihm nicht, immerhin trug es gerade einen Kampf mit Schmerzen aus.
»Sie muss gar nichts wissen. Es ist gesünder für sie, wenn sie nichts davon erfährt.«, Liams Stimme erkannte ich sofort. Sie durchzog meinen Körper in angenehmen Zügen, ließ mich mich beruhigen und augenblicklich wohlfühlen. Ich nahm das Gefühl an, das er in mir erzeugte; wie ein Sonnenuntergang über dem Meer, eine ruhige Blumenwiese ohne Luftzug, mein Zuhause. Ändern konnte ich es ja ohnehin nicht, meine Kraft für Gegenwehr zu verschwenden sinn- und zwecklos.
»Und wo soll sie jetzt hin? Hier bleiben geht nicht, es hat sich sicher schon rumgesprochen. Auch in Laredo wird sie nicht mehr sicher sein, dort wird man sie zuerst suchen.«, entgegnete die Frauenstimme. Der Name der dazugehörigen Person lag mir auf der Zunge.
»Sie bleibt vorerst hier. Wir haben sie vor dreien von ihnen beschützt, uralten, erfahrenen Kämpfern. Wir können sie beschützen. Sie ist jetzt eh nirgends auf der Welt sicher. Wir werden in nächster Zeit wohl öfter mal die Schule sausen lassen müssen. Es wird Zeit, sich von meinem Großvater unterrichten zu lassen.«, seufzte Liam. Es lag eine gewisse Enttäuschung, aber eine unübertreffliche Entschlossenheit in seiner Stimme.
Eine andere Stimme kam dazu, eine männliche. Es hörte sich an, als würde die dazu gehörige Person amüsiert glucksen. »Dazu müssen wir ihn erstmal finden.« Es war ein im Raum stehen gelassener Kommentar, der anscheinend mehr als unangebracht war, denn die Stimmen des Mädchens und auch Liams Stimme hatten sich mit einem Mal verfinstert.
»Aber wir können doch nicht-«
»Doch. Ihr sagt nichts und tut weiter so, wie gehabt. Je weniger sie weiß, desto besser. Vielleicht erinnert sie sich ja auch gar nicht und kauft uns die Geschichte ab. Und das ist ein Befehl, habt ihr das verstanden?«

Plötzlich hörte ich ein Gerät piepsen, direkt neben mir. Ich musste mich so auf die Stimmen konzentriert haben, dass es mir entgangen war. Vielleicht hatte ich mich aber auch unterbewusst schon daran gewöhnt, weil es den immer selben, monotonen Rhythmus beibehielt oder das klägliche Rauschen, das mir ganz leise ins Ohr flüsterte, hatte es verschluckt. Auf jeden Fall kam es mir jetzt ins Bewusstsein, weil das Piepsen schneller geworden war.
Einen kurzen Moment hielten die Stimmen inne. Ich hatte augenblicklich das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben, aber mein Körper rührte sich nicht. Ganz egal, wie sehr ich mich anstrengte; der Versuch des Augen-Öffnens schien nach wie vor ohne jegliche Regung abzudanken. Langsam verließ mich die Kraft, die mir das Bewusstsein bescherte. Ich merkte, wie sich eine nur allzu bekannte Müdigkeit ausbreitete und meinen Körper noch lahmer legte, als er ohnehin schon war. Alles fühlte sich taub an, als würde es nicht zu mir gehören. Es war ein sehr befremdliches Gefühl.

Ich musste wieder eingeschlafen gewesen sein, denn als ich aufwachte, fiel es mir viel leichter, die Augen zu öffnen. Zwar weigerte sich der Teil meines Körpers vom Hals abwärts, mir zu gehorchen, aber wenigstens konnte ich zum dunklen Weiß an der Decke hinauf starren. Das war ein kleiner Trost, nachdem ich das letzte Mal, als ich aufgewacht war, nur schwerlich die Stimmen verstanden hatte, die im Nachbarzimmer - vermutlich über mich - geredet hatten. Doch bevor ich darüber nachdenken konnte, was die wenigen Worte, an die ich mich erinnern konnte, zu bedeuten hatten, hörte ich ein erleichtertes Aufatmen neben mir.

»Hey.«, hörte ich seine zögerliche Stimme neben mir. Er klang zurückhaltend, sanft. Anders als zuvor im Nebenraum. Ich spürte plötzlich etwas glühendes, zartes, weiches an meiner Wange. Als ich meinen Kopf mit aller mir zur Verfügung stehenden Kraft zu ihm wand, sah ich, dass seine Hand den Weg zu meinem Gesicht gefunden hatte und mir sanft mit den Daumen Kreise aufmalte. Augenblicklich begann meine Haut, heiß unter seinen Berührungen zu prickeln. Eine Gänsehaut überzog mich von Kopf bis Fuß. Ja klar, auf ihn konnte mein Körper reagieren, aber mal auf die eigenen Befehle zu reagieren, das war schon zu viel verlangt.
»H-Hey.«, brachte ich hervor und erschrak. Meine Stimme klang verletzlich, brüchig. Als würde man das ganze Elend, das ich vermutlich äußerlich abgab, noch einmal wiederspiegeln wollen.

In der nächsten Sekunde erreichte mein Blick Liam. Er trug - wie hätte man es anders erwarten sollen? - ein schwarzes Shirt und eine schwarze Jeans. Seine grünen Augen schienen sogar im Dunkeln zu leuchten, das lag sicher am Einfallswinkel des Mondlichts. Dennoch konnten seine atemberaubenden Augen nicht die dunkelblauen Ringe verstecken, die sich darunter beherbergt fühlen mussten. Keine Sekunde dauerte es, bis sich das Gefühl des Mitleids in mir breit machte. Was hatte ihn so lange wach gehalten?
Im Hintergrund sah ich ein Krankenbett. Die weißen, metallenen Ränder erinnerten mich an ein Gefängnis, auch, wenn es den Menschen nur zugute kommen sollte. Links hinter ihm war eine hellblaue Tür zu sehen, an der selben, kalkweißen Wand, an der auch das zweite Bett stand. Von unten schimmerte ein gelbliches Licht herein und schien in einem Dreieck den Boden, der ebenfalls hellblau war, ein wenig aufleuchten zu lassen. Noch einmal schweifte mein Blick zum Krankenbett neben mir. Es war noch in das komische Plastik eingehüllt, in das so ziemlich alles in Krankenhäusern eingetütet war, um vor Bakterien und Keimen geschützt zu sein. Dann traf mein Blick wieder auf den des müden Adonis' neben mir. Seine Wangen waren leicht gerötet, das konnte ich selbst mit dem fahlen Mondlicht erkennen, als er seine Hand schnell wieder zurückzucken ließ. Das heiße Prickeln auf meiner Wange war verschwunden, hinterlassen wurde ein kalter Schrei nach dem Feuer, das er in mir entfachte.

»Wir sind im Krankenhaus. Summers Vater behandelt dich. Du warst mit deinen Adoptiveltern in Aspen Beach Provincial Park, als dich ein Bär erfasste.«, erklärte er ruhig und ohne mit der Wimper zu zucken. Sein Blick wanderte langsam herab zu meiner Hand; es schien beinahe so, als hätte er Mitleid und wüsste, dass es eine Lüge war.

Dummerweise erschien mir das Geschehene eher als ein verschwommenes Bild, wie der Blur-Filter bei der Bildbearbeitung. Sie waren so unklar, ich konnte mich an nichts Festes erinnern.

Abgesehen von dem Gespräch, das ich in meiner kurzen Bewusstseinsphase vorhin mitbekommen hatte. Und ab da wusste ich, dass er log. Nicht, dass mir diese Bärengeschichte aus seinem Mund nicht ohnehin suspekt war und mir irgendetwas gesagt hätte, dass er log; nein, ich hatte den Beweis, dass er log, vor meinen Augen - oder viel mehr in meinen Ohren. Aber ich sagte dazu erstmal nichts. Ich musste mich selbst daran erinnern, die richtigen Fragen stellen können - ich wusste, Liam würde die Wahrheit ansonsten nicht herausrücken.

»Und Lauren und Steve?«, fragte ich vorsichtig, immer noch mit der elenden Stimme, die mein Leid nicht so gern verbarg wie mein Geist.
Liam spannte sich neben mir an, sah mir wieder in die Augen. Ein unbeschreiblicher Blick lag darin. Wenn ich es versuchen müsste, würde ich es als einen Mix aus Reue, Abscheu und Mitleid benennen. »Der Bär hat sie vor dir erwischt.. Einer von ihnen muss einen Freund angerufen haben oder sowas, einen Förster, der den Bären erschoss, bevor er dir das Leben nehmen konnte. Ich weiß, das klingt absurd, aber..«, er wendete den Blick von meinen Augen ab und sah wieder an meinem Arm hinab. »..so war es.«
Ich schluckte. Lauren und Steve waren also.. tot? Aber wie? Was? Ich merkte, wie die Panik mich übermannte. Wo sollte ich jetzt hin? Was sollte ich tun? Würde es eine Beerdigung geben? Was wird aus dem Haus? Wie sollte ich es ihren Familien sagen? Wie sollte ich es überhaupt selbst verarbeiten? Lauren und Steve waren keineswegs meine Ersatzeltern gewesen, hatten keineswegs einen vergleichbaren Stellenwert bei mir gehabt. Aber nichtsdestotrotz hatte ich langsam angefangen, ihnen zu vertrauen und warm mit ihnen zu werden, obwohl Steve meist etwas grummelig unterwegs gewesen war. Wow, erst fand ich keine Familie, und dann fand ich doch eine, aber die war nach drei Wochen ausgelöscht worden. Ich konnte echt unter keinem guten Stern stehen.. Vielleicht war ich einfach verdammt dazu, den Rest meines Lebens allein zu sein.

»Beruhig dich bitte. Wir werden eine Lösung finden. Doktor Blake hat bereits vorgeschlagen, dich bei sich aufzunehmen. Dann würdest du quasi die Stiefschwester von Summer sein.«, er bemühte sich um ein Lächeln, allerdings schien er besorgt. Als würde ihm etwas auf der Seele lasten. »Sie war den ganzen Tag hier, aber sie musste nachhause gehen, weil die Besucherzeit zu Ende war.«

Moment. Wenn die Zeit der Besuche vorüber war, wie konnte er..? »Hab mich reingeschmuggelt. Guck nicht so, als würde ich das schlimmste Verbrechen der Welt begangen haben. Doktor Blake wird mir einmal die Ohren lang ziehen, das war's dann aber auch schon.«, grinste er. Diesmal sah das Grinsen etwas ehrlicher aus als die Zuckungen, die seine Mundwinkel vorher erlitten hatten. Dennoch konnte ich mich nicht zu einem Lächeln abringen. Zunächst einmal hatte ich keine Kraft dazu, und zum anderen war mir alles andere als nach Lachen zumute.

Liam stand langsam auf, den Blick immer noch zu mir herab gesenkt. Vehement versuchte ich, den Filter über meinen Erinnerungen zu löschen, doch es gelang mir nicht. Kurz darauf klopfte der pochende Kopfschmerz zögerlich aber unaufhaltsam an die Tür meiner Stirn, bereit für ein neues Gefecht.
»Ich gehe mal eben den Arzt holen. Mit etwas Glück ist er selbst noch da.«, erklärte er, als er sich auf den Weg zur Tür machte. Kurz vorher drehte er sich noch einmal zu mir um, sein großer, muskulöser Körper rief seine Sorge um mich wie einen Schrei aus. Seine Schultern waren nicht aufrecht wie sonst, sie hingen mehr herab. Seine generelle Haltung wirkte mehr verschlossen, sein Kopf hin einen Ticken zu viel für einen aufgeweckten jungen Mann. Vielleicht täuschte ich mich aber auch und es war nicht die Sorge um mich, die schrie, sondern seine Müdigkeit. Ganz sicher war es nur die Müdigkeit. Ich meine, klar sorgte er sich - aber so sehr, dass er einen so elenden Eindruck machte? Der Gedanke kam mir absurd vor; mehr Wunschvorstellung als Realität.

Und mit einem Mal spielte sich alles in meinem Kopf hab. Realität. Sie hatte sich verändert. Sie war nicht mehr dieselbe. Menschen mit einer blutrot umlaufenen Iris, Kreaturen größer als Pferde, Schnelligkeit, unmenschliche Kräfte, alles blitzte auf einmal in mir auf. Kurz vor seinem Tod hatte Arthur noch irgendetwas gesagt.. und mein Bauchgefühl sagte mir, dass es mehr als wichtig war, mich daran zu erinnern. Es dauerte eine Weile, ich musste in den hintersten Ecken kramen. Es war so viel passiert, so viel, das so schwer zu verarbeiten war. Schwerer als Laurens und Steves Tod. Ich brauchte tatsächlich ein paar Minuten, bis es mir wieder einfiel. Regina per noctem, was hatte das eigentlich zu bedeuten?

Liam sah nicht so aus, als hätte er vor, noch länger auf eine Antwort meinerseits zu warten. Er führte seinen Gang fort, mit jedem seiner Schritte schienen meine Kopfschmerzen ein neues Level zu erreichen. Nichtsdestotrotz wusste ich, dass es falsch war, es unversucht zu lassen. Ich würde nicht schlafen können, nicht über irgendetwas anderes nachdenken, nichts verarbeiten können, wenn ich ihn nicht jetzt damit konfrontieren würde.

»Liam,«, begann meine Stimme leise, zögerlich. Ich klang nicht mehr so zerbrechlich wie zuvor, das merkte ich. »ich glaube, es war kein Bär.« Langsam drehte er sich zu mir um, seine grünen Augen schienen mich intensiver denn je zu analysieren. In ihnen kam die Frage und Besorgnis darum hervor, dass ich mich erinnern könnte. »I-ich glaube.. ich glaube, es waren Wölfe.«

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