der erste Eindruck (3)
»Der scheint ja nicht sonderlich nett zu sein.«, fasste ich zusammen, als Bettina und ich uns durch die Schlangen und Gruppen der Schüler in der Mensa quetschten. Zwar hatte die Mensa eine recht entspannende Aura, sie war weiß und grün gehalten und recht schön mit ein paar Plastikblumen verziert, die auf den Tischen standen, aber sie war zu klein. Ich weiß nicht, wie viel die Baumeister als Schülerzahl geschätzt hatten, aber die Mensa schien uns zusammenzudrängen. Weiter hinten an den Tischen ging es momentan noch, aber die Schüler vorne sahen nicht so aus als würden sie sich ihr Mittagessen holen, sondern als gäbe es da vorne einen Sommerschlussverkauf von H&M.
Meine Gesprächspartnerin überging diese Aussage von mir gekonnt. Sie strich sich eine Strähne hinters Ohr, nahezu verlegen, und sah an meinen Augen vorbei. Erst jetzt, wo das rot ihrer Wangen verglühte, fiel mir auf, dass sie vermutlich die Farbe einer Tomate angenommen haben musste, als dieser Liam direkt vor uns gestanden hatte. »Er ist ein wirklich guter Spieler auf dem Footballfeld, unglaublich schnell und wendig. Generell legt man sich besser nicht mit ihm an, wenn man nicht gerade lebensmüde ist.« Sie warf mir einen vielsagenden Blick zu. Es war so, als hätten ihre Augen die Funktion ihres Mundes übernommen; und du warst gerade sehr lebensmüde.
Ich hatte definitiv etwas gegen solche Menschen. Warum hatte er es nötig, so unfreundlich zu sein? Zwar verurteilte ich niemanden, den ich nicht kannte, weshalb es mir auch schwer fiel, eine Aussage über Liam zu treffen, aber die Tatsache, wie er gerade aufgetreten war, sprach für sich. Äußerlich mag er vielleicht besser aussehen als Leonardo DiCaprio in seinen besten Jahren, aber innerlich hatte ich eher eine Vorstellung von ihm, die sich in Richtung des Klischees eines typischen Badboys legte. Und das war absolut nicht das, was mir an Jungs zusagte. Aber, wie bereits erwähnt, mochte ich voreilige Schlüsse nicht. Möglicherweise ist er ja nur im Stress gewesen, mit dem linken Fuß aufgestanden oder die Tatsache, dass heute der erste Schultag war, hatte seine Laune tiefer gezogen als die Titanic gesunken war.
Anscheinend war ich nicht sonderlich gut darin, meine spontane Abneigung gegenüber solchen Menschen zu verbergen, denn Bettina versuchte direkt, ihren offensichtlichen Schwarm in Schutz zu nehmen. »Er ist meistens mit seinen Freunden unterwegs, viel draußen. Man weiß nicht genau, wo er wohnt - wenn es hier Partys gibt, dann geht er zwar hin, aber es war noch nie eine bei ihm zuhause. Und er hatte noch nie eine Freundin. Keiner kann sich so genau erklären, warum. Ich meine, sieh ihn dir mal an. Aber vermutlich ist ihm hier einfach keine gut genug.«, erklärte sie. Bis zum Ende ihrer Aussage wurde ihre Stimme leiser und belegt von Trauer. Oder Enttäuschung. Oder Schmerz. Irgendwas Negatives, Verletztes war es auf jeden Fall. »Genug davon«, ergänzte sie in der Hoffnung, dass ich die plötzliche Gefühlswendung nicht wahr genommen hatte. »Ich stell dir jetzt mal meine Freunde vor.«
Wir gelangten an einen Tisch in der hinteren linken Ecke. So voll war es hier glücklicherweise nicht. Das Licht fiel in einem angenehmen Winkel auf die Gruppe; es blendete niemanden, und trotzdem war es hell genug dort, um gute Laune durch gutes Wetter zu verbreiten. Generell wirkte die Stimmung gelockert und erleichtert, nicht so ernst und genervt wie die der restlichen Schüler des Jahrgangs. Bettina setzte sich neben ein rothaariges Mädchen. Ihre Sommersprossen ließen sie frech aussehen, ihre braunen Augen musterten mich mit einem freundlichen Ausdruck. »Ich bin Chleo.«, entgegnete sie, als sich unsere Blicke trafen. Ich sah weiter durch die Runde, neben ihr saß ein blonder Junge. Er war schlacksig und seine hellen Klamotten ließen Abenteuerlust mit seinem Auftreten mitschwingen. Er hatte einen Arm um Chleo gelegt, anscheinend waren sie ein Paar. Ich entschloss, die beiden zu mögen, nachdem er sich mir als Peter vorgestellt hatte. Sie hatten einfach eine Sympathie an sich, die direkt auf mein Urteilsvermögen schwabbte und mich in eine angenehme Atmosphäre hinein zogen. Neben Peter saß ein braunhaariger Junge. Er war etwas kräftiger und trug eine blaue Brille. Sein schwarzes Shirt hatte den Aufdruck Star Wars - The Rise of Skywalker. Auch er vermittelte einen netten, wenn auch eher zurückhaltenden Eindruck. Neben ihm saßen zwei weitere Mädchen, die sich sehr ähnelten und sich mir als Rebecca und Cataleya vorstellten. Beide hatten blonde Haare, nicht so dunkel wie Bettinas, aber nicht so hell wie Peters. Ihre dünne Nase würde vermutlich jedes Model neidisch machen, wenn auch ihre Augen zu klein für ein so großes, rundes Gesicht wirkten. Sie bestätigten meine Vermutung, dass sie Zwillinge waren, als sie meinen musternden Blick erhaschten.
Alles in allem wirkte die Gruppe ganz nett. Nachdem ich meinen Apfel herausgenommen hatte und begann, zu essen, erzählte mir jeder ein wenig von sich. Allesamt waren siebzehn Jahre alt, bis auf Chleo, sie war sechzehn. Peter und Chleo waren schon seit zwei Jahren ein glückliches Paar und hatten einen gemeinsamen Campingtrip in den Herbstferien geplant - genauso, wie ich Peter eingeschätzt hatte, war er auch. Rebecca und Cataleya waren beide im Theaterclub. Während Rebecca, die man durch ihre grünen Ohrringe von Cataleya unterscheiden konnte, eher im Bereich Regie und Bühnenbild tätig war, lebte ihre andere Hälfte für das Leben auf der Bühne. Morgen würden das erste Treffen für das neue Stück ‚Wilhelm Tell' stattfinden, worauf sich beide zu freuen schienen. Luke war, wie ich vermutete, eher zurückhaltend. Es wurde schnell klar, dass er ein Gamer war - keine zehn Minuten nach Pausenbeginn hatte er sein Handy herausgeholt und irgendein Spiel mit Waffen gespielt. Von dem Gespräch hatte er sich abgekapselt. Über Bettina erfuhr ich nur noch, dass sie die Leiterin des Leseclubs war. Sie lud mich auf die morgige Sitzung ein, und ich sagte ihr, dass ich es mir noch überlegen würde, weil ich mir generell erstmal alle AGs ansehen wollte.
Kurz vor Pausenschluss waren sie alle die ersten, die sich auf den Weg zum Unterricht machen. Also hatte ich auch damit richtig gelegen. Keiner von ihnen ließ zu, auch nur eine Minute zu spät zu sein. Ich entschuldigte mich nochmal und begab mich zur Mädchentoilette. Abgesehen von dem komischen Zusammenstoß mit Liam Hanson wirkte alles hier sehr freundlich und einladend - wie es der Ruf von Kanadiern verbreitet hatte. Eine aufgeschlossene, sympathische Gesellschaft.
Ich kramte meine Bürste aus der Tasche, die ich nach wie vor als viel zu teuer empfand. Ich wusste nicht, warum man so etwas brauchte und es nicht einfach eine billigere tun würde. Die Funktion war die selbe, nur hatten billigere Taschen eben keine mit Gold aufgestempelten Markennamen. Mein Blick richtete sich zum Spiegel. Mir fiel auf, dass ich mit meiner leicht gebräunten Hautfarbe wohl doch etwas aus der Menge stechen musste - die meisten hier waren wirklich blass. Ob sich die Bräunung bei mir irgendwann legen würde? Im Laufe der Zeit? Immerhin ist die Sonne hier eine andere als in Spanien. Wir waren hier viel weiter weg vom Äquator.
Im Übrigen hatte es mich sehr überrascht, wie sauber die Toiletten an dieser Schule waren. Es gab keine Kritzeleien an den Innenwänden, keine Kaugummis, in die man versehentlich reinpacken konnte und auch keine Binden oder Tampons, die die Toilette verstopften. Damit war es hier anders als in Laredo; dort hatte ich mich in der kleinen Schule in einer Nebengasse nicht mal auf die Toilette getraut. Es war manchmal ziemlich hart gewesen, solange einzuhalten, aber lieber hielt ich ein als einen Rattenbiss in den Allerwertesten zu riskieren. Allerdings warf ich das meiner Schule nicht vor. Ich wusste, dass sie arm dran war. Ich lebte nicht umsonst in dem Viertel, das sich in die Richtung einer Favela, bei uns Chabolas und in Amerika mit den Slums gleichgesetzt wurde, entwickelte. Natürlich wusste ich auch, dass es uns vergleichsweise gut ging und wir immerhin noch Bildung erfahren durften, funktionierendes Wasser hatten und nicht zu viele Menschen auf engem Raum lebten, auch wenn wir viele Menschen waren. Ich würde uns nicht als Elendsviertel ansehen, aber dennoch erinnerte ich mich an ein paar Menschen, die sich ihr Haus am Ende der Straße ohne staatliche Genehmigung bauten und an einige, die ab und zu bei uns im Kinderheim vorbei schauten, in den besseren Zeiten, und uns die Essensreste abnahmen. Nicht einmal war mir in den Sinn gekommen, meine Bilder zu verkaufen und das Heim und das Viertel zu unterstützen, aber realistisch betrachtet hätten meine Bilder und Malereien vermutlich nicht dafür gereicht, mehr als eine Mahlzeit für drei Personen, wenn überhaupt, zustande zu bringen. Also hatte ich mir versprochen, dass ich, wenn ich irgendwann mal einen gut bezahlten Job ergattern würde, mein Viertel unterstützte.
Und jetzt war ich hier, fernab meiner Heimat. Ja, trotz den Umständen empfand ich es als eine Heimat, ein Ort zum Wohlfühlen. Die Liebe, die einen im Kinderheim umgeben hatte, war unglaublich. Sie hatten mir immer beigebracht, andere mit Respekt zu behandeln, zu tolerieren und akzeptieren, egal, wie der Mensch aussah, woher er kam und wo seine Interessen lagen. Ich war unendlich dankbar dafür, als mir bewusst wurde, wie weltoffen sie waren und wie viel Wert sie darauf gelegt hatten, dass ihre Schützlinge mit gutem moralischen Verstand die Welt eroberten.
Über meine Mutter wusste ich übrigens auch Bescheid, aber das Thema mied ich, so gut ich konnte. Ich hatte sie jahrelang gesucht und eine Enttäuschung erlitten, als ich sie fand. Das, was von allem am wenigsten weh tat, war der Fakt, dass sie den Anstand hatte, mich nach einer Hausgeburt in die Klappe in Madrid zu stecken
Plötzlich sah ich eine Bewegung von den Kabinen aus gen Waschbecken. Drei Blondinen machten sich auf den Weg zu mir und beäugten mich von oben bis unten, als müssten sie einschätzen, ob ich ihrer Aufmerksamkeit wert war. Das müssen wohl die sein, von denen Bettina nicht ganz so einen begeisterten Eindruck hatte. Wie eine Eskorte begleiteten die beiden hinteren Flügelmädchen die vordere. Sie war blond, ihre roten Lippen dick unter ihrer Stupsnase. Ihre blauen Augen wurden von dichten, langen, gefälschten Wimpern nahezu umzingelt und an sonstigem Make-Up fehlte es ihr auch nicht. Die beiden hinteren Mädchen sahen weniger geschminkt und generell aufgestylt aus, auch wenn man erahnen konnte, dass das vordere Mädchen im blauen Minikleid ihre Stil-Ikone war.
Zu meiner Überraschung wendete sich die Blondine doch zu mir. »Du musst die Neue sein, oder? Malia, nicht? Die, die die Williams aus Europa adoptiert haben?«, ihre Sopranstimme sorgte für eine unangenehme Regung in meinem Ohr. Sie war so schrill, dass ich mir lieber eine CD von Heavy Metal auf volle Lautstärke gestellt in dem zu teuren Auto anhören würde, als mit ihr eine fünfzehn minütige Unterhaltung zu führen.
»Aus Spanien, ja.«, antwortete ich und zwang mir ein leichtes Lächeln auf die Lippen. Zwar hatte man mir beigebracht, jede Art von Mensch zu akzeptieren, tolerieren und respektieren, aber sie machte es mir schwer, keine Vorurteile zu knüpfen.
»Ich bin Clarisse. Und das sind Tiffany«, sie deutete links hinter sich ohne den Blick von mir zu nehmen, als hätte ihre Formation eine festgelegte Reihenfolge, »und Britney.«, sie deutete rechts hinter sich. Ihre Flügelmädchen sagten nichts aber nickten, als wären sie aufgerufen worden. »Schicken Wagen hast du da.«, fügte sie noch hinzu, ehe sie sich vor den Spiegel begab und begann, ihren Lippenstift nachzubessern. Britney und Tiffany wichen ihr nicht von der Seite. Wie hatte sie denn das Auto gesehen? Ihr stechendes blond konnte man sicher von einer Entfernung aus fünf Meilen erkennen, es sah so unnatürlich aus wie ihre Stimme klang. Wie konnte sie mir entgangen sein?
»Danke.«, gab ich trocken zurück und packte meine Bürste in die Tasche, die ich anschließend schulterte. Ich hatte nicht vor, länger mit ihr in einem Raum zu bleiben. Sie hatte so eine herrische Aura, als hätte sie vor, Napoleons Nachfolgerin zu werden. Zumindest im Kreis der Schule. Ich fühlte mich seltsam unwohl in ihrer Nähe, die ihre herablassende Ader zwei Kilometer mit Gegenwind vorher verkündete. Mal davon abgesehen begann der Spanisch-Unterricht in weniger als fünf Minuten. Bettina hatte mir erklärt, wo der Raum war, im sprachlichen Trakt, die zweite Etage und dritte Tür links, aber ich wusste ja nicht mal, wo der sprachliche Trakt von hier aus war. Es grenzte schon an ein Wunder, dass ich die Toiletten auf Anhieb gefunden hatte.
Clarisse steckte ihren Lippenstift in ihre für meinen Geschmack viel zu pompöse Louis-Vuitton-Tasche und richtete ihren Blick auf mich. In ihrem Blick lag irgendeine Feindseligkeit, irgendetwas an mir störte sie. Ich konnte mir allerdings nicht erklären, was es war. Keine Sekunde später hatte sie die Negativität mit ihrem meterlangen Wimpern weggeblinzelt und sah mir in die Augen. Erst jetzt fiel mir auf, dass sie etwa so groß war wie ich. Allerdings trug sie weiße High Heels. »Ich hab gesehen, dass du mit den Nerds hängst.«, begann sie, kramte ihr Parfüm raus und sprühte sich gefühlt mit der halben Flasche ein. Woher nahm sie das Geld, in der Woche drei Flaschen Gucci-Parfüm auf den Körper regnen zu lassen? »Wenn du allerdings von denen weg möchtest, was ich nur zu gut nachvollziehen könnte,«, sie packte das Parfüm weg und ging stöckelnd zum Ausgang, »kannst du gerne mit uns herumlaufen. Das sieht nicht nur besser aus, sondern verschafft dir auch mehr Freunde als.. die.«, und damit hatte sie, entgegen der Bedeutung ihrer Worte, die Toiletten mit ihren beiden Dienerinnen verlassen und hinterließ lediglich mich in einer kräftigen Duftwolke.
Der restliche Tag verlief uninteressanter. Ich hatte beschlossen, Clarisse und ihrer Truppe aus dem Weg zu gehen, sobald ich etwas blendendes merkte, das kein Sonnenstrahl war, und hatte Bettina - die mir gewährte, sie Betty zu nennen - und den anderen nichts von der Begegnung zu erzählen. Sie wären alles andere als begeistert gewesen, so viel stand fest. Vielleicht, nein, sehr wahrscheinlich wären sie verletzt gewesen, nachdem ich ihnen davon berichtet hätte. Deshalb ließ ich es am besten einfach sein.
Zu Spanisch war ich noch pünktlich gekommen. Den Kurs hatte ich mit Peter zusammen und er lud mich freundlicherweise ein, neben ihm zu sitzen. Sein Spanisch war sehr brüchig, aber etwas anderes erwartete ich auch nicht. Er hatte mir schon vorher gesagt, dass er nicht der Beste darin war und ich ihn nicht verurteilen sollte. Generell war es ganz witzig, das amerikanische Spanisch zu hören. Während ich heute oft gelobt wurde, ein fast akzentfreies Englisch zu haben, hörte ich mehr als nur deutlich, dass ich es nicht mit spanischen Ureinwohnern zu tun hatte. Nachdem ich dann eine etwas längere Lösung der Aufgabe vorgetragen hatte, hatte die Klasse endgültig den Mut verloren und ließ das mit dem Melden sein.
Als Lauren und Steve an diesem Abend nach Hause kamen, wirkten beide sehr erschöpft. Sie bemühten sich, meinen wenigen Worten über den ersten Schultag zuzuhören und sich für mich zu freuen, dass alles so glimpflich abgelaufen war, aber sonderlich hoch war das Niveau ihrer Konzentration nicht. Ich nahm es ihnen nicht übel, sie hatten beide ziemlich fordernde Berufe. Gegen neun und nach den Nudeln mit Tomatensoße, die ich mir selbst gekocht hatte, ging ich in mein Zimmer. Ich verfasste eine kurze Mail an Natalia, erklärte ihr, wie mein erster Tag war und ließ dabei Clarrise' Erscheinung, sowie das komische und wörtliche Aufeinandertreffen mit Liam aus - sie würde zu viele Fragen stellen und gar Hoffnungen bekommen, ich würde mich für ihn interessieren, und das konnte ich mir beim besten Willen ersparen.
Nachdem ich nochmal kontrolliert hatte, dass mein Wecker auch wirklich eingestellt war, legte ich mich ins Bett und verfiel einer weiteren, traumlosen Nacht.
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