der erste Eindruck (2)
Bettina wand sich mit einem schüchternen Lächeln zu mir. Sie sah zurückhaltender aus als vor ein paar Sekunden, aber ich konnte mir nicht erklären, warum. Vielleicht war die Sekretärin ja nicht zu jedem so unfreundlich und hatte deshalb augenblicklich einen schlechten Eindruck von mir vermittelt. Vielleicht war ich eben aber auch einfach zu unaufmerksam gewesen, um Bettinas Verhalten einstufen zu können und erst jetzt fiel mir das Ausmaß ihrer Zurückhaltung aufzufallen. Ich beschloss, mich einfach offen und freundlich zu geben, wie man es mir von Anfang an beigebracht hatte. Menschen mögen andere mehr, wenn diese offen sind, auf sie zu gehen und Interesse zeigen. Lächeln steht natürlich auch unter den Top 5 der ‚Freundemacher'.
»Hey«, ihre Stimme klang heiser, als würde sie sich nicht trauen, etwas zu sagen; Angst vor dem falschen Ton oder Wort. »Komm, wir haben in der ersten Stunde Geschichte. Das ist nicht so weit weg von hier.«, erklärte sie, nun mit etwas klarerem Tonfall. Sie schob sich ihre Brille unbeholfen den Nasenrücken hoch, auf dem sie zuvor heruntergerutscht war.
»Okay.«, gab ich in der freundlichsten Tonlage zurück, die ich aufbringen konnte, und lächelte ihr mutmachend zu. Hatte sie Angst vor mir?
Während wir die endlos scheinenden gelben Flure passierten, sprang mir direkt die Hektik der anderen, meist jüngeren Schüler ins Auge. Irritiert verfolgte ich einen Jungen, der seinen Rucksack halb offen über einer Schulter hängen hatte und den Gang entlang sprintete. »Die Jüngeren kriegen ihren Stundenplan in der Caféteria. Wer heute spät dran ist, kommt am ersten Tag nach den Ferien zu spät und das sieht nicht sonderlich gut aus.«, erklärte Bettina. Aus ihrem Mund wirkte es belanglos, sorglos. Ich merkte, dass sie vermutlich keinerlei Zeitprobleme hatte und noch nie vergaß, den Wecker zu stellen - gut, dass mich die Sonne heute morgen so freundlich geweckt hatte. »Dann passt es ja, dass ich meins im Sekretariat abholen sollte.«, entgegnete ich und lächelte erneut freundlich zu ihr.
Die erste Stunde verlief genauso, wie ich es vermutet hatte; als ich den Raum betrat, lagen alle Blicke automatisch auf mir. Der Geschichtslehrer, Mister Trenner, ein grauhaariger Mann Mitte fünfzig mit einer rechteckigen Brille, saß bereits am Pult und ging die Anwesenheitsliste durch. Zu allererst durfte ich mich dann dem Kurs vorstellen, wobei ich nicht mehr als meinen Namen wiederholte und ihnen mein Alter und meine genaue Herkunft verriet. Ich achtete darauf, dass ich eine offene Körperhaltung hatte - keine verschränkten Arme, den Schülern in die Augen sehend. Ja, ich war schüchtern, aber zugleich wusste ich, dass der erste Eindruck zählte. Anschließend wurde mir ein Platz in einer Zweier-Reihe am Fenster zugewiesen. Es war der einzige Tisch, an dem sich bisher noch niemand eingefunden hatte.
Und dabei blieb es. Während Betty in der ersten Reihe saß und wie die eigene Magd des Lehrers jede noch so winzige Aufgabenstellung verfolgte, wie sein Lehrling jedes Wort mitzuschreiben schien, versuchte ich, mich auf die englische Sprache einzustellen. Zum Glück lebte Familie Williams nicht in Quebec. Französisch wäre mir jetzt wirklich eins zu viel gewesen.
Der Unterricht zog sich lange, doch auch dieser war irgendwann beendet. Kaum war der Schluss eingeläutet, stand Bettina mit ihren bereits gepackten Sachen an meinem Tisch. Ich hatte in Zwischenzeit nicht einmal mit der Wimper zucken können; wie hatte sie es geschafft, ihre Sachen so schnell in ihren Rucksack zu befördern?
»Also dann zu Bibliothek?«, fragte sie und wirkte dabei so, als hätte man ihr mit einem Mal die Persönlichkeit ausgetauscht. Sie wirkte nicht mehr unsicher, sondern entschlossen und selbstbewusst. Innerlich konnte ich meiner Betreuerin Lob zusprechen - die lästigen Unterrichtsstunden in menschlicher Psychologie hinsichtlich dem Kennenlernen hatten sich wohl doch bezahlt gemacht. Ich beantwortete ihre Frage mit einem Nicken und so holten wir mir meine ganzen Bücher und erklärte mir unterwegs grob die Struktur der Schule. Es gab vier Trakte. Einen für Sprachen, Trakt A; einen für Naturwissenschaften, Trakt B; einen für Gesellschaftswissenschaften, Trakt C; und einen für alles weitere, wie die Bibliothek und sonstige AGs, das war Trakt D. Die Schule bot ein breitgefächertes Angebot dieser AGs, also Arbeitsgruppen beziehungsweise ‚Action Groups'. Es gab natürlich einen Segelclub, einen Theaterclub, einen Schachclub und einen Leseclub. Als sie mir von den weiteren Clubs erzählte, von den Cheerleadern, den Footballern, dem Hockeyclub, der Schulband und der Schülerzeitung, schürzte sie ihre Lippen etwas. Anscheinend teilte sie keine guten Erinnerungen mit diesen Gemeinschaften, aber ich wollte noch nicht danach fragen. Es war noch viel zu früh, um sich auf einer derart persönlichen Ebene zu bewegen, weshalb ich das ausließ. Nach den nächsten drei Stunden, in denen ich mich andauernd vorstellen musste und alleine an einem Tisch saß und dennoch beäugt wurde wie die Mona Lisa oder eine Konkurrentin, lud mich Bettina ein, mit ihr am Tisch zu sitzen.
Ich hatte nichts gegen sie. Mir war von Anfang an klar gewesen, dass sie umgangssprachlich vermutlich einer der Nerds war, aber das machte mir nichts. Ich mochte es nicht, Leute lediglich auf Äußerlichkeiten zu beschränken; man war nicht hübsch, nur weil man keine Pickel hatte, und man war auch nicht abstoßend, wenn man sich für Dinge in der Schule oder Computerspiele interessierte. Bettina hatte einen wirklich netten Eindruck bei mir hinterlassen. Zwar hatte sie ein wenig über die Cheerleader gelästert, die anscheinen - ihren Worten zufolge - »alle nichts in der Birne haben aber herumlaufen wie Barbies«, aber ich war mir sicher, dass man sie verärgert haben musste, um solche Worte aus ihrem sonst so freundlichen Mund zu bekommen.
Gerade, als wir die Caféteria betraten, hatte ich zu Bettina herunter gesehen. Mit ihren vielleicht einen Meter sechzig war sie fast zehn Zentimeter kleiner als ich und durch die Lautstärke dort hatte ich meine gesamte Konzentration auf sie richten müssen, als sie begann, mir zu erzählen, wer von ihren Freunden wer war. Das war allerdings keine so gute Idee, wie ich anfangs vermutet hatte; kurz vor dem Verlust meines Gleichgewichts hatte ich nur noch den Saum eines schwarzen T-Shirts gesehen.
Im nächsten Moment bretterte ich nahezu zu Boden. Es kam mir mehr vor, als wäre ich gegen eine Wand gelaufen als gegen einen Menschen, aber ich hätte schwören können, ein schwarzes Shirt kurz vor meiner Bruchlandung auf meinen Hintern gesehen zu haben. Leise brummte ich, als ich meine Sinne ein paar Sekunden später wieder beisammen hatte. Als ich vor mich und nach oben sah, bot sich mir ein unfassbares Bild.
Ich war doch nicht verrückt geworden und es war tatsächlich ein menschliches Wesen, gegen dass ich gebrettert bin. Obwohl ich hatte schwören können, dass er so hart wie eine Wand war. Ein Blick an den langen Beinen, die von einer dunkelblauen Jeans bedeckt waren, nach oben genügte mir aber schon, um mich wieder aus der Fassung zu bringen.
Wow.
Ich glaube, ich war gerade vor Adonis höchstpersönlich auf den Hintern gefallen.
Er war groß, sehr groß sogar. Es hätte mich nicht gewundert, wenn er die Zwei-Meter-Marke überschreiten würde. E trug tatsächlich ein schwarzes Shirt. Eng lag es an seiner muskulösen Brust an und ließ keinen Zweifel an einem trainierten Körper. Nur unterbewusst merkte ich, wie Bettina mir aufstehen half. Mein Blick haftete an dem Gesicht des Jungen. Wohl eher des jungen Mannes. Er war mindestens ein Jahr älter als ich. Sein Gesicht, das irgendwo zwischen oval und rund lag, wurde von dunkelbraunen Haaren gekrönt. Sie sahen so unfassbar weich aus, dass ich dachte, er hätte geschwänzt und käme gerade erst vom Friseur. Seine Augenbrauen hatte er gerade ziemlich misstrauisch zusammengezogen, was seine Stirn in Falten legte. Seine grünen Augen stachen als nächstes Merkmal heraus. Durch die den Winkel der Sonnenstrahlen schienen sie zu leuchten und mir direkt in die Seele blicken zu wollen. Nahezu eindringlich verfolgte er meinen Blick, als wollte er irgendetwas aus mir herauspressen, aber gerade war mein Gehirn wie lahm gelegt, funktionierte nicht. Seine Haut war brauner als die der meisten hier und absolut makellos. Ich konnte nicht einmal einen Mitesser ausmachen, und dabei stand ich direkt vor ihm. Vielleicht entging mir ja einer.. Seine Nase schien die perfekte Form zu haben; sie war weder zu groß, noch zu klein, noch war sie zu dick oder zu dünn. Seine vollen Lippen waren leicht rosa und ließen Luft durch einen kleinen Spalt aus und in den Körper fließen.
Etwas Spitzes, Knochiges stach mir in die Seite und entriss mich aus meinem tranceartigen Zustand. »Er mag es nicht, angestarrt zu werden.«, zischte mir Bettina zu. Sie wirkte mit einem Mal, als hätte sie alles Selbstbewusstsein mit einem Schlag verlassen. Ihr Gesicht war bleich geworden, ihre Lippen zu einer dünnen Linie gepresst und ihre Augen verrieten einen Fluchtinstinkt, der so eben aktiviert worden war. Ich weiß nicht, ob mein Zustand schuld war, der die Tauglichkeit aller Sinnesorgane außer den Augen zu dämpfen schien, aber ich hatte das Gefühl, dass es stiller in der Mensa geworden war.
Ich dachte zwar, es wäre unmöglich, weil sogar ich Bettinas Worte kaum verstanden hatte, aber der unbekannte Junge vor mir schien alles verstanden zu haben. Betrogen mich gerade meine Ohren?
»Sie hat recht.«, pflichtete er ihr beinahe knurrend bei. Seine Stimme war tief, aber nicht unangenehm. Sie war eher wie samt; sie war rein und weich und trotzdem kräftig und bedrohlich. Ich wette, wenn er in besserer Stimmung gewesen wäre, hätte sie den Klang eines Engels. Nichtsdestotrotz ließ sie mir gerade, gepaart mit seinen grünen Augen, die irgendetwas aus mir herausquetschen wollten, einen Schauer den Rücken hinunter jagen.
Allerdings hatte ich mich zu seinem Nachteil schon wieder gefangen. Und wenn ich eins hasste, dann war es die Art Menschen, die andere mit ihrer reinen Präsenz einzuschüchtern versuchten.
Ich hatte also zwei Möglichkeiten, zwischen denen ich in dem Bruchteil einer Sekunde entscheiden musste. Entweder ich bewahrte meine Fassung, blieb ruhig und ignorierte seinen intensiven Blick. Damit würde ich meinem Auftreten am ersten Tag schmeicheln, weil ich keinen unnötigen Streit mit einem Unbekannten anfing. Außerdem würde ich Bettina nicht unwissentlich in irgendetwas reinziehen, das ihr durch ihn womöglich zum Verhängnis wurde. Immerhin wusste ich nicht, wer er war und was für eine Stellung er in der Gesellschaft der Schüler an der High School hatte.
Andererseits schien er Bettina ziemlich zu verunsichern und noch um ein Wesentliches mehr einzuschüchtern, als ich es zuvor getan hatte. Der erste Schultag für sie und sie wurde direkt wieder nieder gezwungen und ihre Person unterdrückt, alleine schon, weil sie sich an seine Regeln hielt und mich augenblicklich in diese einführte.
»Wer verbietet mir das? Ich seh' hier nirgends einen Zettel mit ‚Starren verboten'.«, ich zog eine Augenbraue hoch und nur, um es nochmal zu untermalen, musterte ich ihn erneut von oben bis unten. Dieses Mal aber mit vor der Brust verschränkten Armen und einer oben bleibenden, skeptischen Augenbraue.
Nun veränderte sich der Blick in seinen Augen. Zumindest kam es mir so vor, denn der intensive tauschte sich mit einem.. neugierigen aus? Vielleicht spielte mir meine Wahrnehmung auch nur einen Trick, denn im nächsten Moment zog auch er missbilligend eine Augenbraue nach oben. Seine Gesichtszüge verhärteten sich, als hätte ich ihn gerade zutiefst beleidigt und würde gleich meine Strafe antreten müssen. Dann war er verschwunden; geradewegs den Ausgang hinaus.
Im nächsten Moment wurden die Stimmen in der Mensa wieder lauter und traten in mein Bewusstsein ein. Vermutlich hatte ich mir tatsächlich einen Streich gespielt und es war gar nicht leiser geworden.
Als ich zu Bettina herunter sah, erkannte ich das tiefe Senken ihrer Schultern. Sie hatte anscheinend die Luft angehalten, zumindest atmete sie tief durch. Als sie zu mir hinauf schaute, lag ein Ausdruck in ihren Augen, den ich nicht erklären konnte oder gar zu beschreiben wagte. Alles, worin ich mir sicher war, war, dass es ein positiver Ausdruck war.
»Wer war das denn?«, fragte ich in skeptischem Tonfall und warf einen Blick über die Schulter nach draußen. Der Junge war bereits verschwunden, und dennoch kam es mir so vor, als würde sein Geruch direkt vor mir verbleiben. Meine Nase hatte sich also auch von selbst ausgeklinkt, denn dieser Duft - eine Mischung aus Aftershave, das sich aber eher im Hintergrund befand, und irgendetwas anderem, vielleicht eine Mischung aus Vanille und trotzdem eine kleine Note von nassem Gras - käme am ehesten heran. Vermutlich hatte er lediglich einen morgendlichen Waldspaziergang hinter sich und die Feinheit in dem gesamten Aroma resultierte daraus. Oder meine Sinne spielten mir wieder einen Streich. Sonderlich Vertrauen verspürte ich momentan nicht zu ihnen.
Nach wie vor mit verschränkten Armen sah ich zu meiner Begleiterin, die sich die Brille erneut die Nase hoch schob und ebenfalls einen kurzen, unsicheren Blick zur Tür wagte, ehe sie mir wieder in die Augen sah. »Das war Liam Hanson, Captain der Football-Mannschaft.«
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