»Deal or no deal?« (1)
In den nächsten Wochen umfing mich Eiseskälte. Nachdem ich von Liam Zuhause abgehauen war, mir dank den Wassereimern, die mein Schicksal über mir herabließ, eine dicke Grippe eingefangen hatte und erstmal drei Tage lang im Bett verbrachte, ging es mir mental auch nicht wirklich besser. Liam hatte sich immer wieder bei mir entschuldigt, per SMS, E-Mail und Anrufbeantworter. Aber da in keiner Nachricht seinerseits vorzufinden war, dass er endlich ehrlich zu mir sein würde, bekam er konstant meine Ignoranz zu spüren. Es war für mich mindestens so schwer wie für ihn. Besonders, als ich seine Stimme in der Haustür gehört hatte, am zweiten Tag meiner Grippe, und Summer ihn auf mein Geheiß fünfzehn Minuten lang davon abhielt, einfach rein zu kommen. Als er endlich gegangen war, brachte sie mir eine Thermobecher mit Pfefferminztee und eine Schüssel mit warmer Gemüsesuppe nach oben. Sie hatte Anders wäre er nie gegangen. hinzugefügt, als sie mir die kleinen Aufmerksamkeiten überreichte.
Doch auch in der Schule zog ich mein Vorhaben durch. Mir war es egal, was die anderen jetzt von mir dachten. Immerhin hatte ich an dem einen Abend noch seinen Pulli getragen, am nächsten hingegen war zwischen uns komplette Funkstille. Ich ignorierte jedes Lächeln, jedes Wort, das er mir zugeworfen hatte. Es war hart, mein Herz blutete, ich war immer wieder kurz davor, ihm um den Hals zu fallen und mich bei ihm zu entschuldigen, aber dann riss ich mich doch noch einmal zusammen. Für die Wahrheit, sagte ich mir dann immer. Für die Wahrheit.
Ich sah natürlich, wie mitgenommen Liam wirkte. Von Woche zu Woche wurden seine Augenringe dunkler, seine Haare zerzauster, sein Körper schwächer. Das Funkeln war komplett aus seinen Augen gewichen; statt einem strahlenden Smaragd zu ähneln, wirkten sie mehr wie mattes Gras. Auf die Dauer fiel mir auch auf, dass er immer mehr in der Schule fehlte. Auch Summer und die anderen waren ab und zu mal weg, obwohl sie am Vortag noch quietschfidel waren. Ich brannte natürlich innerlich darauf, zu wissen, warum; aber da Summer mir immer noch nichts erklären wollte, ging ich davon aus, dass Liam den Befehl noch nicht aufgehoben hatte, als würde es mir nichts bringen.
Aber Liam war es selbst Schuld. Er konnte es ändern, wenn er wollte. Allerdings gab es davon nichts zu sehen; nicht mal die Anzeichen dafür, dass er über einen Sinneswandel nachdachte, gab es.
Heute war, der fünfzehnte Dezember, ich war also bereits seit über drei Monaten in Sylvan Lake. Wenn man das alles so resümierte, ist eigentlich viel geschehen. Ich war erst von einer reichen Familie adoptiert worden, die angeblich von einem großen Bären - den ich nirgends gesehen hatte - getötet worden waren. Meine Theorie besagte immer noch, dass es die Schuld mehrerer riesiger Wölfe gewesen waren, aber dafür hatte ich keine Beweise. Außerdem hatten diese Wölfe ganz offensichtlich drei weitere Personen beziehungsweise Wesen mit blutroten Ringen um der Iris umgebracht. Natürlich hatte ich auch meine Theorie dazu, was diese Wesen gewesen waren, aber es gruselte mich zu sehr davor, um den Gedanken überhaupt zu denken. Anschließend wurde ich monatelang vom Alpha selbst belogen, der mich gleichzeitig aber auch umgarnte und mich anscheinend an seiner Seite sah. Übrigens war ich durch den Tod meiner Adoptiveltern auch noch Multimillionärin geworden und hatte viel Geld gespendet und auch viel in verschiedenen Banken in Alberta gelagert. Außerdem hatte ich eines Nachts, nachdem ich zwei Fastküsse mit Liam gehabt hatte, auf einmal den Umriss der Kadupul-Blume auf meiner Hand gesehen, während meine Adern golden aus meinem Körper heraus leuchteten. Irgendwie hat das dann fünf Blitze hervor gezaubert, obwohl es nicht einmal gewittert hatte. Im Übrigen hatte es fünf verschiedene, große Jungen getroffen, einer von ihnen der Typ aus Liams gegnerischer Footballmannschaft, und sie alle kamen mit schweren Verletzungen und Brandwunden ins Krankenhaus, wo sie mehrere Wochen außer Gefecht gesetzt waren, aber sie lebten noch. Liam war nach drei Tagen komplett geheilt gewesen, obwohl ich hätte schwören können, dass er so aussah, als hätte ihn ein Auto überrollt. Seitdem ich auf seine weiteren Lügen hin abgehauen war, hatte sich mein Leben komplett beruhigt. Es kam zu keinen weiteren Komplikationen, ich wurde nicht mehr angegriffen, und die komische Skizze auf meiner Hand erschien auch nie wieder. Vielleicht sollte ich das alles einfach als schlechten Traum abstempeln, vielleicht hatte Liam recht und das alles war gar nicht so schlimm, wie es sich anfühlte. Ich schmunzelte. Nein, es war schlimmer.
Plötzlich stieß etwas lautes gegen mein Fenster. Ich schrak zusammen, richtete mich auf. Es war schon neunzehn Uhr, draußen war es schon dunkel. Summer und ihre Eltern waren auf einem Weihnachtsmarkt, ihr kleiner Bruder übernachtete bei Freunden. Ich hatte nicht mit ihnen gehen wollen, weil heute einfach nicht so mein Tag war. Manchmal hatte ich eben einfach keine Lust auf soziale Kontakte. Dann musste ich meine Nerv-Kapazitäten wieder auffrischen. SO ein Tag war heute.
Von Clarisse und ihren beiden Anhängseln hatte ich übrigens kein Wort mehr gehört, genauso wenig wie von Betty und ihrer Gruppe. Ich glaubte, sie hatte das beim Footballevent mitbekommen und war eifersüchtig. Zugegebenermaßen war es auch eine ziemlich unmoralische Aktion von mir, immerhin hatte sie von Anfang an gesagt, dass sie auf Liam stand. Naja, zumindest hatte sie es kenntlich gemacht. Und trotzdem war ich diejenige gewesen, die sich ihn geangelt hatte. Aber was sollte ich denn tun? Ich konnte meine Gefühle nicht ändern. Nicht einmal jetzt, wo ich ihn am liebsten küssen und ihm gleichzeitig eine Ohrfeige verpassen würde.
Und wieder dieses Geräusch an meinem Fenster. Laut schallte es durch das Zimmer und war genauso schnell beendet, wie es aufgetaucht war. Vorsichtig lief ich zum Fenster und wagte einen Blick in Summers Garten. Der Schnee auf dem Boden strahlte mir hell entgegen, der Nachthimmel war klar, der Sternenhimmel in seinen Details zu sehen. Eine kalte Nacht stünde bevor.
Vorsichtig öffnete ich das Fenster und lugte heraus. Summers Garten war glücklicherweise sehr übersichtlich, weshalb ich nicht lange brauchte, bis ich einen gut gebauten jungen Mann vor dem Haus aus machen konnte, der Steine gegen mein Fenster schmiss.
»Sag mal, hackt's?«, brüllte ich von oben zu Liam hinab, konnte mir aber ein kurzes Lächeln nicht verkneifen. Es war ja schon süß.
»Das Lächeln hab ich gesehen.«, schoss es direkt mit seiner samten Stimme zu mir nach oben. In der nächsten Sekunde sah ich nur noch, wie er Anlauf nahm. Ich wollte schreien, ob er verrückt sei, aber da hatte er sich schon in die Luft geschwungen und mit einem Mal war er an der Hausfassade, an der er sich galant mit einem Arm nach oben direkt in mein Fenster schwang. Ich schrak zurück von dieser Aktion und sah ungläubig zwischen ihm und dem Fenster hin und her. Wie hatte er das gemacht? Das waren mindestens zweieinhalb bis drei Meter.
»Mund zu, sonst zieht's.«, witzelte er und drehte sich um, um das Fenster zu schließen. Ich war ihm ziemlich dankbar, denn gerade fegte ein eiskalter Wind durch den Raum und ließ meinen Geschichtsessay vom Schreibtisch durch den ganzen Raum wehen. Liam hatte schnell nach ihm gegriffen, ihn eingesammelt und ihn wieder dort abgelegt, von wo er zuvor geflohen war.
»W-was machst du hier?«, starrte ich ihn etwas entsetzt an. Er sah wirklich schlimm aus. Als hätte er drei Tage lang nicht geschlafen. Seine Haare waren zerzaust und da der Schnee durch seine überdurchschnittlich hohe Körpertemperatur schnell geschmolzen war, waren sie jetzt auch nass. Er trug nur ein schwarzes T-Shirt und eine schwarze Jeans, wie immer, aber er schien nicht im Geringsten zu frieren. Als ich ihm wieder in die Augen sah, sah ich zum ersten Mal seit langem etwas darin aufblitzen.
»Ich möchte dir einen Deal vorschlagen.«, entgegnete er, schüttelte automatisch kurz den Kopf, um das Wasser aus seinen Haaren zu kriegen. Dabei tat er es irgendwie geübter als ein normaler Mensch. Jap, Wolf.
Vorsichtig ließ ich mich wieder auf mein Bett sinken. Erst jetzt fiel mir die Erleichterung auf, die sich ungewollt in mir über den Umstand ausbreitete, dass er dort unten am Fenster gestanden hatte und kein anderer. »Einen Deal?«, zog ich skeptisch eine Augenbraue hoch, immerhin musste ich meine mies gelaunte Fassade ja vor ihm wahren. Ich wollte ja immer noch die Wahrheit wissen.
Ich beobachtete ihn genaustens. Leise, wie ein Puma auf der jagt, schritt er zu mir herüber. Ich saß in der hintersten Ecke an der Wand meines Bettes, lehnte mich an die Rückenlehne und hatte die Beine leicht angewinkelt. Langsam und elegant, wie man es einem so großen, muskulösen Körper eher nicht zutraute, ließ er sich neben mir auf dem Bett nieder. »Ja, ein Deal. Du siehst nämlich echt.. mitgenommen aus.«, bestätigte er zum einen den Grund für sein Auftauchen, zum anderen, was ich ohnehin schon wusste. Denn nicht nur ihn hatte die Abwesenheit des anderen beeinflusst. Ich hatte bestimmt ein oder zwei Kilo abgenommen, weil mein Hungergefühl sich mit Liam verabschiedet hatte, und ich bekam auch nicht mehr so viel Schlaf, wie mein Körper eigentlich verlangte. Allerdings schätzte ich, dass ich besser davon gekommen war, als die Mumie neben mir. Okay, Mumie war übertrieben. Er war immer noch göttlich schön.
»Du siehst mindestens genauso scheiße aus.«, spuckte ich wieder. Meine Manieren konnte er vergessen, solange er nicht ehrlich zu mir war.
Er lachte leise und rau, etwas wehmütig, und dennoch überzog mich eine Gänsehaut von Kopf bis Fuß. Ich bekam so viel Mitleid allein durch sein Lachen, dass ich ihm beinahe um den Hals gesprungen wäre und mich entschuldigt hätte. Aber nur beinahe.
»Ich.. naja. Ich habe über einiges nachgedacht und bin zu dem Entschluss gekommen, dass..-«
»Ich nicht zurück komme, solange du mir nicht die Wahrheit sagst, richtig.«, unterbrach ich ihn trotzig und verschränkte die Arme vor meiner Brust. Zum Glück trug ich heute nicht den Hello-Kitty-Pyjama.
Liam atmete kurz tief durch und sah dann auf seinen Schoß hinab, presste die Lippen aufeinander und sah dann wieder zu mir. »..es sinnlos ist, weil du es vermutlich eh irgendwann herausfinden musst.«, beendete er seinen Satz selbst und sah mir in die Augen.
Augenblicklich wurde ich hellhörig, richtete mich erwartungsvoll auf, doch meine Vorfreude bekam direkt einen Schlag auf den Hinterkopf. »Nichtsdestotrotz werde ich dich jetzt noch nicht aus deiner heilen Menschenwelt herausreißen.«, sagte er langsam und ernst, sichergehend, dass ich jedes Wort richtig verstand und interpretiere. Ich seufzte und ließ mich genervt gegen die Rückenlehne fallen, während ich absichtlich auffällig und im großen Bogen meine Augen rollte. Immerhin hatte er zugegeben, dass es um etwas ging, dass übermenschlich war.
»Der Deal ist folgender: Wir fliegen in fünf Tagen ja sowieso nach Sri Lanka. Wenn du dort etwas herausfindest, selbst entdeckst beziehungsweise Puzzleteile der Geschichte herausbekommst, erzähle ich sie dir. Dafür hört der Krieg zwischen uns endlich auf.«, sprach er langsam und sah mir dabei weiter in die Augen, etwas darin blitzte wieder auf.
»Das heißt, du hattest nicht vor, es mir zu verraten, obwohl du mit fliegst und alles weißt?«, spottete ich und sah ihn abwertend von oben bis unten an. Naja, ob das abwertend war, wusste ich nicht, denn ich würde für diesen Jungen über Leichen gehen. Obwohl ich ihn erst wenige Monate kannte.
»Dreh mir die Worte nicht im Mund rum.«, mahnte er.
»Gegengebot.«, begann ich. Ich wusste, dass ich genau jetzt und nur jetzt die Chance darauf hatte. Und so leid es mir für Liam tat, dass ich seine Lage im Folgenden so ausnutzen würde - er war es selbst Schuld. Er hätte ja auch die Wahrheit sagen können. »Ich..«, begann ich und bemühte mich um einen gehauchten Unterton. Ich hatte das noch nie gemacht, versuchte aber, die Nervosität und Unsicherheit herunterzuschlucken. Anders würde es nicht funktionieren. Vorsichtig beugte ich mich vor zu ihm, rutschte nahe zu ihm und flüsterte so zweideutig verlangend, wie ich konnte ».. lege meine Waffen gegen dich nieder..«, ich hob meine Hand ganz vorsichtig, sah ihm in die Augen und legte sie auf seine warme Schulter. Das Shirt war noch feucht vom Schnee, aber das schien ihn nicht zu stören. Ich bemerkte, wie er versuchte, so leise und unauffällig wie möglich zu schlucken. ».. und du..«, ich fuhr ganz langsam von seiner Schulter sein Schlüsselbein entlang hinab zu seiner muskulösen Brust, ».. hilfst mir dabei, diese Puzzleteile zu finden und erzählst mir zu jedem einzelnen die Wahrheit dahinter.«, letzteres hauchte ich ihm leise ins Ohr, meine Hand war mittlerweile am Ansatz seiner Bauchmuskeln. Ich spürte seine Atmung unter meinen Berührungen beben, spürte ihn nach Beherrschung ringen. Werwolf hin oder her, er war auch nur ein junger Mann von beinahe zwanzig, der noch nie berührt worden war. Und ich nahm mir das Recht, mir das in dieser Situation zu Nutze zu machen.
Er atmete tief durch, ehe er wieder zum Reden ansetzte. »Aber-«
Ich beugte mich halb über ihn, sodass ich ihm in die Augen sehen konnte. Gott sei Dank war das Zähneputzen noch nicht allzu lange her. Und ja, ich hatte so früh Zähne geputzt und mich umgezogen, weil ich nicht davon ausging, nochmal Besuch zu bekommen oder das Haus zu verlassen.
Ich unterbrach ihm mit einem langsam, kurzwegigen Kopfschütteln. »Kein aber, Liam.«, ich spürte, wie ihn eine Welle der Gänsehaut überzog, als ich seinen Namen aussprach. Mittlerweile war ich nur noch wenige Zentimeter von seinen Lippen entfernt. Mein Herz pulsierte in altbekanntem Muster, pumpte das Blut durch meine Adern, wie noch nie. Eine Aufregung, beginnend bei meiner linken Brust, durchzog meinen gesamten Körper. Ich fühlte mich lebendiger als je zuvor, und trotzdem konnte ich mich genau auf jeden einzelnen von Liams unregelmäßigen Atemzügen konzentrieren. Die Spannung und das Knistern zwischen uns waren unglaublich, machten es meiner Lunge schwer, an Luft zu kommen. Meine Hand verharrte an den mittleren seiner Bauchmuskeln und strich sanft und langsam darüber. »Deal or no deal?«, flüsterte ich wieder, er stockte.
Einen Moment dauerte es, bis er sich gefangen hatte. Er wirkte benommener als er vermutlich nach einer Dosis Marihuana war. Sein Gehirn traf sich gerade mit meinem irgendwo im Nirvana. »Deal.«, hauchte er zurück, beugte sich vor und überbrückte die letzten beiden Zentimeter zwischen unseren Lippen.
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