Thoughts Around

"Du siehst aus als hättest du einen Geist gesehen." lachte Ailee, als ich am nächsten Morgen auf meinem Zimmer stolperte und nicht sonderlich viel schlaf gefasst hatte.
Nachdem Wonho...
Daran konnte ich nicht denken ohne am Rad zu drehen, es ging nicht. Noch nie hatte mich jemand so verwirrt wie er und das nach so kurzer Zeit.
"Schlecht geschlafen." murmelte ich und setzte mich zu ihr an den gedeckten Tisch.
"Muss am Vollmond liegen. Es wurde vor Ewigkeiten festgestellt, dass er unseren Schlaf beeinträchtigt." ertönte sie viel munterer als sonst und biss beherzt in ihr Brötchen, als würde sie sich über nichts mehr freuen, als dies.

Mein Magen dagegen wollte sich nur noch umdrehen.
Noch immer ging mir das Bild meines Bruders und sein völlig verunsicherter Blick nicht aus dem Kopf.
Noch dazu viel mir jetzt erst auf, dass Wonho mich gestern mit dem Kuss auf meine Wange total aus dem Konzept gebracht hatte.
Ich hatte mir geschworen mit einer Antwort wieder hier hoch zu verschwinden, aber am Ende war ich nur noch verwirrter und hatte eine weitere Lüge aufzuklären.
Er hatte genau den Moment ausgenutzt um zu verschwinden, an dem ich versuchte zu verstehen wieso er meine Wange geküsst hatte.
Meinen Bruder verabschiedete Jooheon schließlich auch nicht so und die beiden schienen gute Freunde zu sein, seit wir hier ankamen.

Ich griff nach dem Glas Saft an meinem Teller und nahm einen Schluck, bevor ich Ailee begann nach Antworten zu fragen.
"Ist es normal, dass hier Jungs den Mädchen einen Kuss auf die Wange als Abschied geben?" harke ich leise nach und wartete auf eine Reaktion.
Mir war bewusst, dass sie da sehr distanziert war, aber sie meinte sie sei gut im beobachten und da würde sie soetwas doch bestimmt schon gesehen haben.

Ailee räusperte sich bevor sie antwortete.
"Wenn er was von ihr will ja." murmelte sie nur und biss erneut ab.
Ich blinzelte irritiert in welchem Sinne was will?
Freundschaft?
"Was wollen?" fragte ich sie.
Ein lächeln zierte ihre Lippen und sie schüttelte den Kopf.
"Das ist nicht mein Thema. Setz dich da mit Hyungwon auseinander, der ist da Experte." wies sie mich weiter.
Ich seufzte und wartete einen Moment bevor ich meine zweite Frage stellte.
"Gibt es hier irgendwelche Traditionen, bei denen die neuen hier willkommen geheißen werden?" harkte ich weiter nach.
Irritiert weiteten sich ihre Augen und sie sah von ihrem Brötchen auf.
"Woher hast du den mist gehört? Mich haben sie hier einfach eingegliedert." lachte sie und zuckte mit den Schultern.
"Ich musste nur ein paar Tests durchlaufen, da ich ziemlich nen Knacks weg hatte, aber sie haben mich als zurechnungsfähig eingestuft und mich hier hin gesetzt." erklärte sie mir und wirkte belustigt über meine Frage.
"Wie kommst du auf soetwas Raiee?" fragte sie mich und legte den Kopf schief.
"Hab ich irgendwo aufgeschnappt." nuschelte ich und klaute mir eine Traube aus der Obstschale.
"Dann hast du da definitiv etwas durcheinander gebracht."

Wonho hatte also tatsächlich gelogen.
Innerlich hatte ich gehofft er hätte vielleicht Recht gehabt, doch ich wurde eines besseren belehrt.

"Morgen ihr zwei. Raiee hast du schon das Buch gelesen, was ich dir empfohlen hab?"
Ich zuckte zusammen, als aufeinmal Hyungwon auftauchte und einfach in die Wohnung maschierte.
Ailee blieb gelassen.
Ihre Defensive schien sie bei ihm abgelegt zu haben, denn sie lächelte ihn nur begrüßend an.
"Hast du auch nen Geist gesehen?" fragte sie ihn und deutete auf die Ringe unter seinen Augen.
Er schüttelte mit einem kläglichen seufzen den Kopf. "Nur schlechten Schlaf gefasst." brummte er und sah aus den großen Fenstern in der Wohnung.
"Ihr habt es hier so toll." murmelte er und ließ sich auf dem Sofa sinken.
"Musst du es aber auch haben, ich hab gehört ihr habt sogar Fernseher und dementsprechende Verbindungen zu den Programmen der Regionen." erwähnte Ailee und sah mit hochgezogener Augenbraue zu Hyungwon.
Er sah weiterhin aus den Fenstern und schien Ailees Worte überhört zu haben.
"Ich würde unnötigen Luxus gerne gegen eine tolle Aussicht eintauschen." kam es wenige Sekunden später leise von ihm und er seufzte.
Ailee sah ein wenig überrascht in seine Richtung und verzog anerkennend das Gesicht.

Mit einem Ruck stand Hyungwon wieder auf den Beinen und lächelte breit und munter und ausgeschlafen.
"Ich wollte ein Stück laufen, das Wetter genießen. Wollt ihr mit?" fragte er aufeinmal wie ausgewechselt und sah uns auffordernd und einladend an.
Ich nickte.
Vor hatte ich heute eh nichts und vielleicht wusste er ja was dieser Auflauf an Menschen gestern sollte.
Ailee verneinte, sie meine sie habe hier noch aufzuräumen und wollte mit einigen der Kinder zusammen in die Bibliothek gehen.

"Du warst in der Nacht unten." konfrontierte Hyungwon mich, kaum hatte ich die Wohnungstür geschlossen.
"Ich hab dich gesehen, mit Wonho." setzte er nach.
Ich nickte nur und schlang meine Arme um mich.
"Ich wollte nur wissen was da los war und er hat mich weggezogen." murmelte ich und stieg nach ihm in den Aufzug.
Er nickte.
"Ich stand bei Minhyuk, ein wenig abseits." meinte er nur und sah aufeinmal wieder genauso Müde aus, wie ich mich fühlte.
"Wonho hat dir keine Antwort gegeben oder?"
Erkannte er und lehnte sich gegen die Wand im Fahrstul.
"Er meinte irgendwas von einer Tradition. Aber er hat gelogen. Ich hab gesehen, dass es meinem Bruder alles andere als gut ging." stellte ich klar und fuhr mit meiner Hand über die Wange, auf die Wonho mich geküsst hatte.
Hätte Changkyun das gesehen, wäre er ausgerastet, da war ich mir sicher.
Laut Hyungwons Blick schien er zu wissen, was Wonho gestern mit mir angestellt hatte.
"Er selber wäre zu stur um es zu zugeben, aber er mag dich. Das hab ich echt noch nie gesehen.
Eigentlich ärgert er die ganzen Mädchen hier immer nur. Du bist die erste mit der er so vertraut umgeht und über die er nach eine solch kurzen Zeit mehr als nur die hälfte redet." erzählte er mir und ließ mich ein wenig bestürzt da stehen, als der Aufzug aufging und wir hinaus liefen.
"Der Grund wieso er dir nicht gesagt hat wo die Männer und Jungs hinfahren ist der, dass er dich schützen will. Hier ist nicht alles so friedlich wie es scheint und das mögen die meisten hier immer wieder vergessen."
Er klang viel ernster und älter als sonst.

Wie automatisch kam mir das in den Kopf was eben oben in der Wohnung passiert war.
Ailee dachte in Hyungwons Leben sei alles bestens, nur weil seinem Vater hier alles gehörte und er ein paar der Vorzüge genießen konnte, aber sie wusste nicht wie es dahinter aussah.
Theoretisch wusste ich es auch nicht, nur hatte Wonho es mir anvertraut und ich müsste das Geheimnis seiner Worte wahren, keinem weiter verraten.
"Von Ailee und mir wirst du auch keine Antwort erwarten können, so leid es mir tut, aber dafür bist du noch zu kurz hier, um es zu verstehen."
Ich schielte zu ihm herüber.
Seine braunen Augen waren stur auf den Ausgang vor unserer Nase gerichtet.
"Aber mein Bruder ist schon so weit?" harkte ich nach und zog eine Augenbraue hoch.
Hyungwon schüttelte sofort den Kopf. "Aber er wird bei dem gebraucht, wo er hin muss und das verpflichtet ihn dazu, dass es ihm gesagt wird."
"Wieso bist du nicht dabei?" fragte ich leise.

Einen Moment blieb er leise bevor er antwortete.
"Ich war, aber ich habe aufgehört es mir anzutun. Es ist nicht grade ungefährlich. Einverstanden war mein Vater damit überhaupt nicht. Ich als Sohn des Bosses hier sollte doch meinen Pflichten nachkommen, aber wie wenn ich es nicht kann? Wenn ich bessere Lösungen für ein Problem im Kopf hab."
Gezielt behielt er es bei mich nichts von den Machenschaften erfahren zu lassen, die es offensichtlich in sich hatten mussten.
"Minhyuk dagegen muss mit. Obwohl mir das gewaltig gegen den Strich geht." er verschränkte die Arme und sog die kühle Luft langsam ein. "Ich habe angst, dass er und die anderen eines Tages nicht mehr hier ankommen, oder zumindest nicht mehr vollzählig."
Ein Schauder ging mir durch Mark und Knochen.
"Du meinst, sie würden sich verirren bei was auch immer sie machen?" versuchte ich den Hauch einer Hoffnung zu schinden, die mein neben mir mit einem Kopfschütteln zerstampfte.
"Sie könnten allesamt sterben." rastete er meinen ersten Gedanken ein.
Klar war, dass meine Neugier und meine Sorge nicht grade gesättigt wurden, sondern zu großen und unfüllbaren Löchern wurden.
Mein Bruder könnte bei dem wo er war sterben, so wie Wonho.
Ich biss mir von innen auf die Wange.
Beide Verluste würden schmerzen, so wie bei Hyungwon.
Er musste bereits seit Jahren mit dieser Sorge leben, ich wollte gar nicht wissen was in ihm vorging, was er sich für sorgen um Minhyuk machen musste, würde er hier nicht wieder auftauchen.

Ein Leben ohne meinen Bruder wäre mir unvorstellbar. Ich hatte ihn bei mir seit ich denken konnte, seit ich geboren wurde.
Als meine Eltern starben spürte ich wie sehr verbunden Geschwister im inneren sind und wie viel es mir bedeutete den Tod unserer Eltern nicht alleine durchgestanden zu haben.
"Bis jetzt ist noch nichts passiert und ich bleibe optimistisch, obwohl dies eine schlechte Zeit für Optimisten ist." beteuerte er nicht sonderlich überzeugt von seinen Worten.
"Hoffnung gießt in Sturmnacht Morgenröte. Altes Zitat aus einem Drama von einem deutschen Dichter. Es bedeutet so viel, wie das auch in einer solchen Zeit voller sorge ein gutes Ende in sicht steht."
Nun zierte seine Stimme wieder einen hellen und munteren Klang, der mich lächeln ließ.
Er hatte recht.
Man musste sich Hoffnungen machen.
Mein Bruder war stark. Er würde sich bei dem wo er ist bestimmt durchschlagen.
Von Wonho und seiner vorlauten Art kaum zu schweigen.
So wie er gebaut war, würder er Steine zum zerbrechen bringen.

Ich spürte meine Wangen warm werden und hörte Hyungwon leise kichern.
"An was denkst du, dass du anläufst wie eine Tomate?" wollte er wissen.
Nicht daran das Wonho unglaublich breite und bequeme Schulten hatten und Muskelkonturen sich an seinen Oberteilen abzeichneten, die unmenschlich, aber dennoch natürlich wirkten.
Ich wurde noch röter im Gesicht.
"Was auch immer dich jetzt beschäftigt, es ist besser als das vorige." Kommentierte er und kickte einen Kiesel mit seinem Schuh weg.
Ich sah das anders.
Das letzte was mich beschäftigen sollte, sollte Wonhos statur sein und die Vorstellung wie viel Kraft er neben einer großen Klappe und einer charmanten und auch überraschend persönlichen und ruhigen Art, aufbringen konnte.

An einem Tisch bei der Cafeteria hielt Hyungwon und wies mir mich zu setzen.
"Du denkst an Wonho." stellte er fest und sah mich von seinem Stuhl aus grinsend an.
Ich schüttelte die Hand und trommelte mir auf der Wange herum.
"Tust du. Du bist nicht ganz so stur wie er, das merke ich. Du hast dir bereits eingestanden, dass du ihn sympathisch findest, obwohl sich dein Bruder und Ailee gegen ihn stellen. Du magst ihn und das ist nicht zu übersehen. Außerdem tippst du dir auf der Wange herum, auf die er dich geküsst hat." erklang er triumphierend.
Ich gab es auf mich ihm zu widersetzen, es war als könne er Gedanken lesen.
Ohne mit der Wimper zu zucken hatte er meine Gedanken erfasst und klar gedeutet.
Ich gab mich geschlagen und sagte nichts mir, stelle mir dafür aber die Frage wieso ich Wonho eigentlich mochte und was ihn mir in den kurzen Zeiten, die wir verbracht hatten, so sympathisch machte.

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