29. Hoch hinaus

- five months ago -

Hoch hinaus

Früher, als Rafael noch sehr jung gewesen war, hatte Alec immer und immer wieder betont, dass er ihn bei jeden seiner Entscheidungen unterstützen würde. Er würde nicht die gleichen Fehler seiner Eltern machen, die Alec schon von klein auf zum Shadowhunter – zum Krieger – aufgezogen hatten, ohne das dieser jegliches Mitspracherecht gehabt hatte. Maryse und Robert hatten Alec keine andere Wahl gelassen und noch heute fragte sich Alec, was wohl aus ihm geworden wäre, wenn seine Eltern etwas mehr hinter ihm gestanden hätten.

Er wollte für Rafael so viele Möglichkeiten wie nur möglich schaffen, genauso auch für Max. Oft hatte sein jüngster Sohn damals geäußert, dass er ebenfalls ein Shadowhunter werden wollte. Er war noch klein gewesen und hatte seine Worte vermutlich selbst nicht richtig verstanden, doch obwohl es für einen Warlock unmöglich war ein wahrer Shadowhunter zu werden, hatte Alec ihm immer wieder versichert, dass Max werden konnte, was er wollte. Auch Magnus, der das ganze bloß belächelt hatte und Alec unsichere Blicke zugeworfen hatte, hatte Alec nicht davon abgehalten seinen Sohn jeden Tag aufs Neue zu ermutigen.

Obwohl er also immer stolz auf seine Kinder sein würde, egal was sie taten, konnte er sich das breite Grinsen nicht verkneifen, was sich auf seinen Lippen bildete, als er Rafael mit Pfeil und Bogen vor sich sah. Er war gekleidet in schwarzer Ausrüstung und stand furchtlos einem der Dämonen gegenüber, dessen Ende nahte.

Schon bereits vor einem Jahr war Rafael achtzehn geworden und hatte sich wie ein Kleinkind gefreut, dass er Alec nun auf Missionen begleiten durfte. Es hatte Alec mehr als nur ein bisschen Überwindung gekostet seinen Sohn dieser Gefahr auszusetzen, doch Rafael war ein Shadowhunter – das war sein Wunsch gewesen und Alec musste es akzeptieren.

Die Mission, auf die er Rafael diesmal mitgenommen hatte, war eine eher ungefährliche gewesen. Ein paar Achaierai-Dämonen waren in Brooklyn gesichtet worden. Diese Art von Dämonen war eher ungefährlich. Sie waren nicht besonders intelligent; der einzige Nachteil war, dass sie in der Lage waren zu fliegen. Meist erschwerte dies den Kampf, doch für erfahrende Shadowhunter war auch das kein Problem.

In letzter Zeit ging Alec eher weniger auf Mission. Mit achtunddreißig fühlte er sich selbst zwar noch nicht alt, doch für Shadowhunter war dies bereits ein hohes Alter, angesichts der Tatsache, dass Nephilim allgemein nicht besonders alt wurden. Seit ein oder zwei Jahren hatte Alec also bemerkt, dass er immer mehr für Buchhaltung eingeteilt wurde als für richtige Missionen.

Es tat gut wieder seinen alten Tätigkeiten nachzugehen, vor allem weil er Jace, Isabelle, Clary und Simon an seiner Seite hatte. Alec konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann er zum letzten mal mit seinen Freunden auf dem Feld gestanden hatte, gekleidet in schwarzer Ausrüstung und ausgestattet mit vertrauten Waffen. Immer hatten andere Pflichten gerufen; Jace und Clary wurden als Leiter des Instituts oft bei politischen Angelegenheiten gebraucht, während Isabelle und Simon meist durch ihre Kinder verhindert wurden. Nun kämpften sie endlich wieder Seite an Seite und Alec genoss jeden Augenblick.

Er hatte das Geräusch von Izzys Peitsche vermisst, die sie nun sicher in ihrer Hand hielt. Sie war und blieb die beste Schattenjägerin, die Alec kannte. Außerhalb des Instituts schien es fast so, als wäre sie die ältere Schwester. Alec würde für immer zu ihr aufschauen, wenn es darum ging gegen Dämonen zu kämpfen. Er hatte es außerdem vermisst an Jaces Seite zu kämpfen – sein Parabatai. Nichts toppte das Gefühl von Euphorie, was er verspürte, wenn ihre Herzen im Kampf wie eins schlugen.

Letztendlich hatte es sich um fünf Achaireai-Dämonen gehandelt, die ihnen im Brooklyn Bridge Park begegnet waren. Mit ein paar wenigen Handgriffen hatten es Isabelle und Simon geschafft den ersten Dämon in die Knie zu zwingen. Die restlichen würden ein Kinderspiel sein. Mit gutem Gewissen ließ Alec seinem Sohn Vortritt, der sich wie ein kleines Kind freute, als er sah, dass ihn sein Vater nicht mehr versuchte in Watte zu packen.

Tief atmete Alec ein – am liebsten würde er die Zeit anhalten. Er wusste, dass seine Tage als Krieger gezählt waren. Shadowhunter kämpften meist nicht mehr, wenn sie älter als vierzig waren und diese große, bedeutende Zahl rückte immer näher. Er fühlte sich noch jung, nicht einen Tag älter als zwanzig, doch er wusste, dass sich einiges verändert hatte, was er oftmals nicht wahrhaben wollte.

Stolz beobachtete er seinen Sohn, der einen Pfeil abfeuerte und es mit Clarys Hilfe schaffte den Dämon in die Dimension zurückzuschicken, aus der er gekommen war. Dass sich Rafaels damals gerade Pfeil und Bogen als Waffe seiner Wahl ausgesucht hatte, machte Alec von Tag zu Tag stolzer. Es war etwas, wovon er immer geträumt hatte; mit seinem eigenen Kind Seite an Seite zu kämpfen. Ein Traum, von dem Alec zu einer bestimmten Zeit nicht zu träumen gewagt hatte.

Mit einem stolzen Lachen drehte sich Rafael zu seinem Vater um, seine dunklen Augen leuchteten hell und Alec kannte die Euphorie nur zu gut, die sein Sohn in diesem Moment verspürte. Jeder besiegte Dämon war in seinem Alter noch ein Meilenstein.

Irritiert legte Alec seine Stirn in Falten, als sich Rafaels Gesichtsausdruck zu einem überraschten wendete, danach wurden seine Augen groß und ein geschocktes »Dad!«, fiel über seine Lippen. Schnell griff er nach einem Pfeil in seinem Köcher und spannte seinen Bogen. Verwirrt drehte sich Alec um die eigene Achse und erschrak, als er den Achaierai-Dämon erblickte, der sich dichter hinter ihm befand, als er wartet.

Für einen Moment erstarrte er – etwas, was ihm als Shadowhunter noch nie passiert war. Was war mit seinen schnellen Reflexen passiert, die er jahrelang ausgebildet hatte? Er versuchte sich zu ducken und griff gleichzeitig nach einem seiner Pfeile, doch er griff daneben. Auch das war ihm noch nie passiert; er kannte seine Ausrüstung besser als alles andere auf dieser Welt. Er konnte vermutlich im Schlaf einen Bogen spannen und mit geschlossenen Augen zielen, doch diesmal schien er vollkommen unerfahren.

Es war keine allzu gefährliche Situation; jeder erfahrende Shadowhunter hätte sich geschickt abrollen können, um den Fängen des Dämons zu entkommen. Auch wenn dieses Manöver nicht funktioniert hätte, hätte es einfache Wege gegeben, um sich dennoch zu befreien und unverletzt davonzukommen. Alec schien all diese Wege vergessen zu haben.

Der Dämon krallte sich in seine Ausrüstung und hob ihn in die Luft. Erschrocken schaute Alec zu Boden und spürte, wie das Blut in seinen Adern gefror. Er hörte Isabelle, die seinen Namen schrie und beobachtete Rafael, der erneut einen Pfeil auf seinen Bogen spannte. Achaierai-Dämonen waren nicht besonders stark; er würde Alec nicht lange halten und nicht hoch fliegen können, trotzdem stieg in Alec Panik auf.

Rafaels Pfeil verfehlte den Flügel des Dämons, doch ehe sich Alec versah war Simon an der Seite seines Sohnes und zielte geschickt mit seinem Bogen. Es gelang ihm den Dämon direkt in den Flügel zu treffen, danach folgten zwei weitere Pfeile, beide ebenfalls perfekt gezielt. Erleichtert stellte Alec fest, dass sie an Flughöhe verloren; der Dämon schien immer tiefer zu fliegen, außerdem wurde sein Flügelschlag unregelmäßiger. Er ließ ein lautes Kreischen ertönen, das Alec zusammenzucken ließ.

Er versuchte sich aus den Fängen des Dämons zu lösen, damit er abspringen konnte, bevor der Dämon zusammen mit ihm abstürzte. Es waren vielleicht noch drei Meter bis zum Boden – einen Sprung, den Shadowhunter mit einer Trittsicherheits-Rune ohne Probleme schaffen konnten. Während sich Alec gegen die scharfen Krallen des Dämons wehrte, fragte er sich, ob er eine solche Rune tatsächlich aktiviert hatte. Zweifel kamen in ihm auf und er tastete nach seiner Stele, die sich in seiner Hosentasche befand.

Gerade hatte er es geschafft seinen Ärmel hochzukrempeln, um an die besagte Rune zu gelangen, als der Dämon ihn ohne Vorwarnung fallen ließ. Geschockt versuchte Alec im letzten Moment noch nach dem Bein des Dämons zu greifen, doch er verfehlte und fiel in die Tiefe. Es waren immer noch knapp drei Meter, die er fallen musste, doch auch diese Entfernung hätte ein Shadowhunter ohne Verletzungen überstehen können. Man musste sich nur geschickt abrollen – ein Kinderspiel für jeden erfahrenden Shadowhunter, schließlich hatte man dies mehr als nur einmal im Unterricht durchführen müssen.

Alec war auch ohne Rune schon von höheren Podesten gesprungen. Hodges Training war hart gewesen und schon mit zwölf Jahren hatte er Alec und Jace auf Baumkronen klettern lassen, von denen sie daraufhin herunterspringen mussten – ganz ohne Rune. Das ein oder andere mal hatte es Alec ein gebrochenes Bein oder einen geprellten Arm gekostet, doch mit einer Iratze waren auch diese Verletzungen schnell vergessen gewesen. Alec freute sich schon auf die Heilungsrune, die er angekommen auf dem Boden aktivieren konnte.

Das einzige, was er nun machen musste, war sich abzurollen. Ein echtes Kinderspiel – dachte er...

Bis heute war für Alec unerklärlich, warum sein Körper nicht instinktiv gehandelt hatte. Vollkommen hilflos war er zu Boden gefallen – jede Erfahrungen, jedes Training vollkommen vergessen.

Das letzte, was er wahrgenommen hatte, war Isabelle gewesen, die laut seinen Namen geschrien hatte, danach hatte er Bekanntschaft mit dem Boden gemacht. Alec hatte schon viele Verletzungen einstecken müssen. Er hatte sich in seinem Leben vermutlich jeden Knochen seines Körpers mindestens einmal gebrochen und bereits so viel Blut verloren, dass man einen Vampir für mehrere Jahre davon ernähren konnte, doch mit dem Schmerz, der ihn nach dem Aufprall erwartet hatte, hatte er im Leben nicht gerechnet.

Mit einmal mal wurde die gesamte Luft aus seinen Lungen gepresst. Er wollte schreien, doch er konnte nicht, da sich seine Lunge schmerzhaft zusammenzog. Panisch rang er nach Luft und als sich seine Lungen schließlich mit Sauerstoff füllten, schrie er so laut vor Schmerz auf, wie noch nie in seinem Leben. Der Schmerz zog sich durch seinen gesamten Körper, sodass er die eigentliche Ursache nicht ausmachen konnte.

Er war auf seine Seite gefallen, vermutlich ein unbewusster Versuch sich abzurollen. Mit großer Sicherheit konnte er sagen, dass sein Arm wohl das meiste abbekommen hatte, doch komischer Weise war es nicht das, was am meisten schmerzte. Er hatte sich schon etliche Male seinen Arm gebrochen – er kannte den Schmerz und auch diesmal spürte er ihn, doch es war nicht zu vergleichen mit dem anderen Schmerz, der sich durch seinen gesamten Körper zog.

Es lag nicht an seinem Arm, auch nicht an seinen Rippen, denn auch diesen Schmerz kannte er zu gut. Er konnte die Ursache nicht ausmachen und es brachte ihn um den Verstand. Der Schmerz war um einiges intensiver als der Bruch eines Arms oder einer Rippe. Immer noch schrie er vor Schmerz.

»Dad?«, Rafael kniete an seiner Seite und legte seine Hand besorgt auf Alecs Schulter. Dieser versuchte ihm zu antworten, versuchte zumindest aufzuhören zu schreien, doch der Schmerz lähmte ihn von Kopf bis Fuß. Angestrengt blinzelte er, um sich nach den anderen umzuschauen. Ehe er sich versah war Isabelle an seiner Seite; ihr Blick ernst und professionell wie immer.

Sie schien nicht lang zu überlegen, sondern legte ihre Hand sanft auf Alecs Schulter, die andere auf seine Brust, bevor sie ihn auf den Rücken drehte. Alec hätte nicht geglaubt, dass der Schmerz noch schlimmer hätte werden können, doch er lag falsch. Er hatte noch nie vor Schmerz geweint. Als Kind hatte er es sich nie getraut, aus Angst vor Hodges Reaktion. Shadowhunter weinten nicht vor Schmerz, doch Alec konnte die Tränen nicht aufhalten, die über seine Wangen liefen.

Die Schmerzen hatten ihn vollkommen eingenommen; er konnte nicht reden, nicht sehen, nichts hören – es existierte nur der Schmerz, der ihn ohnmächtig fühlen ließ. Mittlerweile schmerzte zudem noch sein Hals, doch er konnte nicht aufhören zu schreien. Es war die einzige Möglichkeit etwas gegen den Schmerz zu tun.

»Alec?«, er hatte nicht bemerkt, dass sich auch Jace zu ihm gekniet hatte, doch es war definitiv die Stimme seines Parabatais die er neben sich wahrnahm. Warme Hände griffen nach seinem unversehrten Arm, danach wurde sein Ärmel vorsichtig hochgekrempelt. Jace zeichnete eine Iratze auf Alecs Haut und Alec schloss erleichtert seine Augen; bald würde es ein Ende haben.

Dumpf hörte er, wie Isabelle und Jace miteinander sprachen. Vielleicht war es auch Simon gewesen, Alec konnte es nicht genau heraushören. Langsam aber sicher verschwand der Schmerz an seinen Rippen. Er konnte wieder tief durchatmen, was er sofort ausnutzte. Auch seinen Arm konnte er langsam wieder bewegen, zumindest spürte er seine Fingerspitzen wieder, die bis eben unangenehm gekribbelt hatten.

Es würde ihm in nur wenigen Minuten besser gehen, zumindest ging er davon aus. Es waren die bekannten Schmerzen, die nachließen. Die Schmerzen, die er eigentlich auch ohne Iratze ausgehalten hätte.

»Alec, beruhige dich«, sprach Jace sanft. Schrie er immer noch? Ein Piepen ertönte in seinen Ohren und als er seine Augen öffnete, wurde ihm schwarz vor Augen, sodass er sie wieder schloss. Das Piepen wollte nicht verschwinden und alle anderen Geräusche nahm er nur noch dumpf wahr. Isabelle sprach etwas von Portalen, Iratzes und dem Institut, doch Alec konnte keine Zusammenhänge ausmachen.

Ihm wurde heiß und kalt gleichzeitig; sein Körper zitterte, doch er spürte, wie der Schweiß seinen Rücken herunterlief – ein merkwürdiges Gefühl, dass er so noch nie empfunden hatte. Übelkeit stieg in ihm auf. Er konnte den Schmerz nicht mehr aushalten, keine weitere Sekunde. Es brachte ihn um den Verstand.

Er wusste nicht, wie lange er bereits auf dem kalten Boden lag. Für ihn waren Stunden vergangen, doch es musste sich wohl eher um einige Minuten handeln. Die Übelkeit wurde immer schlimmer und schlimmer und nur ganz nebenbei bekam er mit, dass Isabelle einige Male seinen Namen sagte, doch er konnte nicht antworten. Alec wusste, dass sie sich sorgen machen würden, doch er hatte keine Kraft zu antworten.

Irgendwann legte sich eine Hand auf seine andere Schulter. Es war die Schulter, die unversehrt geblieben war. Jemand kniete sich an seine andere Seite und Alec versuchte seinen Kopf in die entsprechende Richtung zu drehen. Sanft strich eine Hand durch seine Haare und obwohl seine Sinne wie betäubt schienen, konnte er den Geruch von verbranntem Zucker wahrnehmen, der in der Luft lag. Die Hand, die sich bis eben noch in seinen Haaren befunden hatte, strich nun über seine Wange und wischte somit die Tränen weg, die immer noch nicht aufgehört hatten zu laufen. Er hatte es nicht für möglich gehalten, doch er schaffte es nach der Hand zu greifen, die an seinem Gesicht lag.

»'agnus«, war alles, was er herausbringen konnte. Er versuchte seine Augen zu öffnen und tatsächlich erkannte er seinen Mann, der neben ihm im Gras kniete. Er sah nur seine Beine und seinen Oberkörper, doch es reichte, um ihn zu erkennen. Beinahe hätte er vor Freude geweint; er wollte Magnus um den Hals fallen, ihn anbetteln, dass er die Schmerzen lindern und ihn nach Hause bringen sollte, doch stattdessen schaffte er es nur seine andere Hand nach Magnus auszustrecken und sie schließlich in seinen Schoß fallen zu lassen.

Magnus sprach mit ihm, doch er konnte nicht hören, was genau er sagte. Es war jedoch schön seine Stimme zu hören. Es nahm ihm etwas Angst, der er sich erst gar nicht bewusst gewesen war.

»Alexander?«, es war vermutlich nicht das erste mal, dass Magnus seinen Namen gesagt hatte, doch erst jetzt kam es bei Alec richtig an. Erneut blinzelte er und diesmal konnte er Magnus' Gesicht erkennen. Es war so vertraut; das einzige in seinem Leben, was sich nie geändert hatte. Magnus setzte einen mitleidigen Gesichtsausdruck auf, danach strich er erneut sanft über Alecs Wange.

»Ich habe ein Portal geöffnet. Ich bringe dich nach Hause, o.k.?«, sprach er ruhig und Alec nickte erleichtert. Ja, nach Hause. Er dachte an sein weiches Bett, dass er heute nicht hätte verlassen sollen. Er wollte einfach nur schlafen und die Schmerzen vergessen.

Ganz vorsichtig schob Magnus seine Hand unter Alecs Rücken, sodass er seinen Oberkörper anheben konnte. »Spürst du das?«, leicht klopfte Magnus auf Alecs Bein. Das Bein, was bei dem Sturz unversehrt geblieben war. Unsicher nickte Alec, doch erst da wurde ihm sein anderes Bein bewusst. Seine Zehen kribbelten unangenehm und er schaffte es nicht es zu bewegen. War es gebrochen? Warum hatte die Iratze nicht auch sein Bein geheilt?

»Ich glaube, es ist nicht nur das Bein, Magnus«, es war Jaces Stimme, die er links von sich hören konnte. Für einen Moment hielt Magnus inne, als ob er nachdenken würde, danach drückte er Alec immer weiter in eine sitzende Position. Wahrscheinlich wollte er Alec zusammen mit Jace anheben, doch schon jetzt wusste Alec, dass dies vermutlich keine gute Idee war. Ein stechender Schmerz breitete sich unterhalb seines Bauchnabel aus, weshalb er sich aus Reflex versuchte gegen Magnus' Griff zu wehren.

»Wir müssen ihn nur durch das Portal schaffen«, sprach Magnus ernst. Erneut versuchte er Alec anzuheben, der tief einatmete. Nur durch das Portal, versicherte er sich immer wieder und versuchte den Schmerz nur für einige Sekunden zu unterdrücken. Als Magnus ihn weit genug angehoben hatte, versuchte sich Alec mit seinem gesunden Bein abzustützen, doch mit dem Schmerz, der ihn erwartete, hatte er nicht gerechnet. Überrascht schrie er auf und zog sein Bein zurück, sodass er beinahe wieder zu Boden fiel, hätten Magnus und Jace ihn nicht gehalten.

»Es ist nicht das Bein, Magnus«, sprach Jace, diesmal lauter und bestimmter als zuvor. Vorsichtig legte Magnus Alec zurück auf den Boden. Kurz erhaschte Alec einen Blick in das Gesicht seines Mannes; seine Augenbrauen waren konzentriert zusammengezogen und seine Lippen waren streng aufeinander gepresst. Prüfend beugte er sich über Alec, danach schob er sein schwarzes Hemd nach oben.

»Jap, es ist definitiv nicht sein Bein«, stellte Jace nach längerer Stille fest. Alec hatte nicht die Kraft sich aufzurichten und nachzusehen, was Magnus und Jace so beunruhigte.

»Rafael, ruf Catarina an«, sprach Magnus laut. Alec hatte vollkommen vergessen, dass sein Sohn immer noch anwesend war. Magnus Hände griffen nach Alecs Gürtel, bevor sie ihn schließlich geschickt öffneten. Alec hatte nicht damit gerechnet, dass diese kleine Geste so viel ausmachen konnte; der Schmerz ließ ein wenig nach und Alec atmete erleichtert aus. Am liebsten wäre er Magnus dankend um den Hals gefallen.

Kurze Zeit später erschien Magnus' Gesicht dicht neben seinem eigenen. Seine Lippen zierte ein freundliches Lächeln, doch Alec erkannte die Besorgnis in seinen Augen. »Wenn du aufwachst, ist alles vorbei. Ich passe auf dich auf, ich verspreche es«, Magnus' Stimme war ruhig und so vertraut, dass Alec bereits automatisch seine Augen schloss. Wann hast du schon einmal nicht auf mich aufgepasst? Wollte Alec noch sagen, doch er war plötzlich viel zu müde. Mit einer Hand strich Magnus über Alecs Augen. Dieser konnte die ihm vertraute Magie spüren, die auf seiner Haut kitzelte. Müdigkeit überkam ihn und das letzte, an das er sich erinnerte, waren Magnus' Lippen an seiner Schläfe.

~*~

Irritiert blinzelte Alec einige Male, bevor er seine Augen komplett öffnen konnte. Er lag nicht mehr auf dem kalten Boden im Brooklyn Bridge Park, sondern in einem weichen Bett, dass ihm allzu bekannt vorkam. Es roch nach zu Hause und Alec hätte vor Freude weinen können. Überrascht stellte er fest, dass der Schmerz tatsächlich nachgelassen hatte. Er war nicht schmerzfrei, doch das, was er in diesem Moment empfand, war nicht zu vergleichen mit dem Schmerz, den er nach dem Fall verspürt hatte.

Erleichtert atmete er aus und stellte sogar fest, dass er die Zehen an beiden Füßen bewegen konnte, was vermutlich ein gutes Zeichen war. Vorsichtig drehte er seinen Kopf zur Seite und erkannte Magnus der neben ihm im Bett lag, einen Arm beschützend über Alecs Brust gelegt. Er war wach, was Alec nicht erwartet hatte, und musterte ihn mit müden Augen.

»Du dummer Nephilim«, zischte Magnus, doch ein Lächeln zierte seine Lippen. Mit seiner Hand strich er durch Alecs Haare, der zufrieden brummte. »Ich dachte wirklich, ich hätte die Trittsicherheits-Rune aktiviert«, gab es von sich. Seine Stimme war heiser, sodass einige Silben verschluckt wurden.

»Vor der nächsten Mission werde ich dreimal nachschauen«, scherzte er und beobachtete, wie Magnus' Mundwinkel leicht nach unten fielen. Oh.

»Also war es nicht das Bein?«, hakte Alec nach, ein wenig Humor im Unterton, da er an Jace denken musste, der diesen Satz so oft wiederholt hatte. »Nicht direkt«, ließ Magnus ihn wissen, danach stützte er sich auf seinen Ellenbogen, um Alec besser zu betrachten. Sein Outfit war anders, als Alec es in Erinnerung hatte. Seine Hose war blau gewesen, nun war sie schwarz, kombiniert mit einem roten Hemd und schwarzer Weste.

Lange wartete Alec darauf, dass Magnus weitererzählte, doch er schwieg, obwohl er sich vermutlich denken konnte, was Alecs nächste Frage war. Doch Alec blieb stumm. Wortlos schlug er die Bettdecke zurück; auch er trug ein anderes Hemd. Ein altes weißes T-Shirt, wobei er nicht wusste, ob es sein eigenes war oder Magnus'. Seine Jeans waren verschwunden – nur in Unterhose lag er auf der weichen Matratze.

Ohne zu überlegen ob er sein T-Shirt an und erschrak beinahe zu Tode; seine komplette linke Hüfte war blau, lila und grün verfärbt. Es war kein einfaches Hämatom, was man sich gelegentlich zuzog. Seine Haut hatte eine komplett andere Farbe eingenommen. Die Verfärbung zog sich herunter bis unter seinen Bauchnabel, sodass er seine Unterhose prüfend zur Seite schob. Auch noch weit unter dem Bauchnabel konnte er die ungesunden Farben klar erkennen.

»Dein Becken war quasi vollkommen zertrümmert; keine Iratze hätte diesen Schaden lindern können«, sprach Magnus endlich. Alec konnte seinen Blick nicht von seinem Unterleib wenden. Es sah aus, wie es sich angefühlt hatte.

»Aber Cat hat...«, er brach ab, da er die richtigen Worte nicht finden konnte.

»Catarina hat es durch Magie wieder zusammengesetzt, ja«, bestätigte Magnus und Alec nickte nachdenklich. Dieser Akt schien sie vermutlich viel Kraft gekostet zu haben. Erneut versuchte Alec seine Beine zu bewegen – sie anzuwinkeln oder leicht hin und her zu drehen. Ein stechender Schmerz erwartete ihn und er zog scharf die Luft ein.

»Warum tut es noch weh? Sollte die Iratze nicht mittlerweile wirken?«, sprach er verwundert, danach schaute er zu Magnus, der besorgt auf Alecs Hüfte schaute. »Warte ab, bis die Schwellung nachlässt«, sagte er ruhig, als ob er sich sicher war, dass dies der Grund war. Alec wusste genau, dass es auch für Magnus unerklärlich war, doch er hakte nicht weiter nach. Er konnte schließlich froh sein, dass er seine Beine überhaupt noch bewegen konnte und dass seine Wirbelsäule anscheinend verschont geblieben war.

Fürsorglich legte Magnus die Decke wieder über Alecs Körper, der sich daraufhin in die Kissen sinken ließ. Magnus schien ungewohnt anhänglich und legte sich dicht an Alec, danach platzierte er seinen Kopf auf der Brust des Shadowhunters, der einen Arm um ihn legte. Alec hatte Magnus' Blick gesehen, er wusste genau, was er dachte. Die traurigen Augen, die ins Leere starrten, während er darüber nachdachte, wie ein Leben wohl ohne Alec ausschauen würde, nur um danach mit der Realisation konfrontiert zu werden, dass er eines Tages ohne Alec leben musste.

Seufzend ließ Alec seine Finger durch die dunklen Haare des Warlocks gleiten. Irgendwann hatten er und Magnus damals aufgehört über das Thema Unsterblichkeit zu reden. Magnus wusste, was Alec von der Idee hielt und bis heute hatten sich die Ansichten des Shadowhunters nicht geändert. Obwohl sie nicht mehr darüber redeten, dachte Alec noch viel darüber nach – wie es sein würde, seinen Mann eines Tages zurückzulassen.

Magnus war stark; er hatte schon so viele Menschen überlebt, die er geliebt hatte, doch Alec machte sich Sorgen, dass sein Tod eine zu große Hürde sein würde. Er konnte den Gedanken nicht ertragen, dass Magnus in tiefer Trauer versinken und sich am Ende selbst etwas antun würde. Dies waren Gedanken, die Alec nachts den Schlaf raubten, vor allem nach Tagen wie diesen.

In solchen Momenten hinterfragte er jede seiner Entscheidungen. Am liebsten würde er Magnus jetzt und hier auf Händen und Füßen anbetteln, einen Weg zu finden, wie auch er Unsterblichkeit erlangen könnte, doch Alec wusste, wie schnell sich seine Meinung änderte. Es waren vor allem Rafael und Charlotte, die ihn von dieser Entscheidung abhielten. Er konnte sich nicht vorstellen wie es sein würde, seine eigenen Kinder zu überlegen, doch dann dachte er erneut an Magnus, der all dies noch vor sich hatte. War es egoistisch so zu denken? Magnus musste so viele Verluste ertragen und Alec hatte die Chance einen der größten Verluste zu vermeiden.

»Danke, Magnus«, flüsterte Alec, »Dass du gekommen bist«, fügte er noch hinzu. Magnus brummte zufrieden.

»Ich würde alles für dich tun, du dummer Nephilim«, erwiderte Magnus im Halbschlaf. Unbewusst drückte Alec den Körper seines Mannes dichter an sich. Ich würde auch alles für dich tun, wollte er sagen, doch das wäre eine Lüge. Er spürte den Knoten, der sich langsam in seinem Hals bildete, und die Tränen, die hinter seinen Augenlidern brannten.

Lange starrte er einfach nur an die Decke und spürte, wie eine Träne aus seinem Augenwinkel über seine Schläfe, danach über sein Ohr lief. Er wollte Magnus nicht verletzten, doch eines Tages würde der Tag kommen, an dem Magnus erneut alleine war. Nicht einmal annähernd konnte er sich selbst in dieser Situation vorstellen.

Magnus atmete gleichmäßig und Alec kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er eingeschlafen war. Beschützend drückte er seinen Mann näher an sich und vergrub sein Gesicht in den Haaren des Warlocks. Er roch nach Sandelholz und Zuhause, woraufhin Alec seinen Griff um ihn verstärkte. Seine andere Hand legte er an Magnus' Wange und strich sanft über seinen Wangenknochen – vorsichtig, damit er ihn nicht weckte.

Was hatte er getan, um jemanden so wundervolles wie Magnus zu verdienen?

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Wie sich Alec seine Verletzung zugezogen hatte :-)
Ich hoffe, es war durch den Zeitsprung vom letzten Kapitel nicht all zu verwirrend.

(26.02.2019)

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