24. Blutsverwandte Part I
Blutsverwandte
»Wie war das Training?«, fragte Rafael, sein Handy an sein Ohr gepresst. Er hatte seine Füße auf dem Schreibtisch vor ihm abgelegt und lehnte sich so weit im Stuhl zurück, dass dieser womöglich bald nachgab. Während des Telefonats war eine peinliche Stille entstanden, die er nun versuchte mit dieser Frage zu brechen.
»Ganz gut«, seine Gesprächspartnerin zögerte, »John war schon wieder viel zu sehr von sich selbst überzeugt und hat mich natürlich noch eine Stunde nach dem Kampf damit aufgezogen, dass ich verloren habe«, seufzte sie und Rafael konnte bildlich vor sich sehen, wie sie ihre hübschen braunen Augen verdrehte.
»Du warst bestimmt besser«, oh, Gott, was? Er biss seine Zähne zusammen und hätte seinen Kopf am liebsten auf die Tischplatte gehauen. Immer wenn er mit Eleanore telefonierte rutschten ihm die peinlichsten Wörter über die Lippen. Auch in ihrer Gegenwart lief er bloß rot an wie ein Zwölfjähriger und konnte keine fehlerfreien Sätze mehr herausbringen. Jedes mal bereute er jedes ihrer Gespräche.
»Er hat gewonnen, Rafe. Natürlich war er besser«, sie lachte herzlich, was Rafaels Bauch kribbeln ließ. »Ja, ich-... Du gewinnst bestimmt beim nächsten mal«, versicherte er ihr und war froh, dass sie sein Gesicht in diesem Moment nicht sehen konnte. Er spürte, wie das Blut in seine Wangen schoss und wie er anfing zu schwitzen.
»Wie ist es so echte Dämonen zu jagen? Ich werde es nicht aushalten noch ein weiteres Jahr zu warten, bis sie mich endlich außerhalb des Trainingsraums kämpfen lassen«, wollte sie wissen und seufzte erneut, was Rafael schmunzeln ließ. Eleanore würde erst nächstes Jahr achtzehn werden, was bedeutete, dass sie noch auf keine Dämonenjagd durfte anders als Rafael, der bereits seit einem halben Jahr volljährig war.
»Du verpasst nichts, keine Sorge«, versuchte er sie zu beruhigen, was eigentlich sogar der Wahrheit entsprach. Sein erster Einsatz war die Hölle gewesen, vor allem weil Jace dabei gewesen war und jeden Schritt seines Neffen genau beobachtet hatte. Rafael war so nervös gewesen, dass er bereits Nächte davor kein Auge hatte zudrücken können, doch das erzählte er Eleanore nicht, schließlich war sie um einiges tougher als er. Immer noch verstand er die ganze Aufregung um das Dämonenjagen nicht, schließlich machte die ganze Sache noch nicht einmal wirklich Spaß. Wem gefiel es schon stundenlang durch irgendwelche Wälder zu laufen und am Ende des Tages sein Leben aufs Spiel zu setzten?
Wieder entstand eine unangenehme Stille, die Rafael versuchte mit einem gekünstelten Räuspern zu überspielen. »Ich würde gerne wieder mit dir trainieren«, sprach Eleanore irgendwann, worauf Rafael seine Augen weit aufriss. Sag nichts peinliches, sag nichts peinliches, sag nichts pei-
»Ja!«, sprach er viel zu laut und hörte Eleanore kichern. »Oder wir könnten uns außerhalb des Trainingsraums treffen so wie gestern Abend«, ihre Stimme verfiel in ein geheimnisvolles Flüstern und Rafaels Mundwinkel hoben sich automatisch. Den gestrigen Abend hatte er in ihrem Zimmer verbracht, natürlich war nicht viel passiert, sie hatten nur geredet. Als Rafael jedoch abends im Bett gelegen hatte, hatte er sich gewünscht, dass tatsächlich mehr passiert wäre und hatte sich sofort aufgrund dieses Gedankens geschämt. Der einzige körperliche Kontakt, den es gestern gegeben hatte, war der kurze Abschiedskuss von Eleanore gewesen, den er immer noch auf seiner Wange spüren konnte.
»Ja, gerne-«, gerade wollte er noch etwas hinzufügen, als er ein leises Knarren hinter seinem Rücken hörte. Erschrocken drehte er sich in seinem Schreibtischstuhl um und hob seine Füße zurück auf den Boden, doch er konnte nichts erkennen. Irritiert legte er seine Stirn in Falten.
»Rafe?«, hakte Eleanore am anderen Ende der Leitung fragend nach. Gerade als sich Rafael wieder umdrehte, nahm er ein weiteres Geräusch wahr, das ihm allzu bekannt vorkam. Genervt verdrehte er seine Augen und erhob sich von seinem Stuhl, bevor er zu seiner Zimmertür eilte und diese, so schnell er konnte, aufzog.
»Alles o.k., Rafael?«, dumpf hörte er Eleanores Stimme, obwohl er sein Handy von seinem Ohr weghielt und es beschützend gegen seine Brust drückte. Vor ihm stand Charlotte, die ihn geschockt musterte. Es war nicht das erste mal, dass er seine Cousine vor seiner Tür gefunden hatte. »Charlotte, hau ab!«, zischte er, doch das Grinsen in dem Gesicht des Mädchens verriet, dass sie so schnell nirgendwo hingehen würde.
»Ellie, ich muss auflegen«, er hielt sein Handy wieder an sein Ohr und versuchte mit einer Hand Charlies Arm zu greifen, um sie daran zu hindern in sein Zimmer zu gehen.
»Ah, nervige kleine Schwestern«, hörte sie sofort heraus. Sie selber hatte eine Schwester, die genau in Charlottes Alter war, außerdem unterbrach Charlie sein Telefonat nicht zum ersten mal. »Ja, mehr als nervig«, sprach er und brachte noch eine kurze Verabschiedung heraus, bevor er auflegte und das Handy in seine Hosentasche steckte.
»Charlotte, geh!«, zischte er erneut und zog sie an ihrem Arm aus seinem Zimmer. Mit ihrer Faust schlug sie auf seine Hand und versuchte sich aus seinem Griff zu befreien. »Lass mich los oder ich schreie«, erwiderte sie, worauf Rafael seine Augen verdrehte.
»Und? Dann sage ich Papa, dass du gelauscht hast«, manchmal fragte er sich, ob alle Zwölfjährigen so nervig waren oder ob Charlie dabei eine große Ausnahme war. Er konnte nie in Ruhe telefonieren, ohne dass die kleine Nervensäge ihr Ohr an die Zimmertür hielt. »Dann sage ich Papa, dass du eine Freundin hast«, konterte sie viel zu laut. Mahnend sah er sie an und zog sie ruckartig in sein Zimmer, danach schloss er die Tür.
»Wie viel damit du die Klappe hältst?«, wenn seine Eltern von Eleanore erfahren würden, würden sie nie wieder locker lassen, so viel stand fest. Seine Ausreden, warum er abends zum Essen wegblieb, wurden mittlerweile immer besser, das konnte er nicht einfach so hinschmeißen.
Charlotte grinste, »Du machst für eine Woche meine Hausaufgaben«, verlangte sie. »Hast du sie noch alle?«, genervt schlug er gegen ihren Kopf, aber nur leicht, da er wusste, wie schnell sie weinte, obwohl es noch nicht einmal wehtat.
»MAG-«
»O.k., o.k.«, schnell hielt er ihren Mund zu, bevor sie den Namen seines Vaters zu Ende aussprechen konnte. Siegessicher lächelte sie und blieb stumm, als er von ihr abließ. Er hoffte, dass sein Vater ihren unterbrochenen Schrei nicht gehört hatte, denn wenn es um Charlotte ging, waren seine Eltern normalerweise innerhalb einer Millisekunde zur Stelle.
Seine Cousine machte es sich viel zu gemütlich, als sie sich auf sein Bett schwang, ihren Kopf über die Kante hängen ließ und ihre Füße in die Luft hob. Ihre langen roten Haare berührten den Zimmerboden und mit einem Fuß berührte sie unvorsichtig den großen Kalender, der über dem Bett hing. Rafael wusste, dass Charlie noch weitere Tricks auf Lager hatte, wenn es um Bestechung ging, weshalb er schwieg und sich jegliche Kommentare verkniff.
»War das Eleanore?«, hakte sie irgendwann nach, als ihr Kopf bereits fast die Farbe ihrer Haare angenommen hatte. Rafael ließ sich zurück auf seinen Schreibtischstuhl sinken und holte sein Handy aus seiner Hosentasche. Sein Herz setzte aus, als er die Nachricht von Eleanore auf seinem Bildschirm lesen konnte.
Wie wär's mit Morgenabend?
Er beschloss ihr zurückzuschreiben, sobald er das kleine Monster auf seinem Bett aus dem Zimmer gejagt hatte.
»Was geht dich das an?«, giftete er zu Charlotte, die sich endlich wieder aufrichtete und somit langsam wieder eine gesunde Gesichtsfarbe bekam. »Kannst du nicht Max nerven?«, bettelte er, doch Charlotte schüttelte schmunzelnd den Kopf. Zu Rafaels Überraschung gab sie kein weiteres Wort von sich, sondern griff nach einem von seinen Comics auf dem Nachttisch, bevor sie es vor sich aufklappte. Verwirrt legte der ältere Shadowhunter seine Stirn in Falten und widmete sich wieder seinem Handy. Alles war gut, solange Charlotte ihren Mund hielt.
Hört sich gut an
...
Hört sich gut an :-)
...
Ich denke, da habe ich nichts vor
...
o.k.
...
Jede Nachricht löschte er und schrieb sie neu. Er hatte keine Ahnung, was er antworten sollte. Nach langem Überlegen entschied er sich für die erste Wahl und schickte die Nachricht ab.
»Tat es sehr weh?«, fragte Charlotte auf einmal, worauf Rafael irritiert aufschaute. »Was?«, erwiderte er sofort und sah, wie Charlie ihre Augen verdrehte. »Die Rune«, half sie ihm auf die Sprünge und deutete in die Richtung von Rafaels linken Hand, in der sein Handy ruhte. Auf seinem Handrücken war die permanente Voyance-Rune gezeichnet, die jeder Shadowhunter als erste Rune bei seiner Runen-Zeremonie bekam.
»Nein, ich hab's dir schon zehnmal gesagt, Charlie«, antwortete er genervt und drehte sich von seiner Cousine weg, die mit seiner Antwort immer noch nicht zufrieden zu sein schien. Ihre Zeremonie war in einer Woche und sie redete jeden Tag davon, was Rafael auf einer Seite nachvollziehen konnte, schließlich war auch er mehr als aufgeregt vor seiner Zeremonie gewesen. Auf der anderen Seite hatte er definitiv wichtigere Dinge im Kopf, als sich nun mit seiner Cousine über ihre erste Rune zu unterhalten.
»Warum kann man sich bei der Zeremonie die Person an seiner Seite nicht aussuchen?«, aufgrund dieser Frage legte Rafael seine Stirn in Falten. »Warum willst du es dir aussuchen? Es ist immer der Vater, das ist das Ritual«, erklärte er und erinnerte sich an seine eigene Zeremonie, an der Alec an seiner Seite gestanden hatte und stolz auf ihn heruntergeschaut hatte. Ein Lächeln formte sich bei dieser Erinnerung auf seinen Lippen.
»Vielleicht will ich nicht, dass Dad meine Begleitperson ist«, sprach sie kleinlaut. »Wieso? Jace ist dein Vater; natürlich wird er bei der Zeremonie an deiner Seite sein«, er hörte nur halbherzig zu, da er mit Eleanore schrieb. Ihre letzte Nachricht beinhaltete sogar ein kleines Herzchen, was Rafaels Herz schneller schlagen ließ.
»Ich will, dass Alec meine Begleitperson ist«, auf einmal wurde Rafael aufmerksam. Ruckartig wendete er seinen Blick von seinem Handy ab und schaute seine Cousine an, die auf dem Rücken lag und starr an die Decke schaute. »Wieso? Er ist nicht dein Vater«, stellte Rafael nüchtern fest und verschränkte seine Arme vor der Brust. Charlotte schwieg für eine lange Zeit, in der Rafael sie einfach nur ansah.
»Die Zeremonie ist nur ganz kurz und Dad steht eh daneben, also wo liegt das Problem?«, versuchte er sie aufzumuntern. Tatsächlich war das ganze Ritual schneller vorbei, als man dachte und auch der fiese Schmerz der Rune verblasste fast sofort. Er hatte damals nie darüber nachgedacht, wer ihn bei seiner Zeremonie begleitete, da es für ihn immer selbstverständlich gewesen war. Alec war sein Vater und obwohl er davon sogar zwei hatte, war er der einzige Shadowhunter gewesen, was Magnus als Begleitperson ausgeschlossen hatte.
Charlotte zuckte mit den Schultern, »Ich wünschte einfach, es wäre Alec«, sagte sie ohne Begründung.
»Er ist aber nicht dein Vater«
»Vielleicht wünschte ich, dass er es wäre«, giftete sie zurück, doch Rafael konnte sehen, dass sie ihre Worte sofort bereute. Leise seufzte er; er wusste, dass seine Familie ziemlich kompliziert war und mit der Zeit hatte er aufgehört sich zu erklären. Was er neuen Freunden also erzählte war, dass er zwei Elternteile, einen Bruder und eine Schwester hatte. So erhielt er nie irgendwelche dummen Nachfragen. Mit der Zeit hatte er auch viel von Charlottes Beziehung zu ihren Eltern mitbekommen und mittlerweile war er sogar in einem Alter, in dem Magnus und Alec vor seinen Augen über dieses Thema diskutierten.
Bevor Rafael etwas erwidern konnte, erhob sich Charlotte aus seinem Bett und rannte aus der Tür, ohne ihm einen weiteren Blick zuzuwerfen.
~*~
Alec war erst spät aus dem Institut zurückgekehrt, was in den letzten Jahren eher selten passiert war. Vollkommen verausgabt ließ er sich auf der Couch nieder und wartete auf Magnus, der im Badezimmer zu sein schien, da er die Dusche laufen hörte. Seufzend ließ er sich in die weichen Kissen sinken und griff nach dem Buch, was er vor einigen Wochen angefangen hatte zu lesen. Schon wenig später leistete Chairman ihm Gesellschaft, der zu ihm aufs Sofa sprang, sich jedoch so weit wie möglich von ihm entfernt niederließ. Vielleicht war es gut so, schließlich wusste er wie schwer es war die Katzenhaare aus seiner schwarzen Kleidung zu bürsten.
Er war so vertieft in sein Buch, dass er nicht gemerkt hatte, dass jemand den Raum betrat. Ganz leise hatte sich die Person angenähert und war hinter Alec stehen geblieben, bevor sich zwei Arme um den Shadowhunter gelegt und ihn fest gedrückt hatten. Erschrocken zuckte Alec zusammen und griff aus Reflex nach einem der Arme, bevor er erleichtert ausatmete, als er Charlotte erkannte, die ihn fest umarmte.
»Charlie«, sprach Alec erfreut, fragte sich jedoch, warum das kleine Mädchen noch nicht im Bett war. Der Geste nach zu beurteilen konnte er nur sie sein, da seine Jungs nicht einmal auf die Idee kommen würden ihm körperliche Zuneigung zu zeigen. Vermutlich lag es einfach nur daran, dass Charlie ein Mädchen war und dementsprechend sensibler und feinfühliger. Oft vermisste er die Momente mit seinen Söhnen, in denen sie damals zu ihm ins Bett gekrabbelt waren oder eine einfache Umarmung gewollt hatten. Die Idee, dass sein achtzehnjähriger Sohn neben ihm im Bett schlief, war zwar nicht das, was er wollte, trotzdem sehnte er sich nach den alten Zeiten.
Er genoss also Charlottes Zuwendung umso mehr, da er wusste, dass dort kein anderes Kind mehr nach ihr sein würde, das diese Art von Aufmerksamkeit verlangte. Sie legte ihren Kopf an Alecs, sodass lange rote Haare über seine Schulter fielen. Alec schmunzelte und widmete sich wieder seinem Buch, da seine Nichte keine Anstalten machte sich aus dieser Position zu lösen. Eine Hand ruhte immer noch auf ihrem Arm, während er mit der anderen umständlich versuchte das schwere Buch aufrecht zu halten. Auch Umblättern erwies sich als äußerst beschwerlich.
»Was ist los?«, hakte er irgendwann prüfend nach, als seine Hand zu müde wurde, um das Buch weiter aufrecht zu halten. Er ließ es in seinen Schoß fallen und versuchte seinen Kopf so zu drehen, dass er Charlotte betrachten konnte, doch er konnte nur ihre roten Haare erkennen. Langsam richtete sie sich auf und ließ von ihm ab, bevor sie über die Lehne des Sofas kletterte und sich an Alecs rechte Seite setzte. Sofort legte dieser einen Arm um sie und drückte sie fest an sich.
»Wegen der Runen-Zeremonie«, begann sie und zog ihre Knie an sich, sodass sie ihre nackten Füße auf das Sofa legte. »Was ist damit?«, fragte Alec verblüfft und zog seine Augenbrauen in die Höhe. Charlotte redete bereits seit Wochen jeden Tag davon, doch anders als die letzten Tage wirkte sie nun eher unsicher. Sie trug bereits ihr Nachthemd, das sie über ihre Knie zog, bis hin zu ihren Füßen. Alec schmunzelte bei diesem Anblick.
»Wegen Dad«, erklärte sie weiter. Zögernd klappte Alec sein Buch zu und legte es neben sich, danach schaute er wieder zu Charlotte. »Muss er meine Begleitperson bei der Zeremonie sein?«, fragte sie kleinlaut und vermied Blickkontakt mit Alec, der sie vollkommen schockiert ansah. Zuerst fragte er sich, ob er sie richtig verstanden hatte, danach konnte er spüren, wie sämtliche Farbe aus seinem Gesicht wich.
»Wer soll es sonst sein?«, er wusste die Antwort, hakte aber trotzdem nach. »Du«, zum ersten mal schaute sie wieder in seine Augen, das Gesicht hinter ihren Knien versteckt, die Arme um ihre Beine geschlungen. Lautstark seufzte Alec; es war etwas, was er schon so lange befürchtet hatte. Nicht der Fakt, dass sie ihn als Begleitperson haben wollte, sondern der Fakt, dass sie ihn über Jace stellte, dass er für sie wichtiger wurde als ihr eigener Vater. Sein Parabatai.
»Charlie, ich- «, lange rang er mit den Worten und versuchte die richtigen zu finden. »Es ist ein Ritual. Bei der Zeremonie ist die Begleitperson immer der Vater und Jace- «, er brach ab, als er die Tränen in Charlottes großen grünen Augen sah. Hart schluckte er; jedes mal, wenn er die Kinder weinen sah, musste er mit seinen eigenen Tränen kämpfen. »Ich bin dein Onkel, Charlie«, hauchte er verzweifelt, als ob es ihr nicht schon bewusst gewesen war.
»Ich will aber nicht, dass Jace meine Begleitperson ist«, ruckartig erhob sie sich, als die erste Träne über ihre Wange rollte. Alec versuchte sie bei sich zu halten und griff vorsichtig nach ihrem Arm, doch Charlie wich seiner Berührung aus. »Ich will keine Zeremonie, ich will keine Begleitperson, ich will gar keine Runen«, weinte sie und griff nach dem weißen Sofakissen, mit dem sie Alec abwarf, der versuchte sie dazu zu bringen sich wieder hinzusetzen. Geschickt wehrte er das Kissen ab und schaute seine Nichte mitleidig an, der unzählige Tränen über ihr hübsches Gesicht liefen.
»Ich will nicht, dass du mein Onkel bist und ich will nicht, dass Jace mein Vater ist«, zählte sie weiter auf, was Alec das Blut in den Adern gefrieren ließ. Es war die letzten zwölf Jahre immer seine Befürchtung gewesen, doch er hatte sich nie getraut es laut auszusprechen, so wie Charlotte es nun getan hatte. Er wusste, wie viel Charlotte Jace bedeutete und wusste, wie sehr sein Parabatai sie liebte. Alec hatte schon immer seine Befürchtungen gehabt, dass Jace etwas eigene Art Menschen zu lieben irgendwann ein Problem für Charlie sein würde, schließlich hatten Magnus und Alec das kleine Mädchen großgezogen.
Alec war vollkommen sprachlos und wusste nicht, was er erwidern sollte, weshalb er für einen langen Moment schwieg. »Charlie...«, zögernd erhob er sich von dem Sofa, doch Charlotte wich ihm aus. Wütend musterte sie ihn, bis sie ihm den Rücken zuwandte und aus dem Wohnzimmer stürmen wollte.
»Dein Vater liebt dich so sehr- «, fing Alec erneut an, doch es hatte keinen Sinn. Charlotte war bereits fast aus der Tür.
»Ich ihn aber nicht!«, rief sie wütend zurück und stieß dabei fast mit Magnus zusammen, der gerade den Raum betrat. Überrascht schossen seine Augenbrauen in die Höhe, danach schaute er Charlotte nach, bis Alec einen lauten Knall einer Zimmertür hören konnte. Magnus' Blick landete auf Alec und er trat näher auf den Shadowhunter zu, der seine Augen schloss und tief durchatmete.
Sie meint es nicht so
War alles, an das Alec denken konnte, aber warum sollte sie es nicht so meinen? Noch nie hatte sie eine gute Beziehung mit ihrem Vater gehabt und wenn Alec sich vorstellte, zwei Onkel wie ihn und Magnus in seiner Kindheit gehabt zu haben, hätte er diese auch jeder Zeit über seinen eigenen Vater gestellt. Er vergrub sein Gesicht in seinen Händen und setzte sich zurück auf das Sofa, bevor er Magnus hörte, der langsam näher kam.
»Worum ging es?«, hakte er nach und setzte sich neben Alec. »Jace«, antwortete er und lehnte sich zurück.
»Das habe ich mitbekommen«, bitter lachte Magnus und legte eine Hand auf Alecs Bein. »Sie möchte nicht, dass er bei der Zeremonie ihre Begleitperson ist«, erklärte er knapp und sah, wie Magnus nachdenklich nickte. »Wie sie über Jace fühlt ist nicht deine Schuld, Alexander. Du hast sie ihm nicht weggenommen, wenn es das ist, was du denkst«, er drehte seinen Kopf in Alecs Richtung und ihre Blicke trafen sich.
»Sie möchte, dass ich ihre Begleitperson bin. Sie hat gesagt, dass sie wünschte, Jace wäre nicht ihr Vater«, erklärte er weiter, da er das Gefühl hatte, Magnus würde den Ernst der Lage nicht erkennen. »Kannst du es ihr verübeln?«, fragte Magnus, doch gerade das war etwas, was Alec nicht hören wollte. Schon als Charlotte ein Baby gewesen war, hatte er Angst gehabt, dass er sich zu sehr an sie binden würde. Er hatte Sorge gehabt, dass er sie irgendwann als seine eigene Tochter ansehen würde, Charlotte ihn jedoch nur als einen Onkel. Er war immer davon ausgegangen, dass es so enden würde, weshalb ihm nie in den Sinn gekommen war, dass es auch andersherum laufen konnte.
»Man kann nichts daran ändern; Jace ist ihr Vater, Clary ist ihre Mutter und wir sind ihre Onkel, Magnus. Sie ist nicht unsere Tochter«, versuchte er wieder, war jedoch irritiert aufgrund von Magnus' Gesichtsausdruck, der Alec nicht zu verstehen schien.
»Und was macht Rafael und Max zu deinen Söhnen? Vielleicht hast du es schon wieder vergessen, aber die beiden sind nicht unsere leiblichen Kinder. Was ist wenn ihre biologischen Eltern vor unserer Tür stehen würden. Hättest ihnen dann auch erklärt, dass du nicht ihre Begleitperson sein kannst, sondern ein wildfremder Mann, nur weil er ihr Vater ist?«, sprach Magnus und legte seine Stirn in Falten.
»Das ist etwas anderes! Jace ist kein wildfremder Mann. Sie ist mit ihm aufgewachsen, genau wie mit uns. Er hat sich ebenfalls um sie- «
»Wage es nicht diesen Satz zu Ende zu sprechen«, wütend funkelte Magnus ihn an, weshalb Alec geschockt innehielt. Er hatte sich kerzengerade auf dem Sofa aufgerichtet und war ein paar Zentimeter von Alec weggerutscht. »Ich weiß, dass Jace dein Parabatai ist und du deswegen niemals ein schlechtes Wort über ihn verlieren würdest und ich respektiere das, aber wenn es um Charlotte geht, werde ich mich nicht länger zurückhalten«
»Wie du über deine Nichte fühlst, kann ich gewiss nicht beurteilen, das musst du für dich alleine wissen. Ich hingegen kann dir sagen, dass ich sie genauso sehr liebe wie Rafael und Max und für mich gibt es dabei nicht den geringsten Unterschied. Keiner von ihnen ist mein biologisches Kind aber ich habe sie alle aufgezogen und Charlotte darunter länger als alle anderen. Was definiert einen Vater? Dass man ein Kind zeugen kann? Bin ich also kein Vater?«, Magnus redete sich immer weiter in Rage und Alec wollte ihn stoppen, doch für den Warlock gab es keinen Halt mehr.
»Sag du es mir, Alexander. Ist ein Vater jemand, der seine Arbeit über das Wohlbefinden seines Kindes stellt oder ist es eher jemand, der sein Kind über alles andere auf der Welt stellt? Wir haben uns immer um Charlotte gekümmert. Wir haben ihr das Laufen und Sprechen beigebracht, wir haben sie mit in den Urlaub genommen, wir haben ihr das Fahrradfahren und Schwimmen beigebracht, wir haben ihr bei den Hausaufgaben geholfen und wir haben uns freigenommen, wenn sie krank war. Sie kam in unser Bett, wenn sie Albträume hatte und sie wollte von uns getröstet werden, wenn sie geweint hat. Wir haben sie erzogen. Was hat Jace getan? Er hat sie höchstens dreimal im Monat gesehen. Du hast recht; er ist nicht wildfremd, aber immer noch fremd«, tief atmete er durch, als er seine Rede beendet hatte.
Alec konnte nur in Magnus' Gesicht starren. Natürlich hatte er recht, all das war nicht neu für Alec, jedoch hatte er die Wahrheit verdrängt. Jace war sein Bruder, sein Parabatai. »Es ist nur eine Zeremonie«, stellte Alec klar. Es waren vielleicht wenige Minuten, außerdem würde Alec die ganze Zeit über neben Charlotte stehen.
»Es geht hier schon längst nicht mehr um die Zeremonie, Alec. Es geht um dich; wie du über Jace denkst und wie du über deine Kinder denkst«, übertrieben verdrehte Alec die Augen und verschränkte seine Arme vor der Brust. »Liebst du sie genauso wie Rafael und Max?«, fragte er schließlich, wovor Alec sich gefürchtet hatte. Natürlich liebte er Charlotte wie seine eigne Tochter. Er hatte sie schon wie sein eigenes Kind geliebt, als sie in Clarys Bauch gegen seine Hand getreten hatte und umso mehr, als er sie zum ersten mal in seinen Armen gehalten hatte. Er hatte sich jedoch immer davor gedrückt diese Worte laut auszusprechen. Vermutlich hatte er etwas zu lange gezögert, denn Magnus zog seine Augenbrauen überrascht in die Höhe.
»Natürlich liebe ich sie so sehr wie Rafael und Max«, sprach Alec schließlich und war erschrocken wie einfach die Wörter über seine Lippen glitten. Er dachte an das kleine Baby in seinen Armen, dass ihn mit großen – damals noch blauen - Augen angesehen hatte. Auch wenn sich Charlotte nicht mehr daran erinnerte, Alec war das erste gewesen, was sie nach ihrer Geburt gesehen hatte. Auf seinen Lippen erschien ein schmales Lächeln. »Natürlich ist sie meine Tochter«, fügte er hinzu und sah, dass sich auch Magnus' Mundwinkel hoben.
»Dann geh ihr nach und sag ihr das«, mit dem Finger deutete er zur Tür, aus der Charlotte eben verschwunden war, »Dieses Mädchen fragt sich wahrscheinlich schon seit zwölf Jahren, warum sie bei ihren Onkeln aufgewachsen ist, während ihre Eltern jede Möglichkeit dazu gehabt haben. Also geh zu ihr hin und sei ein guter Vater oder ich gehe eigenständig zu ihr«, ohne Widerworte stand Alec auf und warf noch einen letzten Blick zu Magnus, der ihn erwartungsvoll ansah, bevor er sich auf den Weg zu Charlottes Zimmer machte.
Vor der Zimmertür angekommen hörte er leise Stimmen aus dem Inneren des Raumes, weshalb er für einen Moment zögerte. Ganz vorsichtig öffnete er die Tür und erkannte Max, Rafael und Charlotte, die zusammen auf Charlies Bett saßen. Rafael hatte seine Arme fest um seine Cousine gelegt, die in der Mitte der beiden Jungs saß. Max saß etwas unbeholfen daneben, während Charlotte bitterlich weinte. Alecs Herz zog sich schmerzhaft zusammen, vor allem weil er wusste, dass er der Grund für ihren Zustand war.
»Keine Sorge, Charlie, wir sind für immer eine Familie, egal ob wir deine Cousins, Geschwister oder Ur-Ur-Ur-Groß-Cousins dritten Grads sind«, versuchte Rafael sie zu beruhigen und strich sanft durch ihr langes Haar. »Im Grunde sind wir alle sowieso nicht verwandt, also wen kümmert's?«, gleichgültig zuckte Max mit den Schultern und Alec konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.
»Falls es dich tröstet; ich habe immer allen erzählt, dass du meine Schwester bist«, fügte Max noch hinzu und Alec ging das Herz bei seinen Worten auf. Max war normalerweise alles andere als emotional und auch sein Einfühlungsvermögen war ziemlich fraglich, weshalb seine Worte Alec überraschten.
»Ja, sogar Eleanore denkt, dass du meine Schwester bist«, stimmte Rafael mit ein und Alec fragte sich, wer genau diese Eleanore war, doch Charlotte schienen diese Worte wirklich zu trösten. Natürlich waren Rafael und Max ihre Brüder, es gab schließlich keinen Unterschied zwischen Max' und Rafaels Beziehung und Max' und Charlottes Beziehung. In beiden Fällen hatten Magnus und Alec einfach ein weiteres Kind mit zu Max nach Hause gebracht, das ab diesem Zeitpunkt bei ihnen gewohnt hatte. Warum sollte Charlotte also nicht Max' Schwester sein?
Da Charlotte sich bereits etwas beruhigt hatte, hielt Alec es für einen passenden Zeitpunkt nun den Raum zu betreten. Alle drei Kinder schauten zu ihm auf, keiner von ihnen schien wirklich erfreut über sein Erscheinen zu sein. Charlotte mied seinen Augenkontakt, während ihm seine Söhne vielsagend in die Augen schauten. Leise seufzte Alec. Das hatte er verdient.
Rafael war der erste, der sich erhob. Etwas unsanft zog er seinen Bruder mit sich, der leise protestierte, als beide Brüder den Raum verließen und Alec mit Charlotte zurückließen. Charlotte zog ihre Beine dicht an ihren Körper und würdigte Alec keines Blickes, selbst als der Shadowhunter sich zu ihr auf ihr Bett setzte, starrte sie stur auf den Zimmerboden.
»Es tut mir leid, Charlotte. Ich habe einige Dinge gesagt, die ich nicht hätte sagen sollen und die ich auch nicht so gemeint habe«, fing er an, was von Charlottes Seite aus jedoch immer noch keine Reaktion auslöste. »Ich hatte Angst, dass ich Jace auf irgendeine Art verletzen würde, wenn ich deine Begleitperson wäre, weil-... Nein, es geht nicht um die Zeremonie, es geht um mich und dich und deinen Vater und Magnus und... um uns alle«, er konnte nicht die richtigen Worte finden, doch wenigstens hatte er Charlottes Aufmerksamkeit. Interessiert schaute sie mit glänzenden Augen zu ihm auf und wartete, bis er fortfuhr.
»Jace hat eine sehr... eigene Art Menschen zu zeigen, was sie ihm bedeuten, und vielleicht liebst du ihn wirklich nicht und das ist o.k., denn wir können nichts für unsere Gefühle, aber er liebt dich so sehr, Charlotte. Als deine Mutter mit dir schwanger war, ist sie zu uns gekommen, da sie sich nicht bereit gefühlt hat ein Kind zu bekommen«, Charlottes Augen wurden weit und Alec realisierte, dass sie diese Geschichte noch nie gehört hatte. »Sie hatte Angst, dass sie dir nicht die Liebe geben könnte, die du verdienst, aber Magnus und ich haben ihr versichert, dass wir es können. Wir haben dich bereits geliebt, als du noch nicht einmal auf der Welt warst, Charlie«
Er musste sich wirklich zusammenreißen nicht auf der Stelle in Tränen auszubrechen. Menschen, die keine Kinder hatten, würden niemals verstehen, was für eine Liebe man für diese empfand. Alec könnte niemals in Worte fassen, was Charlotte, Rafael und Max für ihn bedeuteten.
»Und vielleicht sind ihre Befürchtungen wahr geworden, aber du musst wissen, dass du deinen Eltern niemals egal gewesen bist. Sie haben sich immer um dich gesorgt, nur auf eine andere Art, wie du es vielleicht benötigt hast«, vorsichtig legte er einen Arm um sie und drückte sie an sich. Zu seiner Erleichterung erwiderte sie seine Umarmung und legte ihren Kopf an seine Schulter. »Wie Rafael und Max gesagt haben; es ist vollkommen egal, ob du meine Tochter, Nichte oder Cousine dritten Grades bist; du wirst für immer das wichtigste in meinem Leben sein. Du, Rafael und Max«, versicherte er ihr und legte seine Lippen an ihre Stirn.
Charlottes Arme schlangen sich um Alecs Hals und sein Blick glitt auf ihren kleinen Nachtisch, auf den sie einige Bilderrahmen gestellt hatte. Das größte Bild war von ihr, Rafael und Max; es war schon einige Jahre alt, Charlotte musste zwei oder drei gewesen sein und Alec konnte sich noch genau erinnern, wie unendlich heiß es an diesem Tag gewesen war. Sie hatten eine Woche in Italien verbracht und natürlich war es die heißeste Woche des Jahres gewesen. Mit drei nölenden Kindern war der Urlaub alles andere als erholsam gewesen, doch die Erinnerungen waren trotzdem schön.
Auf dem Bild saßen Rafael, Max und Charlie auf einer Mauer irgendwo in einem kleinen Dorf in Italien. Jeder von ihnen hatte ein Eis in der Hand und keiner schaute wirklich glücklich, was wohl den Temperaturen zu verdanken war. Sie sahen so verschieden aus; Rafael mit den dunkeln Locken und der dunklen Haut, daneben Charlotte mit ihren roten Haaren, die aus dem rosa Hütchen hervorschauten, und ihrer hellen Haut mit den vielen Sommersprossen. Max war durch einen einfachen Zauber von Magnus getarnt, sodass seine sonst blaue Haut eher der von Charlie glich. Mit den hellbraunen Haaren und der hellen Haut war er fast nicht wiederzuerkennen, vor allem weil Alec ihn eher selten in diesem Zustand sah.
Ein weiteres Bild zeigte sie und ihren Cousin Elias, der nur ein Jahr älter als sie war. Die beiden waren schon von Anfang an unzertrennlich gewesen, womit er überhaupt nicht gerechnet hatte. Beide waren auf dem Bild schon etwas älter und Alec schätzte, dass es vielleicht letztes Jahr entstanden war. Elias ähnelte Simon erschreckend sehr und auf den ersten Blick hätte man wirklich Clary und ihren Parabatai auf dem Bild erkennen können, die ebenfalls unzertrennlich waren.
Ein anderes Bild zeigte ihn selbst mit Charlotte, die acht gewesen war, als das Foto aufgenommen wurde. Es war ebenfalls im Urlaub gewesen: 2022 in Spanien. Er wusste es so genau, da er das Foto selbst im Institut auf seinem Schreibtisch stehen hatte, versehen mit Datum und Ort. Beide befanden sich in einem großen Pool der Hotelanlage, Charlotte an Alecs Rücken geklammert, während er am Beckenrand lehnte. Charlie lachte breit in die Kamera, während ihr zwei Schneidezähne gefehlt hatten und ihre Haare wirkten durch das Wasser fast dunkelbraun.
Es gab auch ein Bild von Magnus und ihr, auf dem keiner der beiden in die Kamera schaute. Es war auf der Hochzeit von Alec und Magnus, Charlotte saß in ihrem goldenen Kleidchen auf dem Schoß des Warlocks, der sich eine Grußkarte durchlas, die ihnen wohl geschenkt worden war. Alec schmunzelte bei dem Anblick und realisierte, dass es nie anders gewesen war.
Charlotte war schon immer ihre Tochter gewesen.
__________
(02.09.2018)
Wieder ein Zweiteiler, den ich vor längerer Zeit geschrieben habe. Jetzt passt er endlich zu der Storyline :-)
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