14. Bonuskapitel: Von Wolke Sieben zum Badezimmerboden Part I

Bonuskapitel: Von Wolke Sieben zum Badezimmerboden Part I

'Cause it would take a whole lot of medication
To realize what we used to have,
We don't have it anymore.

Es war Max, der Alec plötzlich zurück in die Realität holte. Der kleine Warlock krabbelte auf Alecs Rücken, während dieser auf dem Bauch mitten auf dem Wohnzimmerboden lag, den Kopf auf seine Arme gelegt, die er vor sich verschränkt hatte. Schmerzhaft stöhnte er, als Max mit seinem kleinen Fuß in seine Rippen trat und sein Knie schließlich an eine Stelle drückte, die Alec sowieso schon Probleme bereitet hatte. Sein Sohn war mit seinen anderthalb Jahren zwar ein echtes Fliegengewicht, trotzdem hatte Alec das Gefühl, als wäre er selber im letzten Jahr zwanzig Jahre gealtert, weshalb ihm selbst diese wenigen Kilos Schwierigkeiten bereiteten.

Allgemein fühlte er sich in letzter Zeit eher schwach und war sich dabei vollkommen sicher, dass es an dem kleinen Warlock lag, der nun an Alecs Haaren zog, worauf dieser leise zischte und seine Zähne zusammenbiss. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann er das letzte Mal im Institut gewesen war. Jace und Izzy hatten sich oft gemeldet, hatten gefragt, wann er wieder mit ihnen patrouillieren würde, doch darauf konnte Alec keine Antwort geben. Im Moment war Aufräumen anstrengender als Dämonenjagen und er wusste noch nicht einmal warum.

Er hatte noch nicht einmal gemerkt, dass er einfach so auf dem Boden eingeschlafen war, doch lange hatte er bestimmt nicht geschlafen. Der letzte richtige Schlaf war schon viel zu lange her gewesen, aber mit einem Kleinkind war Schlafen eine echte Herausforderung. Obwohl Max ein Warlock war und Alec gedacht hatte, dass diese immun gegen jegliche menschliche Krankheiten waren, war der Kleine in den letzten Wochen öfter krank gewesen, als Alec es für möglich gehalten hatte. Im Moment schien sein Sohn wieder munter zu sein, zumindest hörte er ihn leise kichern, während er auf Alecs Rücken herumturnte. Dafür würde das Geschrei wahrscheinlich wieder in der Nacht losgehen, gerade dann wenn Alec langsam in den Schlaf glitt.

Ein Shadowhunter zu sein hatte schon immer bedeutet mit dem wenigsten klarzukommen, was auch Schlaf beinhaltete. Alec war es gewohnt mitten in der Nacht wach zu sein, um nach Dämonen Ausschau zu halten. Einen festen Schlafrhythmus hatte es für ihn nie gegeben. Durch Ausdauer-Runen hatten er und die anderen sich die ganze Nacht wach gehalten, doch nun half selbst diese Rune nichts mehr. Eigentlich hatte er gedacht, dass er an wenig Schlaf gewöhnt war, doch er hatte definitiv falsch gelegen. Er wusste nicht, wie lange ein Mensch ohne Schlaf aushalten konnte, doch er vermutete den neuen Weltrekord knacken zu können. Hier und da schlief er aus Versehen auf der Couch oder auf dem Boden ein, weil er sich nicht mehr wachhalten konnte. Manchmal glaubte er, dass Max vielleicht sogar Spaß daran hatte und extra wartete, bis Alec in den Schlaf driftete, um dann richtig loszulegen.

Da Magnus den ganzen Tag bei Klienten arbeitete, stand Alec in der Nacht auf, um zu dem kleinen Monster zu eilen. Magnus würde seine Kraft am nächsten Tag mehr brauchen als Alec, schließlich musste dieser nur den Haushalt machen. Noch eine Sache, die Alec niemals gedacht hätte; der Haushalt wurde mit einem Kleinkind um das Zehnfache schwerer. Wie sollte er kochen, wenn ein Kind auf seinem Arm zappelte? Absetzten konnte er es nicht, da es sich sonst die Kehle aus dem Leib schrie und Alec hatte schon genug Kopfschmerzen, sodass er dies nicht ertragen konnte.

Seufzend lehnte er sich vorsichtig auf die Seite, sodass Max langsam von seinem Rücken auf den Teppich rutschte, wo Alec versuchte ihn aufzufangen. Der kleine Warlock strahlte über sein ganzes Gesicht, wobei ein paar winzige Zähnchen zum Vorschein kamen. Früher war dieses Lächeln der Auslöser gewesen, dass Alec alles wieder vergessen hatte; die Müdigkeit und die harte Arbeit hatte sich somit ausgezahlt. In diesem Moment erwärmte das Lächeln zwar Alecs Herz, trotzdem spürte er vor allem die Schmerzen in seinem Rücken und den lähmenden Schlafmangel, sodass er sich nicht richtig konzentrieren konnte. Er richtete sich auf und streckte vorsichtig seine Gliedmaßen, wobei sein Rücken ungesund knackte und der Schmerz eher noch schlimmer wurde.

Das Wohnzimmer sah aus wie ein Schlachtfeld; überall lang Spielzeug von Max, mit dem Alec eben noch versucht hatte die Laune seines Sohnes zu heben, der erneut geschrien hatte – aus welchem Grund auch immer. Alec konnte nur erahnen, dass die Küche ebenfalls so aussehen würde, weshalb er sich mühselig aufrappelte und schließlich auf beiden Beinen stand. Er musste aufräumen, bevor Magnus nach Hause kam, er wollte seinem Partner diese Unordnung nach einem Arbeitstag ganz sicher nicht zumuten. Ausgiebig gähnte er und schaute zu Max, der sich ebenfalls aufrichtete und unsicher auf zwei kurzen Beinen stand. Erwartungsvoll schaute er zu seinem Vater hoch und streckte zwei kleine Ärmchen nach ihm aus. Tief atmete Alec durch und beugte sich zu ihm, bevor er ihn auf seinen Arm hob.

Schon seit Wochen befand er sich in einer merkwürdigen Situation. Er liebte seinen Sohn mehr als alles andere auf der Welt, trotzdem fühlte sich irgendetwas nicht richtig an, als er ihn in die Küche trug, die tatsächlich das reinste Chaos war. Selbst wenn es Phasen gab, in denen der Kleine Ruhe gab und mit Alec liebevoll kuschelte, war dort etwas in Alec, was sich dagegen sträubte. In den ersten Monaten, nachdem sie Max adoptiert hatten, hätte Alec ihn den ganzen Tag halten können. Er hätte ihn am liebsten nie wieder losgelassen und war selbst bezuckert gewesen, als Max ihn mitten in der Nacht durch sein Geschrei geweckt hatte. Nun war er froh, wenn er etwas Abstand von seinem Sohn hatte, selbst wenn das bedeuten würde, dass dieser sich nur am anderen Ende des Raumes befand und mit seinen Spielsachen spielte, während Alec staubsaugte.

Auf der anderen Seite war dieses Kind der einzige soziale Kontakt, den Alec in letzter Zeit hatte. Damals war das Institut sein Leben gewesen. Er war jeden Tag von Gleichgesinnten umgeben gewesen, hatte seine Geschwister jeden Tag gesehen, doch nun schien es so, als ob sie in einer vollkommen anderen Welt leben würden. Manchmal schrieb er ihnen, doch oftmals fand er kaum Zeit dafür. Er konnte mit Max rausgehen, konnte sie besuchen, doch er fand keine Kraft dafür. Es war aufwendig mit einem Kind das Haus zu verlassen und seine restliche Energie konnte er nicht dafür verschwenden.

Natürlich gab es noch Magnus, doch das war ein weiteres Problem, für das Alec eigentlich keine Kraft besaß. Wegen Max führte Magnus nur noch Hausbesuche durch, da er nicht wollte, dass Klienten in Alecs und seine eigene Wohnung kamen, wobei Alec zustimmte. Er kam also erst spät nach Haus und gleich danach verschwand er in sein Büro, um sich für den nächsten Tag vorzubereiten oder Aufträge erledigte, die er an diesem Tag bekommen hatte. Mitten in der Nacht krabbelte er dann zu Alec ins Bett und die beiden hatten nicht viel mehr als ein einfaches »Hallo« und »Gute Nacht« miteinander geredet.

Er konnte sich also auch nicht mehr daran erinnern, wann er das letzte Mal eine richtige Konversation geführt hatte. Max konnte nur wenige Worte wie »Da-Da« oder »Pa-Pa« sagen und Alec befürchtete, dass dies bald auch das einzige sein würde, was er selbst sprechen konnte. Er brauchte dringend Kontakt mit gleichaltrigen, doch das bewies sich mit einem Kind wie Max als ziemlich schwer. Er fühlte sich gefangen in diesem Apartment, in das er früher eigentlich immer geflüchtet war, um seinem Alltag im Institut zu entkommen.

Erschöpfte lehnte er sich gegen die Küchentheke, als er die Spülmaschine ausgeräumt und schließlich eingeräumt hatte. Er hatte keine Kraft für all dies und langsam fragte er sich, ob es tatsächlich nur am Schlafmangel lag. Er fühlte sich nicht nur physisch überfordert und ausgelaugt, sondern auch mental. Er sah keinen Sinn mehr in den Dingen, die er tat, schließlich würde das Geschirr in ein paar Stunden wieder schmutzig sein, so auch die Klamotten, die er tonnenweise am Tag wusch. Er fokussierte sich dabei eher auf Max' und Magnus' Kleidung und nicht auf seine eigene, um zusätzlicher Arbeit aus dem Weg zu gehen. Seine eigenes Oberteil sah dementsprechend mitgenommen aus; vollkommen verwaschen, ungebügelt und befleckt von oben bis unten, das meiste stammte vermutlich von Max.
Am liebsten wollte er einen Tag nur für sich haben – vielleicht sogar nur ein paar Stunden. Er wollte Ruhe von Max, obwohl der kleine Warlock das war, was er am meisten liebte. Noch ein paar Wochen und Alec würde seinen Verstand verlieren, so viel stand fest.

Er wollte mit Magnus darüber reden, doch wann sollte er das ganze ansprechen; morgens beim Frühstück, wenn Magnus es so eilig hatte, dass er noch nicht einmal seinen Kaffee austrinken konnte, oder doch spät abends wenn beide kaum ihre Augen offen halten konnten? Er brauchte nur irgendetwas von Magnus. Er wollte eine Umarmung, ein ernstgemeintes Lächeln, einen liebevollen Kuss, irgendeine Zärtlichkeit. Er wollte die drei kleinen Worte aus Magnus' Mund hören und seine Arme um sich spüren, wenn sie zusammen im Bett lagen. Er konnte sich nicht daran erinnern, wann Magnus ihn zum letzten Mal geküsst hatte – wobei der flüchtige Abschiedskuss am Morgen nicht zählte, den Magnus in letzter Zeit jedoch auch wegließ. Er wusste nicht, wann sie das letzte Mal intim gewesen waren, wann Magnus ihn zum letzten Mal berührt hatte. Alec vermisste all diese Sachen so sehr, dass es ihn verrückt machte.

Er konnte so nicht weiterleben. Er wollte Magnus so viele Dinge sagen, doch nie war der richtige Zeitpunkt, nie war genug Zeit dafür. Magnus lag ihm jede Nacht so nah und trotzdem war er so weit entfernt, komplett außer Reichweite. Er liebte Magnus, doch langsam hatte er das Gefühl, dass dieser das Interesse an ihm verlor. Was war an Alec auch noch interessant? Er tat jeden Tag das selbe und konnte nur noch von Max reden doch auch das Thema war längst überholt.

Nie hätte Alec gedacht, dass ein Kind ihre Beziehung so sehr verändern würde. Manchmal dachte er darüber nach, ob er das ganze wirklich durchgezogen hätte, hätte er gewusst, was auf ihn zukommt. Gleich danach versuchte er diese Gedanken so schnell wie möglich aus seinem Kopf zu kriegen, schließlich ging es um Max, sein Ein und Alles. Er konnte sich ein Leben ohne das kleine Monster nicht mehr vorstellen, auch wenn es um einiges einfacher wäre. Für Max würde er das alles durchhalten, auch wenn er für immer unglücklich sein würde.

Unglücklich

Er hatte er nie richtig zugeben wollen, nie richtig ausgesprochen. Er war unglücklich und wollte es irgendjemandem mitteilen, am liebsten Magnus, doch was sollte dieser schon tun? Was genau wollte Alec mit einem Gespräch bezwecken? Dass Magnus weniger arbeitete und mehr für ihn da war? Der High Warlock zu sein bedeutete Magnus sehr viel und viel mehr, als sich Alec vermutlich vorstellen konnte. Er lebte für seinen Job und Alec wollte nicht, dass er so etwas für ihn und Max aufgab. Wenigstens einer von ihnen sollte glücklich sein und Magnus war schon oft genug selbstlos in seinem Leben gewesen.

Er wollte seiner Mutter nicht recht geben, die immer gesagt hatte, dass er nicht glücklich mit Magnus sein würde. Warum hatte sie recht gehabt? Warum hatten Mütter immer recht?

Alec beobachtete, wie sich seine Finger langsam weiß färbten, da er die Arbeitsfläche der Theke zu fest umfasste. Max hatte in der Zwischenzeit in der Nähe des Esstischs einen großen Ball aus Stoff gewunden, den er in der Gegend herumschmiss. Alec ließ ihn und kümmerte sich nicht, dass sein Sohn dies etwas unvorsichtig machte. Vielleicht wäre es sogar gut, wenn etwas zu Bruch gehen würde, schließlich gäbe es dann Abwechslung in Alecs Leben. Tief atmete er ein und aus und versuchte seine Atmung zu regulieren, die viel zu schnell und zu flach ging.

Er ließ von der Arbeitsfläche ab und stützte seine Ellenbogen auf der Theke ab, bevor er seinen Kopf in seine Hände legte. Seine Augen brannten und schon bald spürte er die erste Träne, die sich ihren Weg über seine Wange suchte. Er war nie jemand gewesen, der oft geweint hatte, doch seit ein paar Wochen tat er es immer mehr, natürlich ohne dass Magnus irgendetwas davon mitbekam, meistens im Badezimmer, wenn Magnus bereits schlief. Auch jetzt rollten immer mehr Tränen über seine Wangen, die er nicht zurückhalten konnte und er konnte ein wenig Erleichterung verspüren. Der Druck auf seiner Brust verringerte sich etwas, doch trotzdem änderte sich nichts an seiner Gefühlslage.

Erschrocken schreckte er zusammen, als er hörte, wie sich ein Schlüssel im Schloss der Haustür drehte. Natürlich musste es Magnus sein, trotzdem wunderte sich Alec, warum dieser so früh zu Hause war. Normalerweise kam er um sechs wieder, er war also fast anderthalb Stunden zu früh da. Hektisch wischte sich Alec die Tränen vom Gesicht und zog seine Nase hoch. Er versuchte sich an der Glastür des Wandschranks zu spiegeln, in dem sich das Geschirr befand, um nach letzten Spuren seines Nervenzusammenbruchs zu suchen.

»Hallo!«, rief Magnus erfreut, als er die Wohnung betrat und Alec nahm panisch einen Lappen in die Hand und wischte über die Theke, die eigentlich vollkommen sauber war. Nur wenige Sekunden später betrat Magnus die Küche. Er hatte immer noch seine Tasche um, die er jeden Tag mit zu seinen Klienten nahm und er trug seine Schuhe, die er sonst immer sofort auszog.

»Du bist früh dran«, Alec zwang sich ein Lächeln auf die Lippen und versuchte den Blick seines Partners zu meiden, doch er hatte schon längst nicht mehr seine Aufmerksamkeit. Magnus lief auf Max zu und ging vor ihm in die Hocke. Der kleine Warlock lief in die Arme seines Vater, der Max sofort in die Luft hob und auf beide Wangen küsste.

»Der letzte Klient hat abgesagt – Gott sei Dank«, informierte in Magnus. Er wirkte so sorgenfrei und Alec fragte sich, ob er überhaupt merkte, dass sich etwas verändert hatte. Er fragte sich, ob Magnus selbst glücklich war oder ob es ihm wie Alec erging, doch würde Alec dies nicht eigentlich merken? Er beobachtete, wie Magnus seine Nase an der von Max rieb, woraufhin dieser fröhlich quiekte. Oh Gott, Alec liebte ihn so sehr, dass es wehtat, doch er glitt immer weiter durch seine Finger. Warum war er der einzige, der dies merkte?

»Magnus?«, er hatte gar nicht gemerkt, dass ihm der Name einfach so über die Lippen geglitten war.

»Ja?«, hakte er interessiert nach, obwohl er Alec dabei nicht anschaute. Seine Augen waren immer noch auf Max fixiert, der breit lachte und seine kleinen Hände auf die Wangen seines Vaters legte. Fieberhaft überlegte Alec, was er sagen sollte. Kannst du mir etwas mehr Aufmerksamkeit schenken klang etwas zu verzweifelt und forsch. Kannst du eher ins Bett kommen, anstatt in deinem Büro zu sitzen klang ebenfalls falsch.

Es entstand eine lange Pause, die Magnus dazu brachte sich schließlich doch zu ihm umzudrehen. »Kannst du... Hast du Zeit dich mit mir aufs Sofa zu setzen?«, fragte er unsicher, »Vielleicht mit etwas Wein... Nachdem Max im Bett ist?«. Überrascht schaute ihn Magnus an, der Max auf seine Hüfte setzte.

Sein Blick wurde weich. »Oh, Alexander, liebend gerne«, sprach er und Alec atmete erleichtert aus, als ob dieser Satz bereits die Lösung all seiner Probleme gewesen wäre. »Aber können wir das vielleicht auf morgen verschieben? Ich hab einen wichtigen Kunden, auf den ich mich bis morgen vorbereiten muss«, Alecs Mundwinkel fielen und so auch seine Stimmung. »Es tut mir leid«, fügte Magnus noch hinzu und setzte Max wieder auf den Boden. Dieser strecke seine kleinen Ärmchen sofort wieder nach Magnus aus und quengelte leise. Auch er schien die Zuwendung seines Vaters zu vermissen, was Alec voll und ganz nachvollziehen konnte.

»Ja«, erwiderte er bloß und war sich sicher, dass man den bitteren Unterton in seiner Stimme deutlich hören konnte. Er warf den Lappen in die Spüle und ging um die Theke, bis er vor seinem Sohn stand und ihn auf seinen Arm hob. »Es tut mir leid, Alexander«, versuchte es Magnus ein weiteres Mal und Alec wollte Verständnis haben, er wollte es wirklich, doch er konnte nicht. »Ja«, sagte er wieder, »Ich weiß«.

So verging erneut ein Tag wie jeder andere und schon wieder hatte Alec nichts erreichen können. Vielleicht hatte er nicht genug getan, vielleicht musste er Magnus aus seinem Büro zerren und ihn zu seinem Glück zwingen, doch dazu hatte er eindeutig keine Kraft. Sobald er sich ins Bett gelegt hatte, war er eingeschlafen und erst wieder erwacht, als Magnus sich mitten in der Nacht zu ihm gelegt hatte. Er hatte sich schlafend gestellt und tatsächlich hatte Magnus stumm das Licht ausgeschaltet und war wenig später ebenfalls eingeschlafen.

Er lag mit dem Gesicht zu Alec, das der Shadowhunter genau musterte. In der Dunkelheit konnte er zwar nicht viel erkennen, doch er kannte Magnus' Gesicht sowieso in- und auswendig. Es kam ihm jedoch so vor, als würde er es immer weniger kennen, als würde er sich in eine andere Person entwickeln und Alec bekam nichts davon mit. Er fragte sich, ob man sich nach so vielen Jahrhunderten überhaupt noch veränderte und ob der Magnus aus dem siebzehnten Jahrhundert der gleiche Magnus war wie aus dem einundzwanzigsten Jahrhundert.

Für Alec war Magnus schon immer perfekt gewesen und Alec hatte gewusst, dass es irgendwo einen Haken geben musste. Magnus war schon immer unheimlich geduldig gewesen, liebevoll und charmant und nie hatte Alec irgendetwas an ihm gefunden, was er nicht mochte. Er hatte angefangen zu glauben, dass der Warlock tatsächlich keine Macken hatte, dass er von Kopf bis Fuß perfekt war. Erst jetzt sah er, dass er falsch lag. Es gab plötzlich so viele Dinge, die ihn an Magnus störten, und er begann immer mehr zu sehen. Früher war es nur der Fakt gewesen, dass seine Arbeit immer an erster Stelle stand, heute gab es immer mehr Kleinigkeiten, die Alec langsam aber sicher in den Warnsinn trieben, auch wenn es sich nur um einen Kaffeebecher handelte, der in der Spüle gelassen wurde, obwohl die Spülmaschine ausgeräumt war.

Wenn man anfing unglücklich zu sein, fielen einem plötzlich immer mehr Dinge ein, die dazu beitrugen. Kleinigkeiten, über die man eigentlich immer hinweggesehen hatte. Magnus schien für Alec auf einmal nicht mehr wie der perfekte Märchenprinz. Da er sich in seiner ersten Beziehung befand, wusste er nicht, ob es normal war irgendwann so zu fühlen. Er wollte Magnus lieben und er tat es auch, doch er konnte nicht anders als sich zu fragen, ob diese Gefühle vielleicht nur zwanghaft waren. Vielleicht wollte er Magnus einfach nur zu sehr lieben, sodass er sich seine Gefühle für ihn aufzwang.

Shadowhunter liebten meinst nur einmal und selten ein weiteres Mal. Als er mit Magnus zusammengekommen war, hatte er von vielen Seiten hören müssen, dass Unterweltler nicht auf diese Weise liebten, doch Alec hatte all dies nicht hören wollen. Natürlich wusste er, dass er vor allem für Magnus nur einer von vielen war. Dort waren schon so viele andere vor ihm gewesen und Alec war sich sicher, dass Magnus schon einmal vor Alec so geliebt hatte wie jetzt, obwohl er oft etwas anderes behauptete. Vermutlich musste er sich damit abfinden, dass Magnus ihn niemals so sehr lieben würde, wie Alec ihn liebte.

Es formte sich ein Kloß in seinem Hals und es fiel ihm schwer zu atmen. Fest umklammerte er die Bettdecke mit einer Hand und versuchte die Tränen zurückzuhalten, die in seinen Augen brannten. Er konnte nicht länger hier liegen und Magnus beobachten, der so friedlich schlief und nichts zu ahnen schien. Wenn Magnus Alec genauso liebte, müsste er nicht eigentlich merken, dass etwas nicht stimmte? Glaubte er tatsächlich, dass sich in ihrer Beziehung nichts geändert hatte?

Vorsichtig schlug er die Bettdecke zurück und schlich in Richtung des anliegenden Badezimmers. So leise wie möglich schloss er die Tür hinter sich und drehte den Schlüssel einmal im Schloss. Danach schaltete er das Licht an und kniff seine Augen zusammen, als er von der Helligkeit geblendet wurde. Fast blind tastete er sich zu dem Waschbecken und umgriff es mit beiden Händen, sodass seine Knöchel bereits schmerzten. Beinahe erschrak er, als er in den Spiegel schaute; dunkle Schatten lagen unter seinen Augen und seine Haut war viel zu blass, zumindest blasser, als er sie in Erinnerung hatte. Es war als wäre er um zwanzig Jahre gealtert und nicht auf eine gute Weise.

Die Tränen, die er versucht hatte zurückzuhalten, liefen über seine Wangen. Ganz langsam ließ er sich auf die kalten Fliesen nieder und lehnte sich an die Badewanne. Schließlich zog er seine Beine an seinen Körper und schlang seine Arme um seine Knie. Warum war er so unglücklich? Warum schien er der einzige zu sein, der sich nicht mehr wohlfühlte und der merkte, dass etwas nicht in Ordnung war? Es war nicht die erste Nacht, dass er sich weinend im Badezimmer wiederfand und sicher nicht die letzte, wenn er nicht handelte, doch er konnte nicht. Warum hatte ihm niemand gesagt, dass Beziehungen so verdammt schwer waren? Er wollte Magnus lieben, doch das Kribbeln in seinem Bauch und unter seiner Haut hatte schon längst nachgelassen. Er verspürte keine Freude mehr, wenn er seinen Partner sah, sondern eher ein bedrückendes Gefühl, da er an all die Probleme denken musste, die die beiden in ihrer Beziehung hatten. Probleme, die anscheinend nur Alec bemerkte.

Seine Augen fielen langsam zu und er würde wohl jeden Moment auf dem Badezimmerboden einschlafen, wäre dort nicht das altbekannte Schreien seines Sohnes gewesen, dass ihn aufschrecken ließ. Seufzend erhob er sich von den kalten Fliesen und schleppte sich aus dem Badezimmer. Ein Blick zum großen Doppelbett verriet, dass Magnus noch tief und fest schlief. Wie konnte er schlafen, wenn Max schrie? Alec glaubte, er selbst würde sogar erwachen, wenn sich Max nur im Schlaf umdrehte, doch anscheinend war Magnus gegen so etwas immun.

Das ständige Aufstehen in der Nacht und der dadurch entstehende Schlafmangel raubte Alec teilweise den letzten Nerv, trotzdem war anschließend alles vergessen, wenn Max ihn mit großen blauen Augen anstarrte. Nun saß Alec also da; mitten in der Nacht mit einem Baby auf dem Arm in einem großen Sessel, der neben Max' Kinderbettchen stand. Der kleine Warlock lag auf dem Rücken auf Alecs Bauch und hatte seinen Kopf so weit in den Nacken gelegt, dass er seinen Vater interessiert mustern konnte. Dieser strich seine Hand gleichmäßig über den Bauch seines Sohnes, da er vermutete, dass die Ursache für Max' Erwachen an erneuten Bauchschmerzen lag. Tatsächlich gab Max daraufhin Ruhe und benahm sich wie ein Engel, so lange Alec ihn in seinen Armen hielt.

Oh Raziel, wie konnte er ein so kleines Wesen nur so sehr lieben. Er wusste nicht, wie lange er den Schlafmangel noch aushalten würde, bis er tatsächlich tot umfiel, doch diesen Anblick war es auf jeden Fall wert. Vorsichtig nahm er Max' kleine Faust, die auf seiner Brust ruhte, zwischen seine Finger und öffnete sie. Sofort griff Max nach dem Zeigefinger seines Vater, woraufhin dieser schmunzelte, vor allem, da diese Geste in Max' Alter bereits kein Reflex mehr war, sondern er es bewusst gemacht haben musste.

Er brachte die kleine Hand zu seinem Mund und platzierte einen Kuss auf ihr. Max' Augen schlossen sich daraufhin langsam und er wurde komplett still, weshalb Alec erleichtert ausatmete. Nur noch der vergleichsweise viel zu große Schnuller in dem Mund seines Sohnes bewegte sich noch leicht auf und ab, selbst wenn Max bereits schlief. Alec war dankbar für die Kopfstützen des Sessel. Auch er schloss seine Augen und bemühte sich weiterhin Max' Bauch zu streichen, doch auch ihn holte der Schlaf schnell ein.

Auch der nächste Tag zeigte keine Besserung. Magnus hatte ihn geweckt, bevor er das Haus verlassen hatte. Sofort hatte Alec die Übernachtung in Max' Zimmer bereut, da sich ein stechender Schmerz in seinem Rücken bemerkbar gemacht hatte, ausgeschlafen war er noch lange nicht gewesen. Nachdem er bis nachmittags den selben Pflichten nachgegangen war, wie in den letzten Wochen auch, hatte er nach seinem Telefon gegriffen. Wenn er nicht sofort Kontakt mit der Außenwelt aufbauen würde, würde er vermutlich eingehen wie eine Zimmerpflanze ohne Wasser und Licht.

Er hatte seine Schwester angerufen, hatte nach einem Treffen gefragt, doch diese hatte ihn entschuldigend abgewiesen, wie ein typischer Shadowhunter; natürlich ging sie ihren Pflichten im Institut nach, genauso wie Jace, den er als nächstes versucht hatte zu erreichen. Auch sein Parabatai schien keine Zeit für ihn finden zu können und hatte ihn sogar beinahe abgewürgt. Alec wusste, dass es falsch war, doch trotzdem hatte er sich über seine Geschwister geärgert, aber sie hatten nicht wissen können, wie er sich fühlte. Es war zudem noch teils seine eigene Schuld gewesen, man hatte ihn schließlich nicht eingesperrt. Er hätte Max in seinen Kinderwagen setzten können und zusammen hätten sie einen langen Spaziergang durch den Park machen können, doch schon wieder hatte sich Alec nichts anstrengenderes vorstellen können. Wäre dort nicht diese schrecklich lähmende Müdigkeit gewesen, würde das Leben nun anders aussehen.

Sein Tag war vollkommen gleich verlaufen und jeden Abend versprach er sich aufs Neue, dass der nächste Tag besser und anders sein würde, doch jedes Mal fand er sich erneut auf den kalten Fliesen den Badezimmers wieder, die Knie an seinen Körper gezogen und seine Arme um seine Beine gelegt. Tränen liefen erneut über sein Wangen und er versuchte keinen Ton von sich zu geben, da Magnus auf der anderen Seite der dünnen Wand schlief und er ihn nicht wecken wollte.

Noch nie hatte er sich so hilflos gefühlt und er hatte gegen Dämonen gekämpft, hatte dem Prinzen der Hölle gegenüber gestanden. Er hatte gegen Jonathans verwandelte - endarkend - Shadowhunter gekämpft und das weit in der Unterzahl, er war verdammt nochmal in Edom gewesen, in der Hölle. Wie konnte ihn ein bisschen Schlafmangel so sehr beeinflussen?

Er erinnerte sich, wie die Wände in Edom langsam immer enger geworden waren, wie er versucht hatte Magnus in seinen Armen aufrecht zu halten. Auch jetzt schienen die Wände immer näher zu kommen, obwohl das Badezimmer verhältnismäßig groß war. Selbst die Decke schien ihm auf den Kopf zu fallen und er wollte nur noch raus. Er griff nach dem Rand der Badewanne und zog sich auf die Knie. Als er über die Badewanne gebeugt war, hielt er kurz inne, da sich ein stechender Schmerz in seinem Kopf ausbreitete. Er wartete bis dieser vorüber ging, doch stattdessen überkam ihn eine unerwartete Übelkeit. Alec wusste nicht mehr, wann ihm das letzte Mal schlecht gewesen war, doch er hatte nicht lange Zeit darüber nachzudenken.

Er hatte nicht viel gegessen, doch was auch immer er zu sich genommen hatte, suchte sich wieder den Weg nach oben, weshalb er schnell zu der Toilette krabbelte, den Toilettendeckel öffnete und sich erbrach. Es kam mehr, als er eigentlich für möglich gehalten hatte, trotzdem wusste er immer noch nicht, was genau der Auslöser für diese Übelkeit gewesen war.

Seine Fingerknöchel färben sich weiß, als er die Toilette fest umgriff, auch noch als er sich nach hinten fallen ließ und schließlich wieder auf den Fliesen saß. Zögernd lockerte er seinen Griff, fast als ob er Angst hatte ohne eine Stütze zusammenzubrechen. Er verfluchte sich, als ein lautes Schluchzen aus seinem Mund ertönte, das vermutlich laut genug gewesen war um Magnus aufzuwecken. Frustriert fuhr er mit seinen Fingern durch seine Haare und kniff seine Augen zusammen. Es fühlte sich an, als hätte auch jegliche Flüssigkeit seinen Körper verlassen. Wie ein Fisch auf dem Trockenen sehnte er sich nach ein wenig Wasser, doch auch der Gedanke zu trinken ließ ihn wieder übel werden.

Am liebsten wollte er sich einfach ausgestreckt auf den Boden legen und schlafen. Die Kälte würde ihm gerade recht kommen; sein Shirt klebte unangenehm an seinem Körper und auch sonst musste seine Körpertemperatur wohl um zwei Grad gestiegen sein, zumindest fühlte es sich so an. Er zog seine Knie an sich und wippte leicht vor und zurück. Mit den Handflächen wischte er sich über seine Augen und versuchte seine Tränen zu trocknen, doch diese flossen immer wieder neu nach, sodass er aufgab.

Warum konnte er nicht einfach schlafen? Es gab nichts, nach dem er sich mehr sehnte und trotzdem saß er hier auf dem Badezimmerboden und musste aussehen wie ein Psychopath. Er wollte wieder normal sein, warum war er der einzige auf dieser Welt, dem es so erging? Wenn jedes Elternteil so etwas durchmachen musste, wunderte sich Alec, dass es überhaupt noch so viele Kinder gab. Er musste raus, er brauchte Abwechslung, er brauchte Schlaf, er musste trinken, er brauchte-

Eine Hand legte sich auf sein Schulter, danach spürte Alec einen Arm, der um ihn gelegt wurde. Er spürte eine andere Hand, die beruhigend durch seine Haare strich und nahm Magnus' eigenen Geruch war, auf den er sich konzentrierte. Er roch süß, sehr nach seinem Shampoo, aber vor allem nach dem Geruch, den man wahrnahm, wenn man durch Portale reiste. Jedes Mal roch es nach verbranntem Zucker und etwas anderem, etwas frischeren. Es roch nach zu Hause.

Alec hatte Magnus überhaupt nicht gehört, als er das Bad betreten hatte. Eigentlich hatte er auch gedacht, dass er abgeschlossen hatte, doch Magnus war ein Warlock, was waren schon Schlösser für ihn. Immer hatte Alec gedacht, dass Magnus eine Person war, die er in dieser Situation nicht sehen wollte, doch nun realisierte er, wie sehr er ihn gebraucht hatte. Magnus hatte sich neben ihn gesetzt und legte die Hand, die sich eben noch auf seinem Arm befunden hatte, sanft an seine Wange. Alec hielt seine Augen geschlossen und versuchte tief durchzuatmen, während Magnus einen Kuss auf seiner Schläfe platzierte. Er hatte Magnus' Zärtlichkeiten schon so lange nicht mehr gespürt und lehnte sich in seine Umarmung, da ihm die Zuwendung so sehr gefehlt hatte.

**

Magnus wusste nicht, was ihn geweckt hatte. Es musste mitten in der Nacht sein, vielleicht sogar schon sehr früh morgens, als er seine Augen ohne Grund öffnete und sich unruhig im Bett umdrehte. Als er nun mit dem Gesicht zu Alexanders Seite lag, stellte er fest, dass dieser abwesend war. Er dachte nicht großartig darüber nach, schließlich stand Alec nachts oft auf, um in Max' Zimmer zu gehen, wenn dieser wieder einmal nicht schlafen konnte. Er nahm also an, dass sein Partner bei ihrem Sohn war, und war kurz davor wieder einzuschlafen, als er ein Geräusch aus dem anliegenden Badezimmer hörte, dass ihn hellhörig machte. Irritiert richtete er sich auf und drehte sich zu der Badezimmertür; er konnte Licht erkennen, das durch den kleinen Spalt zwischen Tür und Boden schien, danach hörte er erneut Geräusche. Husten?

Es hörte sich nicht wirklich danach an, doch Magnus wusste nicht, was es sonst sein sollte. Sofort schlug er die Bettdecke zurück und hievte sich aus dem Bett, wobei er noch fast im Halbschlaf war. Zögernd bewegte er sich zur Tür und legte sein Ohr gegen das Holz, um erneut nach Geräuschen zu horchen. Ein Schluchzen ertönte, das Magnus zurückschrecken ließ; es war eindeutig Alexander, doch es war nicht das Geräusch gewesen, was er zuvor gehört hatte. Sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen, als er Alec auf der anderen Seite der Tür weinen hörte. Alec weinte selten, sehr selten. Zwar hatte Magnus ab und an schon kleine Tränen gesehen, die der toughe Shadowhunter vergossen hatte, doch er hatte ihn niemals schluchzen hören.

Fast schon aus Reflex drückte er die Türklinke nach unten, doch Alec hatte den Raum verschlossen. Ohne groß darüber nachzudenken, öffnete Magnus die Tür mit nur sehr wenig Magie – ein Kinderspiel für jeden Warlock. Ganz vorsichtig drückte er die Holztür auf und sah Alexander, der vor der Toilette auf dem Boden saß, die Beine an seinen Körper gezogen und das Gesicht auf seine Knie gelegt. Es war ein Anblick, der Magnus schockierte; noch nie hatte er seinen Partner in einer solchen Verfassung gesehen und er hatte geglaubt, dass er bereits alle Seiten von Alec erlebt hatte. Alec weinte bitterlich und Magnus' Herz brach in tausend Teile. Magnus konnte viele Arten von Schmerz ertragen, das hatte er in seinen vielen Lebensjahren gelernt, doch den Schmerz, den er verspürte, wenn er die Leute, die er am meisten liebte, in einer solchen Verfassung sah, war unbeschreiblich und unerträglich.

Hätte jede andere Person dort gesessen, hätte Magnus sie sofort in seine Arme geschlossen, hätte sie versucht zu trösten, doch bei Alexander zögerte er. Er kannte Alec gut genug um zu wissen, dass der Shadowhunter nicht gerne zugab, dass er Hilfe brauchte, geschweige denn irgendwelche Schwächen zeigte. Magnus hatte schon oft durch seine Fassade schauen können, obwohl Alec wahrscheinlich vermutete, er könnte seine Gefühle leicht verstecken. Dementsprechend war ihm auch nicht entgangen, dass sich Alexander in letzter Zeit anders verhalten hatte, doch er hatte angenommen, dass er nur gestresst war, schließlich hatte er mit Max alle Hand zu tun und Magnus gab selbst zu, dass er dabei keine große Hilfe war.

Doch auch der stärkste Shadowhunter brauchte vermutlich irgendwann ebenfalls jemanden, der ihn in die Arme nahm und hielt. Genau das tat Magnus und legte eine Hand auf Alecs Schulter, woraufhin dieser zusammenzuckte und seinen Kopf leicht hob, seine Augen jedoch nicht öffnete. Magnus legte einen Arm um ihn und strich sanft durch seine Haare, die auf seiner Stirn klebten, danach platzierte er einen Kuss auf der Schläfe seines Partners. Erst jetzt fiel ihm auf, wie sehr er Alec vermisst hatte, obwohl er immer so nah gewesen war. Er hatte ihn schon lange nicht mehr in den Arm genommen, geschweige denn ihn geküsst, weshalb das Verlangen nun umso größer war.

Er konnte sehen, dass Alec versuchte seine Tränen zurückzuhalten und sich zusammenzureißen, was Magnus noch mehr schmerzte, schließlich sollte wenigstens er eine Person sein, bei der Alec dies nicht machen musste. Irgendwann lehnte sich Alec in Magnus Umarmung, der daraufhin beinahe nach hinten überfiel, da er diese Reaktion nicht erwartet hatte und nur unsicher auf seinen Zehenspitzen hockte.

Was sollte er fragen? Alles o.k.? - Nein, natürlich war nicht alles o.k., was für eine dumme Frage. Was ist passiert? - Nein, auch das klang zu banal, als ob Alec von einer Schaukel gefallen war und Magnus ihn trösten musste. Alles wird gut? - Aber Magnus wusste doch noch nicht einmal, was passiert war.

»Egal was passiert ist, wir finden eine Lösung. Alles wird gut«, jetzt hatte er es doch gesagt, aber wenigstens hatte er irgendetwas gesagt. Wenn es eine Sache gab, die Magnus in über achthundert Jahren immer noch nicht gelernt hatte, dann war es, wie man Mitmenschen tröstete. Ihm fiel es schwer die richtigen Worte zu finden, obwohl er sonst immer wusste, was er sagen sollte.

Alec biss auf seine Unterlippe und schüttelte den Kopf. Irritiert legte Magnus seine Stirn in Falten und beobachtete eine von den vielen Tränen, die sich ihren Weg über Alecs Wange suchte. Seine Atmung ging flach und immer wieder schüttelte er seinen Kopf, bis er mit seinen Händen schließlich durch seine Haare fuhr und Magnus seine eigenen Hände wegzog. Er wippte vor und zurück, was Magnus langsam Sorgen bereitete.

»Ich kann das nicht mehr«, hauchte Alec verzweifelt.

»Was?«, hakte Magnus sofort nach, bevor er überhaupt darüber nachdenken konnte. »Ich kann nicht«, sprach Alec wieder, worauf sich Magnus aufrichtete. Er kniete vor Alec und drückte dessen Kopf beschützend an seine Brust.
»Du bist nicht alleine. Ich bin da und egal was es ist, ich werde dir immer helfen«, sagte Magnus ruhig, doch Alec schien seinen Worten keinen großen Glauben zu schenken. Immer atmete er viel zu schnell ein und aus und sein Körper fing an zu zittern.

»Hey!«, Magnus drückte Alec leicht von sich und nahm sein Gesicht in beide Hände. Große blaue Augen starrten ihm entgegen, die rot unterlaufen waren und ihn erst nach einiger Zeit richtig fokussierten. »Du bist Alexander Lightwood, du kannst alles und du schaffst alles. Du jagst Dämonen, verdammt nochmal. Dort gibt es nichts, was du nicht kannst... was wir nicht können«, versicherte er ihm und strich mit seinen Daumen sanft über Alecs Wangenknochen. Ruckartig erhob er sich und schaute auf den Shadowhunter herunter, der ihne verzweifelt ansah.

»Komm«, sprach Magnus streng und griff nach Alecs Oberarm, um ihn auf seine Beine zu ziehen. Als Alec tatsächlich auf beiden Beinen stand, drehte sich Magnus ans Waschbecken und holte Zahnbürste und Zahnpasta aus dem kleinen Schrank, der gleichzeitig als Spiegel diente. Beides drückte er seinem Gegenüber in die Hand und schob ihn dichter ans Waschbecken. Er hätte nicht gedacht, dass Alec seinen Anweisungen wirklich folgen würde, doch er fing tatsächlich an sich die Zähne zu putzen, während Magnus jegliche Spuren von Alecs Nervenzusammenbruch beseitigte. Er säuberte die Toilette mit einer kurzen Handbewegung und schloss den Toilettendeckel, danach rückte er den kleinen Teppich in der Mitte des Raumes gerade.

Schon einige Augenblicke später lagen Magnus und Alec gemeinsam in ihrem Bett, die kleine Lampe auf Magnus' Nachttisch brannte noch, sonst war alles dunkel. Alecs Atem ging wieder gleichmäßiger, doch ruhig und friedlich sah er noch lange nicht aus. Er konnte immer noch die Verzweiflung in seinen rot unterlaufenen Augen sehen, die Magnus' Blick mieden. Abwesend strich Magnus' mit seiner Hand über Alecs Wange und spüre die schon ziemlich langen Bartstoppeln unter seinen Fingerspitzen. Schon in den letzten Tagen war er davon ziemlich irritiert gewesen; er hatte Alec noch nie mit Bart gesehen, normalerweise legte er immer großen Wert darauf sich zu rasieren.

»Was ist los?«, flüsterte Magnus irgendwann. Alecs Finger spielten mit dem Knopf des Kissenbezug, immer noch schaute er Magnus nicht in die Augen. Er schien lange über die Frage nachzudenken und befeuchtete seine Lippen mit seiner Zunge. »Liebst du mich noch?«, fragte er leise, worauf Magnus hellhörig wurde. »Ich meine... liebst du mich noch so wie damals?«

»Natürlich«, geschockt zog Magnus seine Hand zurück und versuchte Augenkontakt mit Alec aufzunehmen. Wie konnte er nur daran zweifeln? Es gab nichts auf dieser Welt, was Magnus mehr liebte als Alec (außer Max, doch das war eine andere Art von Liebe). Dass Alec diese Liebe in Frage stellte, konnte er beim besten Willen nicht verstehen. Ja, er liebte ihn noch genau wie damals, sogar noch viel mehr. Er liebte ihn jeden Tag ein Stück mehr, vor allem wenn er ihn zusammen mit Max sah. Magnus hatte nicht gewusst, dass Alec als Vater noch attraktiver war als sowieso schon.

Hatte er ihm nicht das Gefühl gegeben geliebt zu werden? Magnus wusste selbst, dass er und Alec sich in letzter Zeit eher selten sahen, aber trotzdem hatte er den Shadowhunter in keiner Sekunde weniger geliebt oder sich weniger zu ihm hingezogen gefühlt. Es machte gemeinsame Momente viel besonderer, obwohl sie diese in letzter Zeit auch eher wenig hatten. Er wusste, dass sich diese Art von Alltag irgendwann ändern würde, vor allem wenn Max älter war.

»Ich liebe dich, Alexander«, sprach Magnus, da Alec immer noch nicht besonders überzeugt aussah. Eigentlich hatte er gehofft, dass sich Alecs Zweifel mit dieser Aussage auflösen würden, doch das schien anscheinend nicht der Fall zu sein. Alec schaute immer noch auf seine Hand, die den Bettbezug glatt strich. Seine Finger zitterten, weshalb Magnus seine Hand auf die des Shadowhunters legte.

»Liebst du mich noch?«, eigentlich wollte Magnus nicht fragen, da er zu große Angst vor der Antwort hatte. Diese erhielt er erst gar nicht, denn Alec schwieg. Endlich schaute er in Magnus' Augen; große blaue Augen, in die er sich so verliebt hatte, musterten ihn traurig. In ihnen standen Tränen und Magnus brauchte keine Antwort auf seine Frage, er wusste sie auch so.

Oh

Natürlich hatte er sich schon oft in einer solchen Situation befunden, doch nie wurden sie leichter. Eigentlich hatte er immer gedacht, dass Alec der eine war, dass Alexander Lightwood nicht sein Herz brechen würde. Dass er nach langem Suchen endlich jemanden gefunden hatte, mit dem er alles haben konnte; eine Familie, Kinder, Vertrauen, Spaß, Liebe.

Alec sah so unschuldig aus, als er Magnus durch lange schwarze Wimpern hindurch ansah, dabei war er gerade dabei Magnus' Herz in tausend Stücke zu zerreißen und das, ohne ein Wort gesagt zu haben. Er wollte ihn dafür hassen, dass er seine Liebe nicht erwiderte, doch er konnte nicht. Gott, er liebte ihn so sehr, umso mehr tat es weh zu der Erkenntnis zu kommen, dass Alec es nicht tat. Immer hatte er sich so glücklich geschätzt, dass jemand wie Alexander Lightwood ihn liebte, dass er einen Sohn mit ihm großziehen durfte, dass er abends neben ihm einschlafen durfte, dass Alec ihn heiraten wollte. Niemand in Magnus' langem Leben hatte ihn jemals heiraten wollen. Natürlich war alles zu perfekt gewesen.

»Ich will das so sehr, Magnus. Ich- «, er brach ab und richtete sich auf, sodass er schließlich im Sitzen auf Magnus herunterschaute. Magnus hatte gedacht, dass er ihn schon in allen Gefühlslagen gesehen hatte, doch so verzweifelt hatte er ihn noch nie erlebt. Auch er richtete sich auf, seine Sicht verschwamm durch die Tränen, die sich in seinen Augen bildeten. Schnell blinzelte er sie weg.

»Ich bin so unglücklich und ich weiß nicht wieso«, er fuhr sich mit beiden Händen durch seine dunklen Haare und Magnus konnte nicht anders, als ihn sprachlos anzustarren. »Ich will dich lieben, ich will dankbar sein für das Leben das wir führen, aber ich kann nicht«, Magnus' Herz zog sich zusammen, doch Alec sprach weiter. »Es ist jeden Tag das gleiche und ich weiß, dass das nun einmal der Alltag ist, aber ich kann das nicht. Ich liebe Max über alles, aber es fühlt ich an, als würde ich ersticken. Ich fühle mich so alleine, obwohl du und Max hier seid, aber trotzdem fehlt irgendetwas. Es ist so anstrengend sich alleine um Max zu kümmern und ich will dankbar sein, aber ich bin so müde u-und erschöpft, dass ich noch nicht einmal klar denken kann«

Magnus verfluchte sich selber, dass er nie gesehen hatte, in was für einem Zustand sich Alexander befand. Er fühlte sich schuldig, weil er ihm so selten mit Max geholfen hatte, doch er hatte nie gewusst, was für eine Last auf den Schultern des Shadowhunters lastete. In diesem Moment realisierte Magnus erst richtig, wie jung Alec eigentlich war. Er war gerade einmal zwanzig Jahre alt, noch nicht einmal volljährig, zumindest nicht in der Welt der Mundanes. Magnus sollte ihm helfen und sollte als Partner seine Probleme doch eigentlich gleich erkennen. Es brach sein Herz Alec so zu sehen, vor allem weil er sowieso schon viel zu viel hatte ertragen müssen.

Er wusste nicht, ob Alec seine Zuneigung in diesem Moment überhaupt wollte, doch er wusste nicht, was er sonst tun sollte. Zögernd legte er einen Arm um seinen Partner und drückte ihn an sich, die andere Hand legte er sanft auf dessen Hinterkopf und hielt ihn bei sich. Er umarmte ihn etwas fester, als er merkte, dass Alec seine Umarmung erwiderte. Er vergrub seinen Kopf in Magnus' Halsbeuge und weinte bitterlich, sodass der Warlock nichts anderes tun konnte, als ihm beruhigend über den Rücken zu streichen.

»Es tut mir so leid«, schluchzte Alec und Magnus kniff seine Augen zusammen, um seine Tränen zurückzuhalten. »Dir muss nichts leid tun. Wir werden immer eine Lösung finden«, versprach ihm Magnus und meinte es auch so. Er würde die gesamte Welt auf den Kopf stellen, wenn dies bedeuteten würde, dass Alec glücklich war.

Er fragte sich, ob Alec überhaupt schon einmal so gehalten und getröstet wurde, wie Magnus es tat. Er bezweifelte, dass ihm seine Eltern jegliche Art von Zuwendung gezeigt hatten und gegenüber seinen Geschwister würde Alec niemals Schwäche zeigen, da war sich Magnus ziemlich sicher. Manchmal vergaß Magnus, wie wenig Erfahrung Alec in seinem Leben hatte und wie jung er war. Gleichzeitig hatte er für sein Alter viel zu viel Trauer und Zerstörung erleben müssen und hatte dabei noch stark bleiben müssen. Magnus erinnerte sich an den Tag, an dem Alecs kleiner Bruder verstorben war. Als er die Nachricht empfangen hatte, hatte er sich auf das Schlimmste vorbereitet; dass Alec am Boden zerstört und in tiefster Trauer war. Stattdessen hatte er ihn zusammen mit seiner Schwester aufgefunden. Auf sie hatten Magnus' Erwartungen zugetroffen, doch Alec hatte keine Miene verzogen, hatte Isabelle in seinen Armen gehalten und keine Träne vergossen. Magnus hatte bewundert, wie stark er war, doch nun wusste er, wie zerbrechlich Alec eigentlich war.

Mir tut es leid, wollte Magnus sagen, doch wenn er nun versuchen würde zu sprechen, würde er vermutlich nur in Tränen ausbrechen. Er hatte immer gedacht, dass er Alec gut genug kennen würde, doch so oft fand er neue Dinge über ihn heraus, die ihn überraschten und verdammt, er liebte ihn dafür umso mehr.

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(19.06.2018)

Part II ist schon fast fertig! Ich werde ihn demnächst hochladen, aber ich denke, es ist angenehmer das Kapitel zu lesen, wenn ich es in zwei Teile aufteile.

Ich hoffe, euch hat der kleine Einblick in das Leben von Alec und Magnus vor  Rafael gefallen :-)

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