18 || die Überlebenden

JESTER

Jester hatte die Nacht nicht geschlafen. Mit wachen Augen hatte er da gelegen, in Sorge, dass Toivo wieder auftauchte. Oder auch in Hoffnung. Er war sich nicht sicher. Es gab etwas in ihm, das sich danach sehnte, noch mal mit dem Magier zu reden und ihn durchzuschütteln, ihn wütend zu fragen, weshalb er nicht tot war, obwohl er doch so kurz davor war ihn umzubringen. Weshalb er gezögert hatte. Er wollte Toivo ins Gesicht schlagen und ihn anschreien und er wollte noch mal den Tag erleben, an dem er lächelnd mit ihm im Garten des Schlosses saß und kurzeitig das Leben vergessen hatte. Und dafür hasste er sich.

Jester hatte den Blick von Tainja mitbekommen. Er konnte ihr Mitleid spüren und es widerte ihn an. Er hatte ihr geholfen und sie in Sicherheit gebracht, doch es war aus reinem Zweck entstanden. Er hatte ihr weder verziehen, noch hatte er vergessen. Und er hoffte, sie wusste das auch. Ihr Bein machte ihm trotzdem zu schaffen. Sie war vielleicht nicht besonders vertrauenswürdig, doch hatte er seine Kriegerin verloren, etwas, was er eigentlich vermeiden wollte. Und ohne Pferde oder anderen Transportmöglichkeiten war es schwierig, sie unbeschadet in die Berge zu bekommen, wenn sie es überhaupt bis dahin überlebte. Er hatte keine Ahnung, wie lange eine solche Wunde ohne die angemessene Behandlung ungefährlich blieb.

Zu viele Gedanken schwirrten durch seinen Kopf und er brauchte dringend frische Luft. Tainja und Karin schienen noch zu schlafen und ohne die beiden wollte er den Raum nicht verlassen, denn dann hatte er keine Möglichkeit wieder hineinzukommen. Seufzend lehnte er sich zurück und seine braunen Haare fielen ihm ins Gesicht. Er war jetzt ihr Anführer und er wusste, dass beide darauf vertrauten, dass er die richtigen Entscheidungen fiel. Aber wie konnte er das tun, wenn er doch selbst keine Ahnung hatte, was er eigentlich tat. Ilar hatte ihm eine Aufgabe gegeben, die ihm unmöglich zu erfüllen schien. So unmöglich, dass er am liebsten hier und jetzt anfangen wollte zu weinen und zu schreien und einfach nur noch schlafen wollte. Doch diese Art der Schwäche wollte er nicht vor den beiden anderen zeigen.

Er warf einen Blick auf die beiden Frauen. Er wollte ihnen so viel Schlaf wie möglich geben, damit sie für die Reise bereit waren. Er würde Tainja auf seinem Rücken tragen müssen und hoffen, dass die Einwohner Aeolus vielleicht noch in der Nähe der Stadt waren. Das war ihre einzige Chance, zu den Bergen zu gelangen, bevor sie geschnappt werden würden oder Tainja ihm unter der Nase wegstarb. Und so sehr er es in den vielen Jahren gewünscht hatte, jetzt war ihre Zeit noch nicht gekommen. Er brauchte sie noch und deshalb musste er sie am Leben erhalten, was es auch kostete.

Vielleicht war auch Karin in der Lage dazu, genug Spannung mit ihrer Magie aufzubauen, um eine Art Trage zu rekonstruieren, jedoch wusste er, dass sie ihre Magie nicht oft benutzte und somit kaum Übung mit dieser hatte. Und sie dann einen so langen Weg mit so viel Last zu verantworten, kam ihm falsch vor. Er war überfragt. Wäre Tainja doch nicht einfach so durch das Feuer gesprungen, dann wäre alles so viel leichter, doch Zeit konnte man nun mal nicht zurückdrehen, egal wie sehr man es auch wollte.

Dann stand er auf und streckte sich. Er brauchte Bewegung. Seine innere Unruhe machte ihn wahnsinnig. Er lief in dem Raum auf und ab und nahm ihn ein wenig genauer unter die Lupe als am Tag zuvor. Viele Kisten waren an den Wänden gestapelt, die meisten von ihnen hatten ein Schloss vorgebaut. In den Regalen und auf dem Boden standen nur ein paar Bücher, die recht alt wirkten, sonst schien es so, als hätte man die Kammer in Eile ausgeräumt und nur die wichtigsten Sachen mitgenommen. Gedankenverloren räumte er einige der Bücher beiseite und stockte dann. Ein leises Knarzen ertönte und ein Riss bildete sich in der Wand. Jesters Mund klappte auf. Ein Geheimweg. Einen, den Karin nicht kannte. Wahrscheinlich auch einen, den der Trupp des Königs nicht kannte. Aber wahrscheinlich auch der, den einige der Einwohner genommen hatten, um zu entkommen.

Vorsichtig drückte er sich gegen die nun losen Stellen und mit einem Schwung öffnete sich ein großer Bogen. Wie gebannt starrte Jester auf die kleinen Runen, die durch die Luft flogen und dann den Weg in die Dunkelheit freigaben. Er warf einen Blick hinein, doch sehen konnte er nichts. Erneut warf er einen Blick auf die beiden Schlafenden, dann gab er sich einen Ruck und betrat den düsteren Gang.

Kälte umfing ihn und eine Gänsehaut breitete sich über seinen ganzen Körper aus. Er konnte kaum die Hand vor den Augen sehen und doch tastete er sich langsam immer weiter. Die Wände waren kühl, doch trocken und nach einiger Zeit, spürte Jester einen leichten Windzug durch seine Haare streifen. Der Ausgang war also nicht mehr weit weg. Mit neuem Mut folgte Jester dem Gang noch weiter hinein, es fühlte sich an, als würde er schon Stunden gehen, bis er gegen etwas Hartes stieß. Ein Fluch entwischte seinen Lippen und er rieb sich den Kopf. Er tastete vor sich und spürte Holz, dann eine Klinke und mit freudiger Erwartung drückte er sie runter.

Mit einem Satz öffnete sich die Tür und peitschender Regen traf Jester im Gesicht. Erschrocken schnappte er nach Luft. Er stand am Rande eines Felsens, dem ein schmaler Weg nach unten folgte. Er kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können, doch der strömende Regen war keine Hilfe dabei. Er blickte nach unten und ganz verschwommen glaubte er, mehrere menschliche Silhouetten am Horizont zu erkennen. Zitternd zog er sich in den Schutz des Ganges zurück. Der Tunnel musste lang sein und weit weg von der Stadt herauskommen, doch dies waren noch nicht die Berge, welche er erreichen wollte. Aber er war sich sicher, dass die Bewohner der Stadt hier durch geflohen waren. Mit einem letzten Blick auf den Regen, drehte er sich um und huschte zurück in Schwärze.

Beinahe hatte er schon erwartet, dass Karin ihn anschreien würde, wenn er zurückkam, doch sie saß nur neben Tainja und blickte nicht einmal auf, als er durch den Gang zurück in den Raum trat.

„Ich habe einen Weg nach draußen gefunden", unterbrach er dann die Stille und Karin sah ihn endlich an. „Ich bin dem Tunnel gefolgt, ich gehe davon aus, dass das der Fluchtweg für die Einwohner war."

Karin runzelte die Stirn. „Ich habe die Magie gestern schon gespürt, ein kleines Flackern, aber kaum bemerkbar. Ähnlich wie bei der Tür. Jester, eigentlich solltest du sie nicht spüren. Irgendwas verheimlichst du uns und ich finde das nicht gut." Ihre Augen funkelten ihn vorwurfsvoll an.

„Ich verheimliche nichts", erwiderte Jester und hockte sich dann neben Tainja. „Wie geht es ihr? Schafft sie es bis nach draußen?"

„Ja, ich schaff das", kam es ganz leise von der Hurgailua und Jester blickte sie an. In ihren Augen konnte er Erschöpfung erkennen und er war sich nicht sicher, ob sie das ernst meinte. „Ich habe schon weitaus Schlimmeres überlebt."

Jesters Augen verdunkelten sich, dann nickte er. „Ich stütze dich, allein lass ich dich nicht laufen."

„Das würde ich auch nicht hinkriegen", stellte Tainja fest und Jester konnte den verbitterten Unterton in ihrer Stimme vernehmen.

Es war seltsam sich nicht mit Tainja zu streiten. Eigentlich gehörte das mit dazu. Ziemlich sicher würde sie ihn wieder hassen, sobald ihr Bein okay war. Seufzend griff er ihr unter die Schultern und hob sie hoch.

„Soll ich helfen?", wollte Karin wissen. Jester schüttelte den Kopf.

„Alles gut. Du kannst vorgehen und darauf achten, dass der Weg frei ist", meinte er nur und Karin nickte. „Sie ist nicht so schwer, wie erwartet. Liegt wahrscheinlich daran, dass sie seit Tagen nicht vernünftig gegessen hat."

„So wie wir alle", knurrte Tainja, „Denk nicht, das wäre mir nicht aufgefallen. Ich habe auch Augen."

„Aber du machst dir normalerweise keine Sorgen um andere", murmelte Jester ihr ins Ohr und er spürte, wie die Frau leicht zusammenzuckte.

„Lüge!", zischte sie und Jester gab ein abfälliges Geräusch von sich.

„Nur weil du halb tot bist, heißt das nicht, dass ich dir verzeihe", gab er ihr dann zu verstehe, „Außerdem hast du jetzt doppelte Schulden, ich hätte dich auch sterben lassen können."

„Und ich hätte dich schon hunderte Male einsperren können, ich hätte unseren König dich umbringen lassen, ich hätte-"

„Kein Problem, ich kann dich gern zurück zu Porco bringen, wenn du willst, kann er dich weiter misshandeln und verge-" Jester hatte noch nicht ganz zu ende gesprochen da, versuchte Tainja sich aus seinen Armen zu entwinden, doch der Griff des Mannes war zu stark. „Willst du kriechen?"

Aus Tainjas Mund entwich ein ersticktes Geräusch. Karin drehte sich sichtlich genervt zu ihnen um.

„Ganz ehrlich, ich mochte es lieber, als ihr euch verstanden habt", sagte sie und Jester hob belustigt seine Augenbrauen.

„Du hast es noch nie erlebt, dass wir uns verstehen", meinte er und grinste schief. „Und sei dir sicher, bevor das passiert, muss noch einiges passieren. Und weil Tainja nun mal Tainja ist, wird es auch niemals so kommen, das verspreche ich dir."

„Ich will doch kriechen", krächzte Tainja.

Jester verdrehte seine Augen. „Du kriechst erst, wenn ich es sage." Mit den Worten schob er sie ein Stück höher und lächelte sie an. „Darauf freue ich mich schon." Und Tainja akzeptierte ihr Schicksal.

Jester konnte sehen, dass es noch immer regnete. Es stimmte ihn nicht optimistischer, dass sie die Bewohner von Aeolus finden würden. Auch Karins Blick verdunkelte sich. Vorsichtig setzte Jester Tainja ab und stellte sich dann an den Rand des Vorsprungs. Die Magierin kam zu ihm. Mit besorgten Augen sah sie hinaus in die Weite.

„Ich mache mir Sorgen um Tainja. Ich habe noch nie mit Verbrennungen in einem so schweren Fall gearbeitet. Ich weiß nicht, wie schlimm es um ihr Bein steht", murmelte sie, „Und ich weiß auch nicht, wie lange es noch an ihrem Körper sein darf, bevor sie sich Krankheiten oder Vergiftungen zu zieht."

„Deswegen würde ich gerne weiter. Ich kenne mich mit den ganzen Kräutern hier nicht aus, ich könnte dir nicht einmal sagen, was dabei helfen könnte", gab jetzt auch Jester zu.

Karin warf einen Blick in den Himmel. „Du willst sie echt durch den Regen tragen?" Sie erschauderte. „Ich will nicht, dass du auch noch krank wirst."

„Ich werde nicht krank", gab Jester zurück, „Aber wirklich, sorge dich lieber um Tainja, vielleicht können wir das Bein irgendwie stützen."

„Dafür brauchen wir etwas Hartes, sowas wie ein dicker Stock, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass wir in der Höhle nichts finden werden. Wir müssten wirklich heilende Kräuter suchen oder hoffen, dass wir schnell genug zu den Bewohnern kommen." Sie guckte zurück zu Tainja, welche kauernd an der Wand des Felsens saß. „Auch wenn du sie nicht leiden kannst, würde es dir nichts bringen, wenn sie jetzt stirbt."

„Und sie hat nun zwei Schulden bei mir offen, also natürlich will ich nicht, dass sie draufgeht", meinte Jester und Karin warf ihm einen bösen Blick zu.

„Hör auf so zynisch zu sein", knurrte Karin.

Jester verdrehte die Augen. „Wir gehen jetzt. Je länger wir warten, desto weiter kommen sie und desto näher kommt Toivos Trupp." Er legte den Kopf in den Nacken.

Er lief zu Tainja und rüttelte sie an den Schultern. „Hey, wir gehen jetzt weiter. Schaffst du dich noch mal festzuhalten oder muss ich dich jetzt wirklich tragen?", wollte er wissen und Tainja öffnete blinzelnd ihre Augen. „Bist du eigentlich als Leopard leichter?"

„Ich schaffe es nicht mal mich in einen zu verwandeln", murmelte sie und sackte noch ein Stückchen in sich zusammen. „Ich will mich auch gar nicht bewegen, kann ich nicht einfach hierbleiben?"

„So gerne ich das auch machen würde, leider wird das heute nichts", erwiderte Jester und seufzte. Er nahm sie unter ihren Armen und half ihr auf die Beine. „Wir können immer eine Pause einlegen, wenn du willst."

„Jetzt", sagte Tainja erschöpft.

„Nein."

Der Abstieg war schlimmer als Jester es sich jemals hätte vorstellen können. Kalt, rutschig und alles war nass. Mehrmals war er beinahe mit Tainja in den Armen die Felsen heruntergestürzt und hatte sich nur mit Mühe und Not retten können. Karin vor ihm ging es auch nicht besser. Jester verfluchte die Reise. Er hasste den Regen und die Kälte, er hasste es, dass sie nicht den normalen Weg in die Berge hatten nehmen können. Er hasste es, dass er überhaupt hier war. Ein leises Seufzen huschte über seine Lippen. Er hatte das Gefühl, das er sich ständig über das Gleiche beschwerte, es sich aber nichts änderte. Vielleicht musste er selbst einfach etwas verändern.

Er blickte in den Himmel. Einfluss auf das Wetter hatte er nicht. Eigentlich, so bemerkte er, hatte er auf nichts Einfluss. Das Leben war die letzten Wochen einfach so an ihm vorbeigerauscht und er hatte nichts davon mitbekommen. Der ganze Weg, das Verlassen seines Hauses, Mihee hinter sich zu lassen, all das kam ihm vor, als wäre es schon vor Jahren passiert und gleichzeitig, als wäre es keinen Tag her.

Jester schüttelte sich. Und da waren die seltsamen Gedanken wieder. Mit jedem Tag wurden sie anstrengender und mehr. Ständig kamen und gingen sie, wie sie wollten. Das Gefühl der unendlichen Leere breitete sich immer weiter aus und Jester konnte sich einfach nicht erklären, woher es kam. Lag es an dem langsamen Verschwinden von Ilar? Lag es daran, dass er ein Seher war und sich seine Fähigkeiten immer mehr zeigten? Jester wusste es nicht und es machte ihn wütend.

Es ging immer tiefer, jedoch konnte Jester mittlerweile schon den Boden sehen und stieß ein Dankesgebet an Ilar aus. Mit jedem Schritt wurde das Gewicht von Tainja schwerer auf seiner Schulter. Er keuchte. Der Regen war weniger geworden, doch das änderte nichts an der Tatsache, dass sie alle drei nass bis auf die Knochen waren. Sie würden sich aufwärmen müssen, bevor es weiterging, denn so würden sie keine Chance haben. Seine Haare tropften und lagen platt auf seinen Kopf. Er zitterte leicht. Karins Sorge, dass sie krank werden könnten, war doch berechtigt gewesen, nur war Jester zu stolz, um es zuzugeben.

Und dann endlich war der letzte Meter geschafft und Karins stöhnte erleichtert. „Endlich, noch länger und ich wäre erfroren", sagte sie und hockte sich hin, um nach Luft zu schnappen. „Wir sollten uns einen Unterschlupf suchen und ein Feuer machen, wir können so nicht weiter." Jester nickte, sie sprach genau das aus, was er sich gedacht hatte.

„Und wie wollt ihr Feuer machen?", kam es müde von Tainja. Sie machte sich nicht einmal die Mühe, ihre Augen zu öffnen. Wie ein Laib Brot hing sie an Jesters Arm. Ihr Gesicht war bleich und ihr Atem unregelmäßig.

Jester zuckte mit den Schultern. „Darüber machen wir uns Gedanken, wenn wir einen trockenen Platz gefunden haben", meinte er und zog Tainja wieder ein Stück höher. „Hier muss es doch bestimmt eine Höhle geben, wir sind hier schließlich in der Nähe der Berge."

„Hoffen wir, dass die Göttin uns beisteht", grummelte Karin und wrang ihre Haare aus.

„Wir haben doch einen Gott dabei, wie schwer soll das schon sein", kam es von Tainja und zu aller Überraschung hatte sie ein kleines Lächeln auf den Lippen. „Ich fand das lustig."

Jester schüttelte seinen Kopf. „Du solltest deine restliche Energie nicht dafür verschwenden."

„Ich werde mich kurz umschauen, ihr bleibt hier. Dann musst du Tainja nicht unnötig tragen", unterbrach Karin die beiden. „Ich gehe nicht weit weg."

Jester nickte.

„Du kannst mich ruhig runterlassen", meinte Tainja dann, doch Jester weigerte sich.

„Hier ist es zu nass", gab er zu bedenken und Tainja seufzte. „Ich trage dich doch eh die ganze Zeit schon."

„Trotzdem", grummelte Tainja. Ihr Atem war schwer.

Jester konnte sich nicht vorstellen, wie es für sie war. In den Armen von dem Menschen, den sie verachtete, zu hängen und sich nicht sicher zu sein, ob sie ihm vertrauen konnte. Er könnte sie einfach liegen lassen und verschwinden und sie würde sterben. Nichts machen zu können und sein gesamtes Schicksal in die Hände seines eigentlichen Feindes zu legen würde ihn wahnsinnig machen. Er schüttelte den Gedanken ab. Sie war die grausame Person von ihnen, auch wenn er auf dem Weg einmal kurz das Bedürfnis hatte, sie einfach die Klippe hinunterzustoßen und das Geräusch ihrer zerberstenden Knochen auf den Felsen zu hören. Jester zog eine Grimasse. Es würde nichts an seinem Schicksal ändern, wenn er sie sterben lassen würde.

„Ich hoffe nur, dass Karin sich beeilt."

Tainja gab ein zustimmendes Geräusch von sich und legte dann ihren Kopf auf seiner Schulter ab. „Muss mich nur kurz ausruhen", wisperte sie.

„Wenn du einschläfst, köpfe ich dich", sagte Jester halb ernst.

„Dann würde ich mich zumindest nicht mehr so fühlen, als wäre ein Schloss auf meinem Körper gelandet", gab Tainja zurück.

Jester verdrehte seine Augen. „Du warst auch mal schlagfertiger", meinte er, „Und hattest ein bisschen mehr Lebensmut in dir."

„Im Normalfall liege ich auch nicht halbtot auf deiner Schulter."

„Stimmt."

Schweigen breitete sich unter ihnen aus. Keiner der beiden hatte etwas zu sagen. Das leise Prasseln der Regentropfen war zu hören und das Zwitschern der Vögel, die sich wieder aus ihren Verstecken wagten. Eine leichte Brise durchkämmte Jesters Haare. Die Luft roch klar und sauber. Ein einzelner Sonnenstrahl erhellte den grauen Himmel und für einen kurzen Moment war alles okay.

Dann ertönte ein Schluchzten. Entsetzt blickte Jester zu Tainja. Ihre Schultern zuckten und er sah Tränen über ihre Wange strömen. Er biss sich auf die Lippe. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte sie schon vor Wut weinen sehen, als er sie im Gefängnis angeschrien hatte. Er hatte sie weinen sehen, damals im Schloss, fehlend vor ihm und um Vergebung bettelnd. Doch das war ein anderes Weinen. Es war ein Weinen, das keine Emotionen enthielt. Es war ein Weinen, das unkontrolliert kommt und sich nicht aufhalten lässt. Ein Weinen, das in den Momenten der vollkommenen Sicherheit zum Vorschein kommt und nicht mehr zu stoppen ist. Er verstärkte den Druck auf ihren Körper und lehnte seinen Kopf gegen ihren.

Er ließ sie weinen. Still gab er ihr seinen Beistand und schluchzend empfing sie diesen.

„Du hättest es damals tun sollen", brach es aus ihr heraus und ein weiteres Schluchzen durchfuhr sie. Sie zitterte und klammerte sich mit letzter Kraft an seinen Arm. „Das hätte alles einfacher für dich gemacht, es tut mir leid."

„Du hättest es damals einfach nicht tun sollen", meinte Jester nur und ein Schwall der Übelkeit überkam ihn. Die Bilder drängten sich in seinen Kopf und die Schreie hallten in seinen Ohren nach. Tainja sollte ihren Mund halten. Wut sammelte sich in ihm. Sie sollte sich nicht entschuldigen, für solche Worte war es zu spät, es war schon immer zu spät gewesen. Sie auszusprechen war eine Zeitverschwendung.

„Ich- ich-", stotterte Tainja und schüttelte sich. Dann erbrach sie vor ihre Füße. Jester schloss seine Augen und wandte sich ab. Er wollte es sich nicht angucken, er wollte Tainja nicht angucken, er wollte einfach nur weg von diesem Ort, von ihr, weg von seinem Leben, alles hinter sich lassen und zurück dahin, wo doch ein bisschen Zuhause war. Dahin, wo Mihee auf ihn warten würde, wo sie ihn leicht anlächelte und schweigend all seinen Schmerz ertrug. Wo das Leben noch in Ordnung war.

Tainja rutschte aus seinen Armen und er machte sich nicht die Mühe sie aufzufangen. Steif stand er da und ließ die Realität auf sich einwirken. Und die Realität war grausam.

„Ich habe eine Höhle gefunden, nicht weit von hier- Was ist denn passiert?" Karin stoppte abrupt, als sie vor Jester stand. „Alles gut bei euch?"

Schnaubend warf Jester ein Blick auf die am Boden liegende Tainja. „Sie hat gekotzt. Wahrscheinlich wegen ihrem Bein, Schwindel oder so", meinte er desinteressiert. „Wo ist die Höhle?"

„Wie gesagt, nicht weit von hier", wiederholte Karin und hob ihre Augenbraue. „Ich kann uns dahinführen, wenn du Tainja nimmst."

„Kannst du sie für den Weg mal nehmen, ich bin ziemlich geschafft", wimmelte Jester sie ab, „Und du hast ja gesagt, dass es nicht förderlich wäre, wenn ich krank werde, also." Er versuchte sich an einem Lächeln, jedoch klappte es nicht besonders gut.

Mit verwundertem Gesichtsausdruck nickte Karin und reichte Tainja ihre Hand. „Geht es dir gut?", wollte sie leise wissen.

Tainja nickte nur und ließ sich aufhelfen. „Wie er schon gesagt hat, mir wurde ziemlich schwindlig, lag wahrscheinlich an dem weiten Weg", meinte sie und zuckte mit den Schultern. „Jetzt ist alles wieder okay, bis zur Höhle schaffe ich das noch."

Unter Karins Anweisungen lief Jester voraus. Er war noch immer sauer und er hörte sein Herz pulsieren. Er hatte einen unbeschreiblichen Hass in seinem Herzen. Hätte er Tainja genommen, dann hätte er sie vielleicht wirklich fallen lassen. Wütend kniff er die Augen zusammen.

Karin leitete ihn erst ein Stück nach links und dann weiter geradeaus. Ihr „nicht weit" war etwas enthusiastisch gewesen, Jester fühlte sich, als würde er schon Stunden laufen. Jeder Schritt wurde anstrengender und jeder Atemzug rasselnder. Seine Hände froren fast ein und sein Kopf brummte. Die kalte Luft stand förmlich um ihn herum und der eisige Wind ließen die Felsen gruselige Geräusche von sich geben.

Schließlich nahm Karin Jester am Arm und zog ihn zur Seite. „Hier", sagte sie und deutete auf einen kleinen Spalt in der Wand.

Mit letzter Kraft quetschte Jester sich hindurch und blieb taumelnd stehen. Die Höhle war groß genug für sie alle. Sie wirkte kalt und leer, doch es war mehr, als Jester erwartet hatte. Mit einem wohligen Seufzen legte er sich auf den Boden. Aus den Augenwinkeln sah er Karin Tainja reinbringen, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch bevor ein Wort seine Lippen verließ, hatte ihn die Erschöpfung gepackt und er sank in einen tiefen Schlaf.

Jester wachte mit einem Schwert am Hals auf und sofort durchschoss ihn Panik. Sein erster Gedanke galt Toivo, doch als er aufblickte, sah ihm ein alter Mann, mit tiefen Furchen ihm Gesicht, in die Augen. Ein kurzer Blick durch die Höhle, zeigte, dass auch die anderen festgehalten wurden.

Jester räusperte sich, doch der Mann kam ihm zuvor.

„Wie seid ihr durch die Tür gekommen?", wurde Jester angefaucht.

Nervös sah er zu Karin, die ihm leicht zu nickte. „Ich habe sie geöffnet."

Das Schwert kam seiner Kehle noch näher. „Ich frage dich nochmal: Wie seid ihr durch die Tür gekommen?" Der alte Mann sah ihn totbringend an.

„Und ich habe gesagt, dass ich sie geöffnet habe."

Karin mischte sich ein. „Das stimmt. Sie ist einfach aufgegangen, wir wissen das selbst nicht." Ihre Stimme hatte einen fehlenden Unterton.

„Es gibt nur einen Weg, dadurch zu kommen und du siehst nicht so aus, als könntest du das", gab der Mann zurück und beugte sich nah zu Jester. „Oder willst du uns etwas verschweigen."

„Was soll ich verschweigen, wenn ich nicht mal weiß, was es ist?"

„Wenn du kein Seher bist, dann-"

„Ich bin ein Seher", schoss Jester zurück.

Der Mann zuckte leicht zurück. „Und dein Name?"

Jester blickte dem Mann in die Augen. „Warum sollte ich meinen nennen, wenn ich deinen nicht kenne", erwiderte er und er härte, wie Karin scharf die Luft einsaugte.

„Weil ich dir ganz einfach den Kopf abschlagen könnte und du nicht", sagte der Mann und lächelte matt. „Also, sag es, und deinen Freunden wird kein Schaden zukommen."

„Ares."

„Lügner."

„Na also, ihr wisst es doch sowieso schon, was bringt es euch, wenn ich es sage?", grummelte Jester und hob eine Augenbraue. „Du bist doch auch ein Seher."

„Ich will es aus deinem Mund hören, ich erkenne einen Lügner sofort."

„Jester Kang", sagte Jester dann und verdrehte seine Augen. „Siehst du, keine Lügen."

Der Mann zog sein Schwert zurück, genauso wie die restlichen seiner Leute. „Willkommen Jester Kang, mein Name ist Jong-Hun. Wir sind die Bewohner der Stadt Aeolus, wir laden euch herzlich ein." Ein echtes Lächeln tauchte diesmal auf seinem Gesicht auf und Jester versuchte es zu erwidern.

Er war verwirrt. Karin warf ihm einen fragenden Blick zu und Jester zuckte mit den Schultern. Die beiden wussten nicht, was jetzt los war.

„Wir werden uns um deine Freundin kümmern." Er reichte Jester seine Hand. „Und natürlich auch um euch. Wenn es euch besser geht, dann könnt ihr eure Reise fortsetzten."

Jesters Gehirn ratterte. Wer war dieser Jong-Hun?

„Entschuldigen Sie die Frage, aber-" Karin kam nicht weiter, da unterbrach Jong-Hun sie auch schon.

„Oh, Mihee hat mir viel über Jester erzählt, ich vertraue ihm."

Jester erstarrte in seiner Bewegung. „Woher kennst du Mihee?", fragte er mit belegter Stimme.

„Ich bin ihr Onkel."

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