Kapitel 2
2
Dunkelheit umhüllte mich.
»Jennifer«, vernahm ich die bebende Stimme meiner Mutter in meinem rechten Ohr. Sie erschien direkt neben mir und ihre Augen waren glasig und verängstigt. »Hör mir gut zu, Schatz. Es ist etwas Schreckliches passiert. Du musst stark sein, versprichst du mir das?«
Leises Rattern ertönte im Hintergrund, ehe ich das Weinen meiner Mutter vernahm. »Was ist denn passiert?«, fragte ich sie verwirrt, weil ich nicht ganz verstand, was hier vor sich ging. Mein Herz zog sich bei ihrem traurigen Anblick in meiner Brust zusammen, da ihre Augen von dem Weinen bereits rot angeschwollen waren, und ihr gesamtes Gesicht mit Tränen übersät war.
»Jenny, Papa ist ... er ist letzte Nacht von uns gegangen«, schluchzte sie ganz kraftlos und nahm mich in den Arm. Ich war so klein, dass sie mich mit ihrer Umarmung fast erdrückte. Ohne, dass ich ihre Worte ganz verstand, stiegen auch mir die Tränen in die Augen, und ich presste mich an ihre wohlige Brust, sodass ich ihren Herzschlag hören konnte. »Jennifer ... Jennifer«, vernahm ich meinen Namen immer wieder. »Er ist tot. Er ist weg ... für immer.«
Ich konnte nicht anders. Meine Lunge schnürte sich so sehr zu, dass ich beinahe keine Luft mehr bekam. Anschließend weinte ich so laut wie noch nie zuvor, denn der Schmerz fühlte sich für einen Moment so real an. Es war, als durchlebte ich ein zweites Mal meinen schlimmsten Albtraum.
Aufgewühlt klammerte ich mich an meine Mutter, schmiegte mich an ihre Wärme und kniff die Lider zusammen. Ihre Nähe beruhigte mich und als ich wieder die Augen öffnete, hatte sich alles um mich herum verändert.
»Dein Vater sagte mir vor unserem Aufbruch, dass du dich für Ge schichte interessierst. Er war so stolz, als er mir davon berichtete, dass du es kaum abwarten kannst, etwas über Karl den Großen und Caesar zu erfahren«, tauchte plötzlich ein alter Mann vor mir auf. Doch ich erkannte ihn sofort: der damalige Chef meines Vaters.
Mutter lächelte müde, auf einmal nicht mehr verweint und mit glasigen Augen. Im Hintergrund bemerkte ich die Umrisse unserer Küche. »Ganz der Vater, nicht wahr?«
Heiße Tränen flossen über meine Wangen, während ich reglos zu ihnen schaute. Jegliches Wort blieb mir wie ein Kloß im Hals stecken. Jeder Versuch, das Geschehen vor meinen Augen zu verstehen, endete in Verwirrung.
Plötzlich brach ein beträchtlicher Streit zwischen meiner Mutter und dem alten Chef meines Vaters aus. Alles um mich herum schien das zu machen, was es wollte, ohne dass ich Einfluss darauf nehmen konnte. Nichts schien einen roten Faden zu besitzen.
»Nein, Reinhardt, du wirst sie nicht mitnehmen! Niemals! Ich lasse nicht zu, dass du sie so verziehst wie deinen missratenen Enkel!«, schrie Mutter urplötzlich außer sich. Ich wollte nachfragen, was geschehen war, doch dann verlor ich aus heiterem Himmel den Boden unter den Füßen und schrie entsetzt auf.
Es war, als fiel ich durch die Zeit: Ohrenbetäubendes Ticken hallte durch die Luft und riss mich mit sich durch die Vergangenheit. Schnell wie ein Blitz sauste ich durch die Epochen, konnte nur eben ein Bild aus jeder einzelnen von ihnen erhaschen, ehe ich weiter gezerrt wurde und erneut in die Tiefe stürzte. Überraschend blitzte dort etwas auf. Wind peitschte mir entgegen, als ich mich im freien Fall danach streckte. Sobald ich die feinen Kettenglieder einer Taschenuhr zu greifen bekam, riss ich die Augen auf.
Schweiß rann über meine Stirn, und ich schnappte nach Luft, als hinge mein Leben davon ab. Ich spürte die getrocknete Spur salziger Tränen auf meinen Wangen und starrte in unendliche Schwärze.
Es war alles nur ein Traum, stellte ich bald fest und atmete mehrfach erleichtert auf. Mein Herz hämmerte unentwegt in meiner Brust, und ich fühlte mich wie befangen. So einen seltsamen Traum hatte ich noch nie gehabt. Und er hatte wehgetan, so weh.
Sobald ich mich halbwegs beruhigt hatte, knipste ich das Licht an und warf einen Blick auf den Wecker. Es war vier Uhr morgens. Schweigend starrte ich vor mich hin und konnte plötzlich an nichts anderes mehr denken, als an diesen Traum und die Worte der Wahrsagerin. Obendrein erinnerte ich mich an diesen seltsamen Fund im Büro meines Vaters.
Hat das alles vielleicht doch mehr zu bedeuten?, fragte ich mich. Könnte es wirklich sein, dass ... Ich führte den Gedanken nicht zu Ende und krabbelte aufgewühlt aus dem Bett.
Vielleicht lässt sich etwas finden, dachte ich. Etwas, das mir sagt, dass ich nicht verrückt bin. Mir schossen tausend Gründe durch den Kopf, die besagten, dass ich mich irren konnte und mich in Hirngespinsten verrannte. Aber warum sonst sollte mein Vater solche Unterlagen in seinem privaten Büro lagern, wenn dafür kein triftiger Grund vorlag? Und warum gab es in letzter Zeit so viele seltsame Vorfälle? Vielleicht hatte all das mehr Bedeutung, als ich auch nur erahnen konnte.
So schlich ich mich in das Büro und schaltete den alten Computer an. Der Bildschirm flackerte auf und sobald das Betriebssystem richtig geladen hatte, öffnete ich den Browser. Es gibt heutzutage schließlich nichts, was sich nicht im Internet finden lässt.
Ich murmelte die Worte vor mich her, als ich sie in der Suchleiste ein tippte: »Alt-Historisches Museum Berlin, Taschenuhr.«
Der Computer neben meinen Füßen ratterte und es luden mehrere Ergebnisse meiner Suche. Anschließend klickte ich auf den ersten Link einer regionalen Zeitung, der mir vielversprechend schien: Unglaubliche Entdeckung gemacht!
»Längst verschollene Quellen wurden von dem Museumsdirektor des Alt-Historischen Museums in Berlin wiederentdeckt und aufgearbeitet. Geheimnisse, die sich Historiker seit jeher über die Varusschlacht im Teutoburger Wald gestellt hatten, konnten endlich geklärt werden. Bei nahezu detailreich soll in diesen verschollen geglaubten Quellen, neben den entscheidenden Tagen dieser Schlacht, auch jegliche Handlung festgehalten worden sein. Anscheinend war ein Schriftführer der gefallenen Legion in der Lage gewesen, bis zu seinem Tod alles in altem Latein festzuhalten. Stolz präsentierten Reinhardt Abel und sein Kollege Peter Wingslow daher ihre Forschungsergebnisse vor zahlreichen Gremien. Die Zusicherung für zukünftige Projekte scheint ihnen wohl sicher«, las ich den Artikel im Flüsterton vor.
Ich hielt die Luft an und klickte mich durch weitere Seiten, ehe ich auf einen eingescannten Artikel aus einem Archiv traf: 1984: Museumsdirektor Willhelm Fichtenburg auf mysteriöse Weise verstorben! Anbei befand sich ein Foto, das in mir keine Zweifel mehr hinterließ: Der wohl verstorbene Wilhelm Fichtenburg – welcher einen recht auffälligen Bart besessen haben musste – war dort zusammen mit dem jungen Reinhardt Abel zu sehen. Gemeinsam hielten sie stolz eine seltsame Taschenuhr in die Höhe: Die Zahlen stimmten mit denen auf den Skizzen überein. Alle meine Zweifel waren auf einmal wie weggeblasen.
Ein Schauer jagte über meinen Rücken und kribbelte an allen meinen Nerven, sodass ich eine Gänsehaut bekam. Es gab sie also wirklich. Ich konnte es nicht fassen, es existierte eine Zeitmaschine. Hier, direkt in Berlin.
Nervös schaute ich mich immer wieder um, als könnte jeden Moment jemand hinter mir auftauchen. Niemand durfte davon erfahren. Und vor allem durfte niemand herausfinden, dass ich von dieser Uhr wusste. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, was dann passieren würde!
Ich löschte den Verlauf und schaltete den Computer aus. Und was nun?, fragte ich mich. Nichts, war wohl die naheliegendste Antwort, jedoch eine, die mich nur wenig zufrieden stimmte. Denn da war etwas in meinem Inneren, das vor Aufregung wild darauf pochte, diese Taschenuhr mit eigenen Augen zu sehen. Das Verlangen danach zerrte an mir; denn stellte ich mir vor, wie jemand damit durch die Zeit reiste, dann schlug mein Herz sogleich um das zehnfache höher. Das war, wovon ich immer geträumt hatte. Vergangenheit leben.
Plötzlich kamen die Selbstzweifel wieder in mir auf: Was, wenn ich mich irrte? Oder ich mir alles nur einbildete? Es gibt so viele Möglichkeiten, wie man etwas falsch deuten kann. Fettnäpfchen lauern überall und die Vorstellung an eine Zeitmaschine – Himmel, wenn es sie denn wirklich geben sollte! – überstieg meinen Verstand bei weitem. Es bedeutete nämlich, dass ich all die Dinge, an die ich zuvor geglaubt oder eben nicht geglaubt hatte, hinterfragen musste. Von meinen Gedanken nahezu gerädert, schlug ich die Hände über den Kopf zusammen und wusste nicht, wie es nun weitergehen sollte.
Ich kann das nicht allein, dachte ich verzweifelt. Was soll ich nur tun? Sollte ich überhaupt etwas tun? Es war zum Verzweifeln. Mein Herz sagte mir, ich sollte der Sache nachgehen; mein Verstand hielt, trotz der wenigen Beweise, die ich für die Existenz auftreiben konnte, an einer Realität ohne Zeitreisen fest. Aber eines war immerhin sicher: Ich musste einen kühlen Kopf bewahren und mir die Zeit nehmen, darüber nachzudenken. Schlafen war demnach das Beste, was ich vorerst tun konnte. Und danach schien mir ein Telefonat mit Natalie für angebracht – sie würde mich zumindest nicht als verrückt abstempeln und hatte bestimmt den ein oder anderen guten Rat parat.
»Ist das dein Ernst?«, vernahm ich Natalies aufgeregte Stimme am nächsten Morgen durch den Telefonhörer. »Du bist dir auch wirklich hundertprozentig sicher, dass es diese Uhr gibt?«
»Naja, nicht hundertprozentig«, druckste ich und presste ein Kissen fest an mich. Ich spürte das Hämmern meines Herzens in mir, als würde es bei jedem einzelnen Pochen gegen meine Rippen schlagen. »Ich habe zumindest einige Indizien dafür gefunden und ... da ist dieses seltsame Gefühl in meiner Brust. Wie eine Vorahnung, dass dieses Ding wirklich real ist. Denkst du, ich drehe langsam aber sicher durch?«
»Du bist der letzte Mensch auf Erden, der bei irgendwas durchdrehen würde«, versuchte Natalie, mich zu beruhigen. »Weißt du was? Geh einfach hin und vergewissere dich vor Ort. Wenn man dich wieder wegschickt, weißt du, dass das alles Irrsinn war.«
»Ich soll also zu diesem Museum gehen und mich zum Depp machen?«, runzelte ich die Stirn, obwohl mir ihr verrückter Vorschlag gefiel.
»Es würde zumindest deinem seltsamen Gefühl ein Ende bereiten, oder nicht?«, erwiderte sie. »Was machst du, wenn es stimmt? Also wenn man tatsächlich durch die Zeit reisen kann, dank dieser komischen Uhr?«
Obwohl sie es nicht sehen konnte, zuckte ich mit den Schultern. »Ich weiß nicht ...«, murmelte ich beklemmt. Röte stieg mir in die Wangen, denn ich wusste sehr wohl, was ich dann wollte: mit ihr reisen. Jedoch wusste ich auch, dass mir kein Mensch auf der Welt die Möglichkeit dazu geben würde. »Was soll ich da schon tun?«
»Ich dachte, du wärst so vernarrt in die Geschichte! Ist das nicht eine einmalige Chance, sich alles einmal anschauen zu können?«, blaffte Natalie. Überrascht von ihrem Tonfall zuckte ich leicht zusammen.
»So einfach ist das aber nicht«, protestierte ich und fühlte mich ertappt. »Man kann nicht einfach irgendwo hineinspazieren und verlangen, durch die Zeit zu reisen. Mal ganz davon abgesehen: Weißt du, wie gefährlich sowas ist?«
»Ich sage ja nicht, dass du damit ins tiefste Mittelalter reisen sollst«, schüttelte sie ab. »Denk dir etwas aus! Tust du es nicht, und es stellt sich heraus, dass es wirklich sowas wie Zeitreisen gibt und du, als die geschichtsinteressierteste Person, die ich kenne, es versaust, eine machen zu können, wirst du es bitterlich bereuen!«, argumentierte sie, und ich musste ihr wohl oder übel recht geben.
»Na gut ...«, meinte ich nach einer kurzen Pause, »und ich glaube, ich habe bereits eine Idee.«
»Super«, lobte Natalie. »Das ist meine Freundin! Worauf wartest du? Geh hin und berichte mir danach alles! Du schaffst das!« Ich begann zu kichern und vergaß einen Augenblick lang meine Sorgen. »Versprochen. Bis später«, verabschiedete ich mich und legte auf. Nun hieß es jedes Bisschen Mut in meinem Inneren zusammenzukratzen. Denn es war beschlossen: Ich muss zum Museum und diese Uhr mit eigenen Augen sehen. Koste es, was es wolle.
Daraufhin machte ich mich fertig und huschte anschließend in das Büro, um mir eines der mysteriösen Dokumente einzustecken. Ich war mir sicher, dass ich es gut gebrauchen konnte. Immerhin wusste ich nicht, was oder wer mich in diesem Museum erwarten würde. Was ich aber wusste, war, dass ich auf alles vorbereitet sein musste.
»Jennifer, was ist hier los? Was machst du in Papas Büro?« Mutter stand auf einmal hinter mir im Türrahmen. Kaum merklich zuckte ich zusammen.
»Ich gehe in die Innenstadt und wollte nur eben eine Biografie zum Lesen mitnehmen«, lenkte ich ab und versuchte, so schnell wie möglich, das Papier in der Tasche verschwinden zu lassen. Daraufhin versenkte ich die Biografie über Napoleon Bonaparte ebenfalls darin. Sollte sie herausfinden, dass ich zum Alt-Historischen Museum wollte, dann würde sie mir eine Predigt darüber halten, wie verflucht dieser Ort doch wäre. Schweigend beobachtete sie, wie ich zurück in den Flur huschte und mir mein Portemonnaie einsteckte.
»Wo genau geht es denn hin? Hoffentlich nicht wieder irgendwo rumlungern«, hakte sie nach, noch während ich mir ein Paar Schuhe anzog. »Nein, Mama. Natalie und ich wollen ins Kino«, log ich ihr vor und zog mir eine Jacke über. Meine Hände waren vor Aufregung mit Schweiß benetzt.
»Und da brauchst du ein Buch? Ich dachte, im Kino schaut man einen Film«, runzelte sie die Stirn. Mein Herz sackte zehn Etagen in die Tiefe, als mir auffiel, dass sie recht hatte.
»Naja, zum Überbrücken der Zeit«, druckste ich und versuchte mit aller Kraft, mir nicht anmerken zu lassen, dass sie mich fast ertappt hatte. »Du weißt schon, manchmal muss man da doch warten, bis man in den Saal kann, und ...«
»Na gut«, seufzte Mutter. »Viel Spaß, mein Schatz. Und bleib bitte nicht so lange weg.«
Ich öffnete die Haustür und lächelte ihr entgegen. »Alles klar. Mach's gut!«
Kurz darauf hastete ich die Treppen herunter. Es fühlte sich an, als zöge mein Herz mich förmlich zu diesem Museum. Ich hoffte nur, dass zumindest die Wahrsagerin mit ihrer Vorhersage nicht recht hatte – großes Unglück war so ziemlich das Letzte, was ich gerade gebrauchen konnte.
Eine seichte Brise fegte über die Straße, als ich sie nach der Fahrt mit der S-Bahn überschritt. Wolkenloser Himmel erstreckte sich über der Stadt und ließ die Straßen und Kreuzungen Berlins von der Sonne er hellen, ebenso wie die Sandsteintreppen des Alt-Historischen Museums.
Ich hatte das Museum noch nie in meinem Leben betreten. Schließlich dachte meine Mutter seit dem Tod meines Vaters, dass dieser Ort verflucht wäre und jeden zu Grunde richte, der es betrete. Ich hatte nie nachvollziehen können, warum sie alles, was meinem Vater einst so wichtig gewesen war, schlecht redete. Die Arbeit war sein Leben gewesen, Historik die Essenz seiner Seele.
Als ich vor dem mächtigen Gebäude stand, hielt ich inne. Nichts an ihm erweckte in mir das Gefühl, dass es verflucht sei. Ganz im Gegenteil; es wirkte durch seine helle Fassade einladend und versprach mit jeder seiner Ecken und Kanten kulturelle Bereicherung.
Plötzlich schüchterte mich seine Größe ein und ich erinnerte mich daran, was alles schief laufen könnte. Das schlimmste Szenario, das ich mir ausmalte, war jenes, in dem mich die Mitarbeiter schallend auslachten, und ich der Tatsache ins Auge blicken musste, dass ich verrückt war.
Aber was, wenn ich es nicht war? Was, wenn Träume wahr werden konnten? Carpe diem, sagte ich zu mir, atmete tief durch, sammelte allen Mut zusammen und betrat das Gebäude: Es war riesig und bot von außen ein Aussehen, das auf den ersten Blick an einen Schrein erinnerte. Die Wände waren leuchtend hell und sauber verputzt und der Boden bestand aus Marmorsteinen, durch welche sich leichte Silhouetten von Muscheln und alten Krebsen erkennbar machten.
Es ähnelte einem Palast, mit den riesigen Säulen rechts und links, welche sich durch die riesige Eingangshalle zogen bis an die kuppelartige Decke, welche nur aus Glas bestand. Vor mir bahnte sich ein roter Teppich den Weg zu einer großen Theke, an welcher Mitarbeiter in formeller Kleidung standen. Hinter ihnen verzierte ein riesiges Plakat zu der neusten Ausstellung die Halle.
Mit offenem Mund stand ich in der Menschenmenge und konnte es einfach nicht fassen, dass an einem so wundervollen Ort mein Vater gearbeitet haben sollte. Es war alles viel bunter, als ich es mir vorgestellt hatte.
Das Lachen einer Reisegruppe riss mich aus meiner Trance und erinnerte mich daran, dass ich wegen etwas ganz Speziellem hier war. Also beschloss ich kurzerhand, den nächstbesten Mitarbeiter anzusprechen.
»Guten Tag, kann ich Ihnen behilflich sein?«, grüßte mich sogleich eine junge Dame am Infostand. »Suchen Sie etwas Bestimmtes?«
»Ähm ... ja«, löste ich den Kloß in meinem Hals, welcher sich vorübergehend gebildet hatte. »Ich habe hier einen Fund, den ich gerne einen Ihrer Historiker vorgelegt hätte. Mein Vater war hier nämlich vor einer geraumen Zeit Mitarbeiter und hat dies hinterlassen ...« Kaum war ich geendet, wühlte ich das Dokument aus meiner Tasche und reichte es der Frau, welche sich das Papier ein wenig ratlos anschaute. Großartig, dachte ich anbei, sie hält mich schon mal für verrückt. Das wird immer besser und besser ...
Vermutlich der Höflichkeit halber schenkte sie mir ein Lächeln. »Einen Moment bitte«, bat sie und drehte sich darauf zu einem weiteren Mitarbeiter. Ich vernahm die getuschelten Worte nur vage: »Jonathan, sagt dir das was?«
»Ich kümmere mich darum«, murmelte der andere zurück, nahm ihr das Dokument aus der Hand und lief um die Theke herum zu mir. »Woher haben Sie das?«, fragte er mit entschiedener Miene, die wie ein ungeheuerliches Beben durch Mark und Bein drang.
Ich sah in das Gesicht eines jungen Mannes mit blondem kurzem Haar, leichten Stoppeln am Kinn, grünen Augen und gerahmt von flachen Wangen. Er trug eine Brille mit dickem schwarzem Rahmen und sah insgesamt ziemlich eigenwillig aus.
»Wie bereits gesagt ... Das ist das Dokument meines Vaters, und ich möchte wissen, was es damit auf sich hat«, erwiderte ich verunsichert. Unbemerkt hatte ich damit angefangen, an der Naht meiner Jeans herumzuzupfen.
»Folgen Sie mir. Sofort.«
Er führte mich vorbei an der Theke und zwischen den großen Säulen her, in einen mit Holztafeln verzierten Flur und dann zu einer Tür aus Kirschbaumholz. Die Aufschrift Abel prangte auf einer goldenen Scheibe, welche an die Tür montiert war.
Das Büro des Museumsdirektors, erkannte ich. Also bin ich doch nicht verrückt, oder? Wenn sich der Direktor höchstpersönlich meiner annimmt, dann kann es sich doch nur um etwas Wichtiges handeln.
Der junge Mann klopfte und öffnete kurz danach den Eingang, ohne, dass zuvor ein ›Herein‹ von innen zu hören gewesen war. »Hier ist et was, das du sehen solltest«, teilte er mit, trat in den Raum und legte das Dokument auf den Schreibtisch.
Meine Gedanken überschlugen sich und mir stieg der wohlige Geruch von Kaffee und alten Büchern in die Nase. Ich lugte neben dem Angestellten hervor und entdeckte den Direktor. Er sah aus wie der Mann, welcher im Traum mit meiner Mutter geredet hatte: Er war ein alter Mann mit sauberen Bart im Gesicht, glatten Haaren, welche bis an sein Kinn reichten, mit einer schmalen Brille auf der kantigen Nase und glatten Gesichtszügen. Er lächelte mir nur freundlich zu und an seinem leicht irritierten Blick konnte ich ablesen, dass er im Inneren gerade am Überlegen war, wem aus seinem Bekanntenkreis ich ähnlich sah.
Der Mann vor mir trat beiseite, damit der Direktor mich besser mustern konnte. »Wie ist dein Name?«, wollte er wissen.
»Jennifer Wingslow«, antwortete ich.
»Wingslow? Wie lange habe ich diesen Namen nicht mehr gehört!« Scheinbar amüsiert stand der Mann auf und streckte sich hinter seinem Schreibtisch. »Setz dich, Jennifer, und wir trinken gemeinsam eine Tasse Kaffee!« Mit diesen Worten setzte er sich dann auch wieder.
Ich nickte leicht und machte es mir auf dem weichen, mit Samt bedeckten Stuhl vor seinem Tisch bequem. Ich spürte, wie sich hinter mir ein leichter Luftzug regte.
Der Direktor hob den Kopf. »Jonathan, bringst du uns zwei Tassen Kaffee?« Mit einem leisen Murren Jonathans fiel die Tür ins Schloss. Ich lehnte mich gebannt in dem Stuhl zurück und wusste nicht, was mich erwartet.
»Der Tod deines Vaters tut mir wirklich schrecklich leid. Ich kann es nur immer wieder betonen, welch einen Verlust er für uns darstellt«, ergriff der Direktor daraufhin das Wort. »Also, wie kann ich dir helfen? Ich sehe, dass du ein Dokument bei dir geführt hast.«
Er nahm das Papier in die Hand und begann es sorgfältig zu begutachten, wobei er seine Brille immer wieder zurecht schob. Danach legte er es schnaufend auf dem Tisch ab. Erwartungsvoll hob ich meine Augenbrauen und mein Herzschlag verdoppelte sich. Bitte, lass mich nicht verrückt sein, dachte ich.
Die Tür ging auf. Ich schaute über meine Schulter hinweg zu dem jungen Mann, welcher die Tür hinter sich schloss und dann mit dem hölzernen Tablett auf den Händen neben mich trat. Jonathan Abel, stand auf seinem Namensschild.
Der Direktor räusperte sich und meine Muskeln spannten sich so gleich wieder an. »Woher hast du dieses Dokument, meine Liebe?«
»Aus dem Büro meines Vaters«, gestand ich.
»Gibt es in diesem Büro noch mehr dieser Dokumente?« Seine Stimmlage war ernst, doch seine Augen versprühten eine angenehme Wärme. Ich dachte kurz nach und antwortete letztendlich: »Nicht, dass ich wüsste.«
»Das ist gut, gut«, sagte er in einem Anflug von Erleichterung. »Nun, dein Vater hat diesem Museum sehr viel Gutes gebracht. Nachdem er an diesem grausamen Herzinfarkt verstorben ist, mussten wir uns vollkommen umorganisieren, aber das möchtest du bestimmt nicht hören. Du und deine Mutter wart in den letzten Jahren bestimmt oft hier. Hast du denn schon unsere neueste Ausstellung gesehen? Sie befasst sich überwiegend mit dem Journalismus im 19. Jahrhundert. Wenn du möchtest, kann Jonathan sie dir zeigen. Er kennt sich wirklich sehr gut damit aus. Du wärst überrascht, wie viel er von dieser Zeit weiß.«
Ich warf einen Blick zu Jonathan, welcher mir regungslos entgegen starrte. Seine grünen Augen durchbohrten förmlich die meinen, als versuchte er, meine Gedanken zu lesen. »Vielen Dank für das Angebot, aber ich bin wegen des Papiers hier und nicht wegen irgendeiner Ausstellung ...«, erwiderte ich nach einem Zögern. »Ich möchte wissen, was das für eine Uhr ist, die auf den Konstruktionen abgebildet ist.«
Der Direktor verharrte für einen Moment und musterte mich. Unbehagen breitete sich in mir aus. Das ist verrückt, was ich hier mache, dachte ich, er hält mich für wahnsinnig!
»Moment«, sprach er und stand von seinem Posten auf. Er ging über den knarzenden Dielenboden zu einem kleinen Schrank und offenbarte dahinter einen Tresor mit Zahlenverschluss. Mein Atem begann vor Aufregung zu stocken, und ich saß wie angewurzelt dort. Zeigt er mir etwa jeden Moment diese Taschenuhr? Heißt das, ich irre mich nicht? Es gibt sie tatsächlich?
Er gab irgendeine Zahlenkombination ein und brachte eine kleine Schatulle zum Vorschein, welche er daraufhin auf den Tisch platzierte. Wie festgefroren starrte ich das Behältnis an, und es lief mir heiß und kalt über den Rücken.
»Du kannst sie ruhig öffnen, nur keine Scheu.«
Meine Starre löste sich, ich schob meine zitternden Hände über das Pult und ergriff die Schatulle. Beim ersten Versuch, das Kästchen zu öffnen, rutschten meine feuchten Finger vom Verschluss. Ich musste innehalten und einmal tief ein und ausatmen, ehe mir das Öffnen gelang.
Der Innenraum war mit rotem Samt gefüttert und in der Mitte lag die Taschenuhr, verziert mit Bernsteinelementen. Ich ergriff sie und begutachtete die Oberfläche. Das war feinste Handarbeit, stellte ich fest.
»Wir nennen es das Chronometer. Klapp es auf«, forderte der Direktor, und ich tat, wie mir geheißen.
Zum Vorschein kam ein kleines Ziffernblatt, auf dem eine Weltkarte abgebildet war, mit einem weiteren, größeren Blatt darunter. Es war, wie in den Notizen beschrieben: Auf dem unteren Ziffernblatt waren zweimal die Null und zweimal die Neun abgebildet und man konnte einen größeren und einen kleineren Zeiger bewegen. Auf dem Oberen waren einmal die Zahlen eins bis zwölf und dann nochmal die Zahlen eins bis einunddreißig zu erkennen. Wieder konnte man zwei Zeiger bewegen.
Mir schwirrte der Kopf bei der Komplexität dieses kleinen Gegenstands. Eines war ich mir jedoch bewusst: Die Taschenuhr befand sich direkt vor mir. Und sie war real. Ein Schauer überkam mich, und ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte.
Jonathan breitete eine Weltkarte auf dem Tisch aus. »Leg das Chronometer auf ein Land. Dann stellst du auf dem unteren Ziffernblatt die Zahlen siebzehn und siebzig ein und auf dem Oberen fünf und vierzehn«, wies der Direktor an.
»Wieso? Wozu ist das gut?«, fragte ich unsicher.
»Das wirst du gleich sehen. Stell die Uhr.«
»Aber ...«
»Du bist doch genau deswegen hier, oder nicht? Nun mach, es kann gar nichts schiefgehen«, drängte er, und ich war so überfordert, dass ich, ohne nachzudenken, die Taschenuhr auf Österreich platzierte. Soll ich etwa einfach so eine Zeitreise machen?, dachte ich schweißgebadet. Ich weiß doch gar nicht, wie das alles funktioniert, oder was da zu tun ist! Das ist Wahn sinn!
»Stell die Räder. Unten siebzehn und siebzig, oben fünf und vier zehn«, wiederholte sich der Direktor, und ich sah mich gezwungen, seinen Anweisungen Folge zu leisten.
Vorsichtig legte ich meine Finger an das oberste Rädchen und begann somit den längeren Zeiger des unteren Ziffernblattes auf die Zahl sieb zehn zu stellen. Dann drehte ich den Nächsten auf siebzig. Zum Schluss standen die Zeiger auf 17-70 14-05.
Neben mir spürte ich die Anspannung Jonathans und den gebannten Blick von Direktor Abel. Ich hielt den Atem an und konnte meinen Blick nicht mehr von dem Ziffernblatt weichen lassen. Ich hatte das Gefühl, dass jeden Moment etwas Unglaubliches passieren musste.
Auf einmal begann die Taschenuhr zu rattern. Die Ziffern leuchteten wie Sterne in der Nacht auf, und die Zeiger drehten sich in hoher Geschwindigkeit. Ich schloss unbewusst die Augen, spürte kalte Luft an meiner Haut und wie diese Kälte meinen Nacken hinauf kroch.
Was passiert hier?, fragte ich mich und bekam es leicht mit der Angst zu tun, als ich nicht mehr in der Lage war, mich zu bewegen. Ein Schauer überzog meinen Körper, er begann zu vibrieren und einen Augenblick später fand ich mich auf einem harten und mit Pflastersteinen besetzten Boden wieder.
Hektisch fuhr ich auf und rang nach Luft. Mein Körper fühlte sich noch immer an, als wäre er am Beben. Wäre meine Stimme nicht für einen Moment weg gewesen, hätte ich wahrscheinlich geschrien.
Sobald das Bild vor meinen Augen klarer wurde, beruhigte mein Körper sich, und ich erblickte einen wolkenbehangenen Himmel über mir. Wo bin ich? Wie bin ich hierhin gekommen?, fragte ich mich und musste auf einmal stark husten, da mir der Aufprall alle Luft aus meinen Lungen gefegt hatte.
Die Kraft kehrte in meine Muskeln zurück, und ich fühlte mich, als sei ich wieder Herrin meines Körpers. Ich versuchte, mich zusammenzureißen und stemmte mich auf. Der Geruch von Exkrementen und frischem Brot lag in der Luft. Unter meinen Händen spürte ich Dreck und feuchte Erde.
Zum Glück war ich weitestgehend unversehrt, zumindest wenn man davon absah, dass meine Glieder sich anfühlten, als wären sie aus Blei, und dass mein Kopf zu platzen schien. Schwankend stand ich auf und stützte mich an der rauen Hausfassade neben mir ab. Das ist doch unmöglich, dachte ich verängstigt. Ich wurde irgendwo anders hin teleportiert.
Irritiert wandte ich meinen Kopf. Vor mir lag eine hohe Mauer, welche zusammen mit den hohen Gebäuden meine Umgebung in Schatten hüllte. Der Ort, an dem ich mich befand, war also eine Sackgasse. Der Direktor und dieser Jonathan waren verschwunden – ich war vollkommen allein.
Schwungvoll drehte ich mich einmal um mich selbst und blickte einen kurzen, mit Steinen gepflasterten Weg hinunter, welcher umgeben von hohen Häusern war. Langsam schleppte ich mich bis an den Anfang der Gasse und erhaschte einen Blick auf einen mit Sonne erhellten Platz. Frauen und Männer in teils pompöser, aber auch einfacher Kleidung sprachen vor den Häusern. Von Weitem war das Klackern von Pferdehufen zu hören.
Diese Mode, dachte ich wie erstarrt und blieb abrupt stehen. Meine Knie wurden ganz weich, als ich mir der Tatsache bewusst wurde: Oh Gott, das ist Bekleidung aus dem Spätrokoko!
Ich verkniff einen Aufschrei und warf mich direkt hinter ein paar Kisten und Säcke voll Getreide, damit man mich nicht entdeckte. Hektisch schnappte ich nach Luft. Hunderte Szenarien spielten sich vor meinem inneren Auge ab, was gerade alles schiefgehen konnte. Dachte man nur daran, wenn mich jemand entdeckte, oder ...
Mein gesunder Menschenverstand kam gegen meine derzeitige Situation nicht an; meine Atmung konnte und wollte sich nicht beruhigen. Ich nahm nichts mehr um mich herum wahr, als die Angst, die ich verspürte. Tief in meiner Brust schlug mein Herz Randale. Himmel, ich war soeben tatsächlich in der Zeit gereist!
Und es klang so absurd in meinen Ohren!
Meine Gedanken kreisten einzig und allein darum, dass ich soeben circa zweihundert Jahre in die Vergangenheit gereist war, und ich fragte mich, wie so etwas nur möglich sein konnte. Mal ganz davon abgesehen, dass ich nicht auch nur die geringste Ahnung hatte, wie ich wieder zurückkommen sollte.
Ich stieß leise Flüche in die Luft, die von meiner Verzweiflung zeugten. Und was nun?, fragte ich mich verzweifelt. Muss ich nun etwa für den Rest meines Lebens hier bleiben? Allein bei dem Gedanken daran erschauderte ich. Ein Leben im 18. Jahrhundert würde alles andere als großartig sein.
Das war genau das, was ich nicht gewollt hatte. Geschichte live erleben, schön und gut und wirklich mein absoluter Traum. Aber ich wollte und brauchte die Möglichkeit, heimkehren zu können. War das hier das große Unheil, welches die Wahrsagerin mir prophezeit hatte?
Auf einmal bemerkte ich eine Schwere in meiner Jeanstasche. »Das kann nicht wahr sein«, murmelte ich bei dem Anblick der Taschenuhr, welche ich soeben hervorzog. Ich klappte sie auf und las auf dem Ziffernblatt dieselbe Kombination, welche ich noch vor wenigen Minuten eingegeben hatte.
Verzweifelt starrte ich sie an, als wäre das die Lösung, mich ins 21. Jahrhundert zurückzubringen. Denk nach, ermahnte ich mich, es muss eine so simple Lösung geben, dass selbst der Direktor glaubt, dass ich es auch irgendwie allein schaffen kann, zurückzureisen. Ein Seufzen entfuhr mir. Es war zum Verzweifeln. Vielleicht musste ich einfach der Tatsache ins Auge blicken, dass ich verloren war ...
In genau dem Moment ging mir ein Licht auf. Wenn die Uhr mich durch das Stellen der Zeiger in eine andere Zeit bringen konnte, wieso sollte sie mich so nicht auch zurückbringen können? Wie wild drehte ich an den Zeigern, sodass das heutige Datum zu sehen war und betrachtete zufrieden das Ziffernblatt.
Doch mit einem Mal schrie jemand. Erschrocken blickte ich auf und sah in das Gesicht eines jungen Mädchens, welche eine zu große Schürze trug und Mehl an den Wangen hatte. Mit großen Augen und aufgerissenem Mund schaute sie zu mir runter.
»Oh nein«, stieß ich aus, noch ehe die Zahlen auf dem Chronometer in meinen Händen aufleuchteten, und ich mich keine Sekunde später im Raum des Direktors wiederfand, als wäre ich nie weg gewesen. Nur der Dreck an meiner Kleidung gab einen Hinweis darauf, was ich soeben erlebt hatte.
Vollkommen fertig schnappte ich nach Luft. »W ... Was war das?«, kam es mit zittriger Stimme aus mir heraus. Die Gefühle von Angst und Euphorie flimmerten durch meine Glieder und trieben mir den Schweiß auf die Haut.
»Was denkst du denn, was es war? Natürlich eine Zeitreise«, flötete der Direktor und überwand damit seine anfängliche Verwunderung über mein plötzliches Verschwinden. »Es ist wirklich faszinierend, nicht wahr?«
Mir schossen tausend Fragen in den Sinn, jetzt, wo ich alles vollends realisierte. Es kam mir so unwahr vor, dass ich fast meinte, in diesem Moment zu träumen. Ich musste der Versuchung widerstehen, mich zu kneifen. Stattdessen sprudelte es nur so aus mir heraus: »Wie ist so etwas nur möglich? Wie kann diese Uhr nur existieren?«
Jonathan packte die kleine Zeitmaschine zurück in die Schatulle. Ich ertappte ihn dabei, wie er danach mit einem argwöhnischen und zugleich irritierten Blick zu mir schaute.
»Das weiß ich leider auch nicht so genau«, setzte der Direktor an, »aber wir wissen ganz sicher, dass eine Art Impuls durch diese Gerätschaft entsandt wird. Du hast ein Rauschen gespürt? Das ist der Impuls, der unserem Gehirn die Nachricht vermittelt, dass sowohl unsere physische als auch psychische Ebene an einen anderen Ort wechselt. Die menschliche Willenskraft kann stärker sein, als man denkt.«
Unweigerlich dachte ich daran, dass dies ebenso eine Erklärung aus einem Science-Fiction Buch hätte sein können. Die ersten Zweifel kamen in mir auf, jedoch verschwanden sie schnell unter der Größe meiner Euphorie.
»Und wo kommt diese Taschenuhr dann her? Wer hat sie erbaut, und was hat mein Vater damit zu tun?«, machte ich weiter.
»Dein Vater ist für Forschungszwecken mit ihr gereist.«
Meine Güte – was?, dachte ich und mein Herz machte vor Entsetzen einen Aussetzer. Mein Vater war ein Zeitreisender? Ich muss wohl träumen! Der Direktor stand auf und zog aus einem hohen Schrank voller Akten einen Ordner hervor, welchen er mir darauf in die Hände drückte. »Das hier sind die Berichte deines Vaters«, erklärte er.
»Für Forschungszwecke?«, wiederholte ich und saß mit offenem Mund da, während ich durch den Ordner blätterte und meinen Augen kaum trauen konnte. »Was genau soll das bedeuten?«
Jonathan stand auf und begann die Tassen wegzuräumen (darunter auch meine, aus der ich es bisher nicht geschafft hatte, auch nur einen Schluck zu nehmen), wobei ich hörte, wie er ein genervtes Stöhnen von sich gab.
»Das bedeutet, dass wir erforscht haben, was Sage und was Wahrheit ist«, erläuterte der Direktor.
Mein Mund klappte wieder zu, und ich biss mir auf die Unterlippe. Die plötzlich aufgetauchten Quellen aus dem Artikel, schoss es mir in den Sinn. Und gleichsam kamen alle weiteren Zweifel in mir hoch: Was macht eine solche Uhr in einem einfachen Museum? Und wie können sie die Quellen publik machen? Wieso präsentiert man mir die Taschenuhr einfach so aus freien Stücken? Da ist eindeutig etwas faul.
Ich atmete tief ein und aus, weil sich ein wahnwitziger Gedanke in mir auftat. Es war jedoch die Chance, von der Natalie gesprochen hatte. Carpe diem, erinnerte ich mich und fasste Mut. Vertraue in deine Stärken.
»Was wollen Sie mit solchen Untersuchungen anfangen?«, wollte ich daher wissen. »Wie können Sie Ihre Forschung verkaufen, wenn nicht alle Welt von dieser Taschenuhr weiß? Und warum nutzt ein Museum wie dieses eine solch wertvolle Sache nur für sich?«
Die Augen des Direktors waren plötzlich einzig und allein auf mich fixiert. Nachdenklich hob er eine Hand, um sich durch den grauen Bart zu fahren. »Wir halten das Chronometer schon seit über fünf Jahrzehnten unter Verschluss, du bist einer der wenigen Menschen, die überhaupt von ihrer Existenz wissen. Und das soll auch so bleiben.«
Jonathan löste seinen Mantel des Schweigens und klinkte sich ein: »Wir arbeiten unsere Forschungen zu sekundären Quellen auf, wodurch sie tragbar werden.«
Daraufhin schwieg ich und schaute zwischen dem Direktor und dem Chronometer hin und her. Jonathans Einwand klang schließlich nach vollziehbar. Die Erinnerung an das Gefühl der Angst und Euphorie kam in mir auf. Mein Traum schien zum Greifen nahe – eine Taschenuhr, die das Zeitreisen ermöglicht, war wirklich Realität, und durch sie konnte ich in die Fußstapfen meines Vaters treten.
»Was, wenn die Existenz dieser Uhr an die Oberfläche gelangt?«, hakte ich nach. »Was würden Sie dann tun?«
Die Augen des Direktors beobachteten mich mit der Schärfe eines Falken. Es lag keine Wärme mehr in ihnen ... Da war Eitelkeit, Zorn und Missgunst. »Du drohst mir?«, meinte er. »Du bist doch fast noch ein Kind. Willst du wirklich so weit gehen?«
»Ich frage nur rein hypothetisch«, ruderte ich sofort zurück, da mich langsam aber sicher das Unbehagen packte, und ich realisierte, was für scharfe Worte ich äußerte.
Er schaute mich nur noch durch schmale Schlitze an. »Lass mich raten, du willst ebenfalls mit der Uhr reisen, richtig?«
Ich zögerte und musste hart dagegen ankämpfen, nicht sofort mit einem ›Ja‹ herauszuplatzen. Stattdessen atmete ich einmal tief ein und aus, versuchte, den Taubenschlag, welchen meine Gedanken darstellten, zu ordnen und erwiderte: »Ja, ich möchte ebenfalls in der Zeit reisen.
Bringen Sie es mir bei, unterziehen Sie mich einer Ausbildung und lassen Sie mich ebenfalls für Forschungszwecke reisen. Mehr möchte ich nicht, versprochen.«
Der Direktor verzog seinen Mund, während er krampfhaft nachdachte. Ich spürte Jonathans bohrenden Blick an meiner Seite. Seine Antwort konnte ich bereits erahnen: Nein, niemals. Doch seinem Vorgesetzten konnte ich ansehen, dass seine Antwort anders ausfallen würde. In seinen Augen funkelte etwas, das aussagte, dass er irgendwas an mir höchst faszinierend fand.
»Bist du dir da auch wirklich sicher?«, runzelte der Mann die Stirn. »Es ist ein gefährliches Unterfangen und erfordert viel Wissen. Siehst du dich einer solchen Aufgabe überhaupt gewachsen?«
Ein schwaches Nicken entfuhr mir. »Ich habe vor, Historik zu studieren, ebenso wie mein Vater einst. Ich bitte Sie, geben Sie mir eine Chance.«
»Was?«, konnte Jonathan sich anscheinend nicht mehr beherrschen. »Das ist absurd! Als ob wir je––«
»Schweig still, Jonathan!«, fuhr der Direktor ihn an und warf ihm einen einschneidenden Blick zu. »Das hast du nicht zu entscheiden!«
»Aber Großvater! Wir können doch nicht einfach irgendwelche Wildfremden damit reisen lassen! Hast du ihre Drohung gehört?«, keifte er zurück. »Das spricht gegen all unsere Prinzipien!«
»Sie hat nur Fragen gestellt, sei nicht so paranoid, Jonathan. Du glaubst doch nicht wirklich, dass eine einzelne Person etwas gegen das Museum ausrichten kann«, entgegnete der Direktor. »Mal ganz davon abgesehen, ist sie die Tochter von Peter. Allein die Tatsache, dass sie eine Frau ist, kann uns bereits ein Nutzen sein. Sie kommt an Orte oder an Informationen, an die du als Mann nur mit Mühe kämst. Außerdem hast du soeben gesehen, zu was sie im Stande ist!« Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Ich hatte schon vor langer Zeit versucht, sie für unsere Zwecke anzuwerben, um sie gemeinsam mit dir auszubilden. Aber ihre gute Mutter war leider dagegen und ließ sich nicht umstimmen. Daher spielt es uns nur in die Karten, dass sie gerade jetzt auf taucht ...« Der Streit aus dem Traum, schoss es mir sofort durch den Kopf und ich erstarrte sogleich. Er war Realität. Meine Mutter hat dafür gesorgt, dass ich nicht schon eher in die Fußstapfen meines Vaters treten konnte ...
»Ich bin schließlich dein Enkel und nicht der Sohn irgendeines toten Mitarbeiters!«, hielt Jonathan eisern dagegen. Mein Herz zog sich für einen Augenblick zusammen, als er meinen Vater als irgendjemanden betitelte.
Schnaufend ergriff der Direktor die Schatulle und zog sie zu sich. »Wenn das so ist«, begann er entschieden, »dann wirst du der Tochter irgendeines toten Mitarbeiters von nun an das Zeitreisen lehren. Sei nicht so engstirnig, Junge, denk nach!«
»Nein!«, rief sein Enkel empört, als erhoffte er sich, seinen Großvater doch noch umstimmen zu können.
»Doch, es ist entschieden! Du bist noch lange nicht so weit, gewichtige Entscheidungen treffen zu können. Erst recht nicht, wenn du dich anscheinend nicht in der Lage siehst, Jennifer etwas beizubringen.« Als er Jonathans trotzigen Blick sah, fügte er noch hinzu: »Es scheint mir, dass du in diesem Fall vielleicht gar nicht mehr Zeitreisen solltest.«
Mit zusammengebissenen Zähnen und giftigem Blick – passend zu seinen grünen Augen, wie ich fand – drehte Jonathan sich zu mir und sagte in einer widerspenstigen Tonlage: »Meinetwegen.«
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