der Fehler
Mein Koffer stand offen auf meinem Bett. Meine Klamotten lagen neben meinen Schulbüchern auf dem Boden und Mum stöhnte genervt auf. »Ein System hast du nicht, oder?«, fragte sie und legte eine Hose wieder zusammen. »Dir ist schon klar, dass du nicht so viel brauchst« Ich nickte knapp und packte drei nagelneue Shirts in den Koffer. Die Farben waren unauffällig und die Shirts weit. »Hast du denn all deine Bücher eingepackt?«, fragte Mum und hielt mein Notizbuch hoch. Ohne nachzudenken riss ich es ihr aus der Hand und verschränkte die Hände schützend vor dem Einband. »Ich kriege das schon hin«, versprach ich und legte fünf lange Hosen in den Koffer. »Da bin ich mir nicht so sicher.«, lachte Mum und verließ kopfschüttelnd meine Zimmerhälfte. Nicht einmal eine Minute später kam Ruby hinein. Meine kleine Schwester hatte ihre glatten, braunen Haare zu zwei Zöpfen geflochten und grinste mich breit an. »Luna, ich habe das hier in der Post gefunden!«, rief sie aufgeregt und streckte mir ein Papier entgegen. Früher hatten wir nie Post bekommen. Jedenfalls keine Post, welche aus Papier bestand, niemand benutzte Papier. Nach dem Angriff war ich von Briefen überschwämmt worden. Meine komplette Familie hatte mehrere Schweigeverpflichtungen unterschreiben müssen. Genervt und interessiert zugleich nahm ich meiner Schwester das Papier ab. Es war mit einem mir unbekannten Sigel versehen und leicht zerknickt. Einen Absender gab es nicht. Gespannt öffnete ich das altmodische Sigel und blickte auf einen Handgeschriebenen Brief. Sofort klappte ich ihn vor den neugierigen Augen meiner Schwester weg und steckte ihn in mein Notizbuch. Ich wusste von wem dieser Brief kam; Dawn. »Von wem ist der?«, fragte Ruby und stellte sich auf die Zehenspitzen. Ich legte das Notizbuch in den Koffer und drehte mich dann zu ihr um. »Wieder eine Liste von Schülern, welche bei dem Angriff ums Leben gekommen sind«, schob ich die Lüge vor. Dawn hatte mir bereits drei Mal dreist einen Brief zukommen lassen. Jedes Mal hatte ich mich mit der gleichen Ausrede gerettet. Weder Mum, Dad noch Ruby wollten eine Seite voller Namen welche mit toten Menschen zu tun hatten lesen. »Schon wieder?« Ruby schüttelte den Kopf und einer ihrer Zöpfe flog mir ins Gesicht. »Anscheinend. Ich muss jetzt wirklich meinen Koffer packen.« Ruby nickte ernst und ging dann in ihre Zimmerhälfte. Kaum hatte sie den Sichtschutz aktiviert setzte ich mich aufgeregt auf mein Bett und griff nach Dawns Brief. An dem Tag auf dem Friedhof hatte sie mich lediglich um meine Adresse gebeten und mir das Versprechen abgenommen niemandem zu verraten, dass sie lebte. Mit jedem Tag wurde nun auch die Hoffnung stärker, dass Loura und Neil auch überlebt hatten. Das ich meine beiden besten Freundinnen wiederbekommen würde. Aber Dawn wollte nicht zurück nach Agrunus, sie hatte sich einer Gruppe von Rebellen angeschlossen. Sie hatte mir nicht gesagt, warum sie dies getan hatte aber ich hoffte, dass es ihr gut ging.
Hey Luna
Stand in ihrer kleinen, sauberen Handschrift im Brief.
Ich weiß, dass du morgen zurück ins Verderben musst (mein Beileid), aber ich hoffe, dass du es schaffst heute zwischen 18 und 2 Uhr irgendwann auf dem Friedhof zu erscheinen. Ich muss mit dir reden. Ich verspreche dir, dass ich dir alles erkläre. Wirklich! Alles! Wenn du es nicht schaffst, verbrenne diesen Brief bis 18 Uhr nicht. Ich habe einen „Sensor" eingebaut, welcher mir bescheid gibt wenn das Papier verbrannt worden ist. Deine Dawn
Ich faltete das Papier wieder zusammen und steckte es in mein Notizbuch. Am liebsten wäre ich sofort aufgesprungen und zum Friedhof gefahren, aber ich wusste, dass ich es nicht schaffen würde. Mum wollte heute Abend etwas mit mir und Dad unternehmen und sie würde niemals ihre Termine verschieben, weil ich wieder zum Friedhof wollte. Auch wenn wir uns nach dem Kampf wieder einigermaßen Vertragen hatten lagen mir ihre Worte von damals schwer im Magen. Irgendetwas wollte sie so dringend verbergen, dass es wichtig sein musste.
»Luna, hast du fertig gepackt?«, rief Dad durch unser Appartement und ich blickte auf den vollen Koffer. Fast alle Klamotten waren neu. Alle, welche ich jemals in Agrunus anhatte, hatte ich weggeworfen. Sie erinnerten mich zu sehr an den Tod, an den Verrat an den Schmerz. Ich schloss den Koffer und legte mein Notizbuch auf den Deckel. Dann stand ich auf und ging in unsere Küche. »Gut, dass du hier bist Luna«, sagte Dad und lächelte mich an. Er und Mum behandelten mich wie ein Stück Griulus, welches schon bei einer falschen Berührung in tausende Teile zersprang. »Wir wollten mit dir reden« Ich verzog die Lippen. Als ich vor sechs Monaten das erste Mal nach Agrunus gefahren war, hatten sie im gleichen Ton mit mir geredet. In diesen sechs Monaten hatte ich mich komplett verändert. Ich setzte mich an den Tisch und schaute Dad erwartungsvoll an. Nun kamen auch Mum und Ruby in die Küche. Ich biss mir auf die Lippe, ich erwartete immer noch, dass Josh in die Küche kam, sich schwungvoll an den Küchentisch setzte und dann erwartungsvoll in die Runde schaute. Doch Josh würde nicht kommen. »Wir möchten mit dir heute Abend an einen besonderen Ort gehen.«, erklärte Mum und lächelte mich an. »Ich will mit!«, rief Ruby und verschränkte die Arme. »Tut mir Leid, aber du bist noch zu klein. Wir haben einen Aufpasser für dich organisiert.«, seufzte Dad und strich Ruby über ihre glatten haare. »Ich bin elf! Ich bin alt genug«, maulte sie und machte einen Schmollmund. Mum schüttelte entschieden den Kopf. »Nein, wir können mit dir auch dort hingehen, wenn du älter bist«, versprach sie und drückte Ruby an sich. Sie blieb steif stehen und funkelte Mum böse an. »Um wie viel Uhr gehen wir denn los?«, hakte ich nach und schaute auf die Uhr an der Wand. Es war gerade Mittag. »Gegen siebzehn Uhr.« Ich lächelte und stand auf. »Okay, danke. Ich wollte noch jemanden besuchen.«, erklärte ich und griff mir meine Jacke. Auch wenn es warm war wollte ich nicht riskieren zu frieren. »Wen denn?«, fragte Mum und ich hörte den Unterton, welcher mir wieder Angst machte. »Eigentlich wollte ich nur etwas recherchieren.«, seufzte ich und tat ertappt. Sie musste es mir abkaufen, denn mein eigentliches Ziel würde sie nicht gut heißen. »Und was?«, fragte Mum nachdrücklich und stand auf. »Über eine Lehrerin unserer Schule.«, erklärte ich und öffnete die Tür. »Ach so... und... wie heißt diese?«, bohrte Mum weiter. Verwundert über ihre Fragerei sagte ich frei aus dem Bauch heraus: »Doktor Mon. Also mir hat jemand gesagt, dass ihr wirklicher Name Sandy Pillms oder so ist... ich wollte das mal nachgucken, weil es ja verwunderlich ist, dass...« »Du wirst nicht nach ihr suchen«, zischte Mum und kam mit drei schnellen Schritten zu mir. Verwundert zog ich die Augenbrauen hoch. »Und warum?«, fragte ich. Mum hatte mehr zu verbergen, als ich es jemals angenommen hatte. »Luna. Bitte. Versprich mir, dass du nicht nach ihr suchst«, bat Mum. »Versprochen.«, knurrte ich, dann ging ich aus der Tür und mit schnellen Schritten aus dem Haus.
Meine Gedanken rasten. Irgendetwas wusste Mum, etwas was mit Magie, mit Agrunus und mit Doktor Mon zu tun hatte. Ich stieg in einen öffentlichen Jet und fuhr in Richtung des Recherchezentrums. Eigentlich hatte ich nicht vorgehabt irgendjemanden zu suchen, doch meine Neugier wer nun geweckt. Ich hoffte, dass es öffentliche Informationen über die Direktorin gab. Schließlich war sie ein öffentlicher Mensch. Anders als Clare.
Im Jet war es voll und nach und nach füllte es sich immer mehr. Es war Samstagmittag und ich vermutete, dass die meisten ihre Freunde oder Familie besuchten. Die meisten saßen ruhig auf ihren Plätzen und es war eine entspannte Atmosphäre im sonst eher stickigen Jet.
Die Türen wurden ein weiteres Mal geöffnet und die eher frische Novemberluft strömte hinein. Ich lehnte meinen Kopf an das Fenster neben mir und beachtete den älteren Mann, welcher neben mir saß gar nicht. Meine Gedanken rasten hin und her und ich fand einfach keinen Schlüssigen Punkt, warum Mum nicht wollte, dass ich nach Doktor Mon suchte.
»Nächste Haltestelle: Recherchezentrum«, sagte die Ansagestimme, welche schon seit so vielen Jahren existierte, dass niemand mehr wusste wem sie gehört hatte. Langsam erhob ich mich, drängte mich an dem Mann vorbei und stellte mich an die breiten Türen. Der Jet hielt ruhig an und ich stieg aus. Wieder schlug mir die frische Luft entgegen und ich trat auf den großen Platz vor dem Recherchezentrum. Um mich herum gingen anderen Menschen ihren Geschäften nach. Nur die wenigsten traten jedoch in die große Halle, welche durch ihre verspiegelten Wände bunte Farben auf den Platz warf. Seit dem Anschlag von vor zwei Monaten durften die Kinder nicht mehr frei herumlaufen, die Eltern nahmen sie ängstlich an die Hände und alles wirkte bedrückter als sonst.
Das hatten alle Clare zu verdanken.
Ich beschleunigte meine Schritte und schaute niemandem ins Gesicht. Ich wollte nicht hier sein. Es hingen zu viele schlechte Erinnerungen an diesem Ort. »Ich will aber zu den Lichtern«, hörte ich ein Kind aufgebracht rufen. Ich fühlte mich schuldig, schließlich hatte Clare mich angegriffen. Also trug ich Mitschuld an dem Verhalten der Menschen. Die letzten Meter vor der Tür wurde es voller. Verwundert blickte ich auf um zu sehen, was den Tumult verursacht hatte.
Melden sie ihr Kind an! Jeder hat Magie in sich!
Stand in großen Buchstaben auf einem Bildschirm. Daneben war ein Mann. Er unterhielt sich mit den Erwachsenen. »Sie müssen ihr Kind nicht nach Agrunus schicken. Nein, auch nicht wenn es mit 15 Magie entwickelt. Wissen Sie, die Schulen spielen uns allen nur ihre schöne Fassade vor. Eigentlich quälen sie unsere Kinder bis zum Tode. Wir bieten eine kostenlose Unterrichtung und Einrichtung für ihr Kind an. Es wird alles lernen, nur dass sie keine Sorge vor den Schulen haben müssen. Wir sind auf einer Augenhöhe mit ihnen und sie können ihr Kind jederzeit besuchen« Ich hörte einige Frauen überrascht tuscheln und blieb endgültig stehen. Das konnte nicht sein! Ich kniff die Augen zusammen und betrachtete den Mann, er kam mir seltsam bekannt vor, aber ich konnte nicht sagen woher. »Und was ist, wenn mein Kind zu stark für sie wird?«, rief eine jüngere Frau, welche einen kleinen Jungen an der Hand hielt. »Bei solchen Fällen geben wir Einzelunterricht. Anders als in den Schulen, wo alle Kinder gleich behandelt werden«, erklärte der Mann. »Das klingt fast zu gut um war zu sein.«, rief eine weitere Frau und einige begannen zu klatschen. Ich verzog den Mund. Es klingt wirklich zu gut... die Menschen wissen nichts von den Angriffen, was ist wenn es nur eine weitere Organisation von Welus oder den... Meine Gedanken brachen ab. Ich wusste wieder woher ich den Mann kannte. Sein kantiges Gesicht, seine blassen Augen, seine buschigen Augenbrauen. Er war in Agrunus gewesen. Er war mir und Rose hinterher gelaufen. Er konnte ebenfalls die Zeit beherrschen. Mein Herzschlag beschleunigte sich automatisch und ich dachte wieder an die schrecklichen Stunden. Ich hatte die Ereignisse so weit nach hinten geschoben wie es nur ging. Ich durfte mich nicht mehr täuschen lassen, musste Feind und Freund unterscheiden und stark bleiben. »Wie wird man aufgenommen?«, rief irgendjemand. Diese Menschen wollten ihre Kinder zu den Hexoristischen geben! »Sie müssen bloß diesen Zettel ausfüllen, dann kommen wir zu ihnen und machen die Prüfung ob ihr Kind Magie im Blut hat. Sollte dies der Fall sein können sie ihr Kind bei uns ausbilden lassen.«, erklärte er und ich suchte nach einer logischen Erklärung warum ein Hexoristischer das tat. »Ab wie viel Jahren ist es denn?«, rief ein Mann, welcher direkt neben mir stand. »Menschen aller alterklassen sind willkommen. Ob gerade einmal ein Jahr alt, sie oder ihr Urgroßvater. Es geht nicht um das Alter, denn die unentdeckte Magie kann immer entfesselt werden.« Am liebsten wäre ich zwischen die Menschen gesprungen und hätte sie gewarnt. Gewarnt, dass sie ihre Kinder wahrscheinlich nie wieder sehen würden, wenn diese einmal in der Obhut der Hexoristischen waren. Stattdessen wandte ich mich ab und betete, dass niemand so dumm war und sein Kind, sich oder irgendjemand anderen anmelden würde.
Ich drückte die schwere Eingangstür auf und genoss sofort die Ruhe welche mir entgegen floss. Anders als draußen, wo es mit jeder Sekunde lauter geworden war, war es hier so leise, dass ich es kaum wagte einen Fuß vor den anderen zu setzten. Ich riss mich zusammen und ging an dem Mitarbeiter am Tresen vorbei. Dann ging ich zu einem der Recherchoren, welche kostenlos und öffentlich waren. Ich öffnete zwei Taps und gab in den ersten Sind Bans gesund? Ein. Ich musste ein Alibi haben. Mit flinken Fingern öffnete ich einen zweiten Tap und gab Sandy Mon ein. Bei einem dritten schrieb ich: Sandy Pillms. Den Bans-Tap ließ ich unberührt und wartete bei Sandy Mon und Sandy Pillms auf Ergebnisse.
Ergebnisse für Sandy Mon:
-Sandy Mon als Schulleiterin von Agrunus anerkannt.
-Sandy Mon gewinnt Preis der Magie
und viele weitere belanglose Zeitungsartikel. Ich wartete auf die Ergebnisse bei Sandy Pillms doch es lud nicht. Nach weiteren drei Minuten schloss sich der Tap wie von selbst und der Recherchor ging wie von Geisterhand aus. Ich starrte einige Sekunden auf den schwarzen Bildschirm. Dann stand ich auf uns setzte mich an den nächsten zu meiner linken Hand.
Auch dieser ging aus. Ich gab bei einem dritten den angeblichen Namen unserer Direktorin ein und auch dieser schaltete sich automatisch aus. Mein Herz raste. Irgendetwas musste hinter diesem Namen stecken. Und nur eine Person konnte mir vielleicht eine Antwort darauf geben. Es war die Person, welche ich sowieso hatte besuchen wollen. Ich verließ das Zentrum und beeilte mich in eine Nebenstraße zu verschwinden. Auch wenn Clare tot war, war die Angst geblieben wieder von ihr überrascht und Angegriffen zu werden.
Ich beschleunigte meine Schritte während ich aus den hübschen Gegenden unserer Stadt verschwand. Ich wollte zu einem abgelegenen Haus in einer dunklen Gasse. Jeder wusste wer dort wohnte und doch wurde die Personen nicht von der Regierung festgenommen. Die meisten vermuteten, dass die Regierung wusste, dass diese bald so oder so sterben würden. Auch ich wusste dass, aber anders als die meisten anderen Menschen freute ich mich nicht auf den Tod dieser alten Menschen. Denn einer von ihnen war mein Großvater. Mum hatte mir mehr als einmal verboten ihn zu besuchen. Er war ihr Vater und doch hielt sie mich, Ruby und Josh immer von ihm fern. Sie wollte nicht, dass wir ihn besuchten oder er uns sah. Ich verstand Mum nicht. Es war schließlich ihr Vater. Ich bog nach links in eine verschmutze Gasse ein, die Häuser waren teils verfallen, teils einfach nur dreckig und unbewohnt. Ich steuerte auf eines der Häuser zu, die Fenster waren verrammelt und zugenagelt. Zögerlich klopfte ich an. Niemand antwortete mir. Ich stieß die alte, quietschende Tür auf und trat in das düstere und staubige innere des Hauses in welchem mein Großvater und Freunde von ihm lebten. »Hallo?«, rief ich wieder in den Raum. Doch ich bekam keine Antwort. Mein Fuß stieß gegen etwas und ich sah zu Boden. Es war die alte Frau Sia.
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