16. Die Zeit

Nach dem Frühstück musste ich in die Schwimmhalle. Dort angekommen waren bereits zwei andere Mädchen. »Hallo«, sagte eine von ihnen. Sie hatte ihre Haare locker zusammen gebunden und lächelte mich an. Die andere trug kurze Haare und funkelte mich unverhohlen an. »Äh... Hallo«, sagte ich und lächelte zurück, »ich bin Luna.« »Ich bin Hana.« Sie strich sich durch die Strähnen, die sich aus dem Zopf gelöst hatten. »Und das ist Jacky... sie redet nicht so gerne.« Sie warf dem anderen Mädchen einen abschätzigen Blick zu. Jacky funkelte zurück. Ihr Blick durchbohrte mich und ich zuckte kurz zusammen. »Wer wird eigentlich unser Lehrer?«, fragte ich die beiden. »Gute Frage«, sagte Hana wieder lächelnd. »Ich habe gehört, dass wir Doktor Jacks bekommen«, antwortete Jacky ausdruckslos. »Doktor Jacks?«, fragte ich. »Ja, kennst du sie nicht?«, fragte sie gelangweilt. Ich schüttelte den Kopf. »Ne.« »Pech gehabt.« »Ach, komm, Jacky, sei doch ein bisschen netter.« Sie reagierte erst gar nicht. Danach sagte keiner mehr etwas, bis ein Junge hereinkam. Es sah aus, als wäre er im vierten Jahr. Seine Haut war kalkweiß mit dunkleren Ringen um die Augen. Seine Haare waren ebenfalls weiß. Ohne uns eines Blickes zu würdigen stellte er sich in eine Ecke des Raumes und starrte durch die Gegend. »Das ist Benjamin«, flüsterte mir Hana zu. »Er ist total mächtig und hat schon viele der Wettbewerbe gewonnen.« »Wettbewerbe?«, fragte ich sie irritiert. »Ja, es gibt regelmäßig Wettbewerbe«, antwortete Hana. »Aha.« Ich verstand kein Wort. Nach Benjamin kamen zwei Mädchen, sie sahen exakt gleich aus. Die selben rotbraunen Haare, die selben blauen Klamotten, die selben braunen Augen. »Hey«, sagte die linke. »Ich bin Taija und das ist meine Schwester Sa.« Ihre Schwester lächelte in die Runde. »Hallo. Ich bin Hana, das ist Jacky. Der in der Ecke ist Benjamin und das«, sie deutete in meine Richtung, »ist Luna.« Ich lächelte Ta und Taija an. »Hallo.« »Toll, euch kennenzulernen«, sagte Tajia. »Ja«, auch Ta grinste freundlich. »In welchem Jahr seid ihr?« Taija schien sehr neugierig. »Also, Jacky, Benjamin und ich sind im dritten Jahr«, meinte Hana. »Ich bin im ersten Jahr«, antwortete ich. »Toll. Wir sind im zweiten Jahr«, erklärte Ta oder Taija. Die beiden waren echt nicht auseinander zu halten. »Wie viele Leute werden wir überhaupt?«, fragte eine der Zwillinge. »Also mir wurde gesagt zehn«, meinte ich. »Ui, dann kommen ja noch vier. Toll«, sagte Taija. Mir war aufgefallen, dass sie beide eine Kette mit ihrem Namen trugen. »Ob das toll ist, ist eine andere Frage«, meinte Jacky. Benjamin gab ein Schnauben von sich und Hana lächelte entschuldigend. Ich fühlte mich ein bisschen außen vor. Jeder kannte hier mindestens eine Person.

Dann öffnete sich die Tür erneut und zwei Leute kamen herein. Der vorderste hatte seine Haare kurzrasiert, seine dunkle Haut schien fast zu leuchten, er war das Gegenteil von Benjamin. Hinter ihm war ein großer, schlaksiger Junge mit Brille. Während der erste Junge offen in die Runde lächelte, schien der andere vollkommen mit seiner Brille beschäftigt. »Es sind aber schon viele da«, war sein erster Satz. Seine Stimme war melodisch und hatte einen leicht rauchigen Nachhall. »Ich bin Obsidian.« »Hallo«, sagte Ta. »Und, du bist Ta?«, fragte Obsidian schmunzelnd. Ta nickte. »Gut aufgepasst.« »Ja, in vier Jahren auf Agrunus lernt man viel«, antwortet Obsidian.

Jetzt fiel mein Blick erst wieder auf den anderen Jungen. »Und wen hast du mitgebracht?«, nahm mir Taija meine Frage ab. »Patrick. Du kannst auch etwas selber machen«, sagte Obsidian und drehte sich zu Patrick um. »Ja, danke. Ich hätte mich auch noch vorgestellt.« Er verdrehte die Augen und kratzte sich am Ohr. »Jetzt fehlen nur noch zwei«, stellte Hana fest. »Ja«, stimme ich ihr zu, um überhaupt etwas zu sagen. »Und wer seid ihr?«, fragte Obsidian. »Ich bin Luna«, sagte ich. »Hi, Luna« meinte Patrick. »Ich bin Hana und das ist...« Sie wurde von Jacky unterbrochen. »Ich bin Jacky. Hana, ich kann auch selber sprechen.« Hana lächelte wieder. »Natürlich kannst du das, Jacky«, meinte sie. »Und wer bist du?« Die Frage war klar an Benjamin gerichtet, der in der Ecke stand und uns abfällig beobachtete. »Benjamin Villius Mon«, sagte er. »Ach, du bist der jüngere Sohn von Doktor Mon?«, fragte Patrick. »Und was passiert, wenn ich es bin?«, fragte er gelangweilt. »Nun, ich hab keine Ahnung«, fing Patrick an. »Aber ich wollte dir sagen, dass du richtig gut bist.« Benjamin nickte ihm zu. »Ich weiß.« Patrick verstummte und schien zu hoffen, dass jemand anderes etwas sagen würde. Also fragte ich: »Welche Zeitgaben habt ihr eigentlich?« Obsidian sah auf. »Zeit schneller und langsamer laufen lassen.« »In die Zukunft sehen« meinten Ta und Tajia wie aus einem Mund. »Die Zeit anhalten«, sagte Benjamin. »Zeit zurückspulen.« Jacky warf ihre Haare zurück, auch wenn es bei der Kurzhaarfrisur kaum ging. »In die Vergangenheit schauen«, meinte Patrick und verschob die Brille. »Und du?«, fragte Jacky. »Zeit anhalten«, meinte ich. »Okay.« Jacky nickte zufrieden.

Bis die letzten beiden Mädchen eintrafen, vergingen zehn Minuten voller Smalltalk und Schweigen. Dann wurde die Tür geöffnet und zwei Mädchen kamen herein. »Hallo. Wir sind Luana und Louise. Wir sind aus dem zweiten Jahr und wir können beide in die Zukunft schauen«, platzte die erste der beiden sofort heraus. »Und wer ist wer?«, fragte Hana. »Ich bin Luana«, sagte das erste Mädchen wieder. Ich musterte die beiden. Luana hatte hellbraune Haare und gebräunte Haut. Louise hatte goldene Haare mit grünen, pinken und türkisen Strähnen. »Wie heißt ihr alle? Welche Gaben habt ihr? Und in welchem Jahr seid ihr?«, plapperte Luana munter weiter. »Ich bin Hana. Ich bin im zweiten Jahr und ich kann ich kann von einzelnen Personen die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sehen.« »Ich bin Obsidian, ich bin im vierten Jahr und ich kann die Zeit schneller und langsamer laufen lassen.« »Das klingt aber toll. Und was ist mit euch?« Luana sah uns interessiert an. »Ich bin Luna. Ich bin im ersten Jahr und ich kann die Zeit anhalten«, antwortete ich ihr. »Ich bin Patrick. Ich bin...« Er wurde dadurch unterbrochen, dass die Tür zuschlug. Eine Frau trat herein. Ihre welligen Haare umrahmten ihr weiches Gesicht. Sie trug schlichte Klamotten, welche ihre Figur betonten und hatte blaugrüne Augen. »Hallo«, begrüßte sie uns. »Mein Name ist Doktor Jacks. Laut meiner Liste müsstet ihr Obsidian, Patrick, Benjamin, Jacky, Hana, Luana, Louise, Tajia, Ta und Luna sein. Ist das richtig?« Ich nickte. »Schön. Ich möchte, dass ihr euch nach Gaben verteilt aufstellt. Dort...«, sie deutet auf die Ecke wo Benjamin stand, »...gehen alle hin, die die Zeit anhalten können.« Sie winkte mit ihrer Hand und so ging ich zu Benjamin. Dieser würdigte mich keines Blickes. »Alle, die die Zeit schneller oder langsamer laufen lassen können dort hin.« Also ging Obsidian zur Tür. »Wer in die Zukunft oder Vergangenheit schauen kann, bleibt in der Mitte des Raumes« Ta, Taija, Louise und Luana blieben also in der Mitte des Raumes. »Und in diese Ecke gehen alle die, die Zeit vor- oder zurückspulen können.« Jacky ging langsam in die gezeigte Ecke. »So, soweit ich weiß, haben wir vier aus dem zweiten Jahr. Eine aus dem ersten Jahr, drei aus dem dritten Jahr und zwei aus dem vierten. Das bedeutete, dass ihr unterschiedlich gut mit euren Gaben umgehen könnt. Ich möchte diese Woche die ersten vier Stunden mit dem ersten und zweiten Jahrgang üben. Die letzten vier mit dem dritten und vierten. Wenn es geht, will ich euch danach zusammen unterrichten. Habt ihr dazu Fragen?« Benjamin hob seine Hand. »Was ist, wenn eine Person besser ist, als alle anderen?« »Nun, ich denke nicht, dass dies der Fall sein wird«, antwortet Doktor Jacks freundlich. »Also, die Dritt- und Viertklässler dürfen gehen.« Sie lächelte kurz in die Runde, dann winkte sie zum Zeichen des Aufbruchs. Hana lief zu Jacky und zog ihre Freundin aus dem Raum. Obsidian und Patrick verließen ebenfalls den Raum. »Nun Benjamin, möchtest du noch etwas fragen?«, meinte die Lehrerin an ihn gewandt. »Doktor Jacks, ich denke schon, dass ein Schüler besonders herausstechen wird.« Er strich sich übers Hemd. »Glaubst du das? Es könnte schon sein. Obsidian war schon immer sehr gut, aber ich denke, er wird sich beherrschen können.« Benjamin hustete. »Also, eigentlich meinte ich ja mich.« Ich sah Belustigung in Doktor Jacks Augen aufblitzen. »Das glaube ich bei weitem nicht. Wettbewerbe sind schön und gut, aber dies ist etwas anderes. Bis nachher.« Sie gab ihm deutlich zu verstehen, dass er gehen sollte. Benjamin blickte sie entrüstet an. »Sagen Sie, halten Sie sich für etwas Besseres?« »Nein, aber ich muss nun mit den Jüngeren üben. Wenn du es unbedingt mit mir ausdiskutieren willst, dann später.« Er schien kurz etwas einwenden zu wollen, ging dann aber doch aus dem Raum. »Jetzt können wir anfangen«, meinte Doktor Jacks. »Lasst uns hier auf den Boden sitzen. Ich möchte erst zuerst ein bisschen Theorie machen.« Luana stöhnte auf. »Muss das sein? Theorie ist so langweilig.« »Aber notwendig«, antwortet Doktor Jacks und setzte sich auf den Boden. »Kommt jetzt.« Taija hockte sich im Schneidersitz neben die junge Lehrerin. Auch Ta setzte sich. Luana stöhnte noch einmal, dann plumpste sie auf die andere Seite von Doktor Jacks. Ich setzte mich zwischen Louise und Ta. »Also, was wollen sie von uns wissen?«, fragte Luana. »Als erstes werde ich Luna ein bisschen fragen. Sie ist noch im ersten Jahr und weiß weniger als ihr.« Ich schluckte kurz, dann nickte ich. »Okay, Luna, weißt du denn, was ein Zeitloch ist?«, fragte Doktor Jacks. »Ich glaube schon...«, fing ich an. »Ist das nicht das, wenn jemand, der die Zeit anhalten kann dann aber nicht mehr zurückkommt?« Doktor Jacks nickte zu meiner Erleichterung. »Fast. Auch Beschenkte, die die Zeit vor- oder zurückspulen können, sind davon betroffen. Genauso wie Beschenkte, die alles schneller und langsamer laufen lassen können.« »Wusste ich schon«, kam es von Luana. »Gut, Luana. Dann geht die nächste Frage an dich. Was sind die Gefahren von Zeitlöchern?« Die Befragte kratzte sich am Kopf. »Äh... Man kommt nicht mehr zurück?« »Das ist einer der Punkte. Louise?« »Alles bleibt für immer stehen, außer wenn ein anderer Zeitbeschenkter einen befreien kann«, sagte Louise schnell. »Auch. Ta, was ist das dritte Problem?«, fragte Doktor Jacks. Ta zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung.« »Gut, Taija, weißt du es denn?«, fragte Doktor Jacks. Auch Taija kratzte sich am Kopf. »Ich bin mir nicht sicher. Aber wenn nur man selbst in der Zeit stecken bleibt, kann es dann nicht sein, dass jemand einen umbringt, während man sich nicht wehren kann?« Sie nickte zufrieden. »Ihr wisst sehr viel. Das ist sehr schön«, lobte sie uns.Ich lächelte verlegen. »Danke«, sagte Ta. »Doktor Jacks? Können wir bitte jetzt etwas Praktisches machen?«, fragte Louise. »Wir machen morgen etwas Praktisches, okay? Ich finde wichtig, erst einmal wissen, wie viel ihr schon über die Zeit wisst«, antwortete Doktor Jacks ruhig. Luana stöhnte erneut auf, nickte dann aber. Louise fing an zu lachen. »Vielleicht habt ihr schon mal von dem Sprichwort Wektu iku penting kanggo kabeh kita gehört?«, fragte Doktor Jacks. Ein höllischer Schmerz schoss durch meinen Arm bis zum Gehirn. Ich fasste mir geschockt an den Arm und zog die Luft ein. »Alles in Ordnung?«, hörte ich jemanden neben mir fragen. Ich blickte auf, schwarze Flecken zuckten vor meinen Augen. Fünf Zombies saßen vor mir. Jedes der Zombies sah aus wie einer meiner Freunde. Ich schrei auf und robbte nach hinten. »Was ist denn los?«, fragte der größter Zombie, welches Ähnlichkeiten mit Loura hatte. Beim Sprechen entblößte es grünliche Zähne. Ich robbte weiter zurück, bis ich an die Wand stieß. Die Zombie-Loura erhob sich auf ihre knochigen Beine. Sie waren von durchsichtiger Haut umgeben. Ihre Füße waren kantig und übergroß. Sie kam auf mich zu gestampft. Ängstlich hob ich den Kopf, um ihr in die Augen zu sehen. Rot funkelte mir entgegen. Ihre schwarzen Haare waren verfilzt. »Du musst keine Angst haben, ich bin es doch nur«, säuselte sie. Ich wollte mich an der Wand hochziehen, doch der Schwindel machte es mir unmöglich. Der Zombie steckte die Hand nach mir aus, zwei Finger waren an der Mitte abgehackt und ich konnte die blutigen Stümpfe sehen. Ich schloss die Augen für eine Sekunde um den Schwindel zu vertreiben. Als ich sie wieder öffnete, schoss mir wieder ein Schmerz durch den Arm. Ich fasste mir an den Arm mit der Wunde. Der Zombie strich meine Hand von der Wunde und ich schrie vor Angst auf. »Bleib fern von mir, Zombie!«, kreischte ich voller Angst und schlug, so gut wie es ging, um mich. Zwei weitere Zombies, die wie Zara und Dawn aussahen, kamen zu mir und hielten meine Hände fest. Ich schrie mir die Seele aus dem Leib, jetzt würden sie mir das Herz aus dem Körper reißen. Der große Loura-Zombie schob meinen Ärmel zurück und schien die Wunde zu betrachten. Dann berührte er sie. Kurz flackerte wieder der unendliche Schmerz in mir auf, dann wurde ich ruhig, schloss die Augen und fiel ins Reich der Träume.

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