21. Kapitel, 21. Dezember
"Nur noch vier Tage, dann ist Weihnachten" , werde ich freudig am Morgen in der Küche begrüßt, nachdem Leano und ich im gleichen Bett aufgewacht sind. Es ist noch herrlicher, von seinem Duft, anstatt von Pfannkuchen Geruch geweckt zu werden. Ich erkenne meinen kleinen Bruder gar nicht mehr wieder. In den letzten beiden Jahren hat er Weihnachten gehasst. Er hat möglichst einen großen Bogen um alles gemacht, was mit dem Fest der Liebe zu tun hatte. Immerhin sind seine liebsten nicht mehr richtig da. An diesem Morgen versammeln wir uns drei endlich wieder einmal für ein langes Frühstück in der Küche. Leano backt natürlich wieder Pfannkuchen. Wenn er nächstes Jahr zu dieser Zeit nicht wieder hier sein wird, werde ich die Pfannkuchen Kreationen wahnsinnig vermissen. Vom ihm einmal ganz zu schweigen. Er sitzt in seinem Rollstuhl am Herd und backt und backt, während Jul laut Weihnachtsmusik aufdreht. Ich erkenne meinen kleinen Bruder gar nicht mehr wieder. Er scheint ausgewechselt zu sein. Aber ich liebe es. Ich stehe auf und schwinge meinen kleinen Bruder in der Küche herum. Wir tanzen, ausgelassen, wie noch nie. Wir tanzen und lachen und singen und sind glücklich. Auch Leano beginnt zu lachen und wir wirbeln ihn mit uns im Kreis herum.
"Ahh, die Pfannkuchen" , sagt er und rollt sich elegant aus unserem Gewirbel heraus, damit diese nicht anbrennen. Heute gibt es keine normale Pfannkuchen Kreation, denn wir wollen schon ein paar Ideen für den Ball sammeln. Dort soll es schließlich auch kleine Snacks geben, so wie bei der Lesung. Jul holt Schaschlik spieße aus der Schublade und rollt die Pfannkuchen zusammen, nachdem er Nutella darauf verschmiert hat. Zwischen die einzelnen Pfannkuchen steckt er Erdbeeren und Bananen auf die Spieße. Ich helfe ihm dabei. Das dauert eine ganze Weile, aber es soll eben alles perfekt werden und ich will alles vorher einmal ausprobieren, damit nichts mehr schief gehen kann. Nach dem Formen deckt Jul den Tisch und Leano kommt mit zu uns. Wir alle drei probieren die Spieße und sind hin und weg. Die sind wirklich der Hammer.
"Die müssen wir auf jeden Fall anbieten." , bestätigt Jul, was ich denke. Wir verputzen alle Spieße und schmeißen die wieder verwendbaren Spieße in meine Spülmaschine. Zum Glück hab ich dieses Ding, welches mir schon einige male den Hintern gerettet hat. Nach dem Frühstück werden wir noch einmal zu Kindern.
"Lass uns den Samstag noch einmal richtig genießen" , schlägt Leano vor.
"Und was sollen wir machen?" , frage ich.
"Ich gehe da jedenfalls heute nicht raus" , bemerkt Jul. Es ist noch eisiger draußen geworden und man friert sich den Arsch ab. Ich bin auch froh, wenn ich heute nicht rausgehen muss.
"Ach, Leute. Nicht mal ins Café?" , fragt er.
"Nein!" , antworten Jul und ich empört.
"Okay, okay" , sagt Leano und hält die Hände verteidigend in die Luft.
"Lass uns eine Höhle bauen" , schlägt Leano vor. Ich denke sofort, dass Jul es albern finden wird, doch er ist sofort dabei. Vielleicht erinnert ihn das auch an Mama und Papa, die früher mit uns Höhlen gebaut haben. Ich habe das Gefühl, Leano gibt ihm ein ebenso sicheres Gefühl, wie ich es tue. Manchmal habe ich das Gefühl, dass da noch total der kleine Jul drinsteckt. Und dann kommt wieder das Pubertier aus ihm raus. Jetzt gerade ist er wieder das kleine Kind, welches ich so sehr vermisse. Das kleine Kind mit Mama und Papa und ohne Sorgen.
"Okay, was brauchen wir?" , frage ich und will alle Materialien aus dem Haus zusammen suchen.
"Kissen!" , schreit Jul.
"Decken!" , stimmt Leano mit ein.
"Stühle!" , sagen die beiden gemeinsam.
"Jul, hilfst du mir tragen?" , frage ich, denn ich habe alle Decken, Kissen und Stühle, die ich finden konnte zusammen getragen. Nun kann ich sie jedoch nicht mehr alleine tragen, weil es zu viele sind. Jul kommt und packt mit an, sodass wir alles ins Wohnzimmer schieben und dort die Stuhlreihen aufbauen. Leano hält die Decke an einer Seite der Stühle fest, sodass sie nicht runterrutschen kann und Jul und ich ziehen sie zur anderen Seite. Das machen wir mit ein paar Decken, sodass wir ein ordentliches Dach haben. Anschließend stellen wir noch eine Lampe in die Mitte, sodass es wie ein Zelt aussieht. Natürlich schalten wir die Lampe nicht ein. Ich suche ein paar gemütliche Lichter zusammen, die wir in die Höhle stellen. Dann ist es gemütlich darin und wir alle kuscheln uns zusammen.
"Kannst du wieder was aus dem Weihnachtsbuch vorlesen, so wie früher?" , fragt Jul. Ich schaue Leano fragend an, ob es okay für ihn ist. Er nickt überschwänglich. Die beiden scheinen es beide gerne zu mögen, wenn ihnen jemand etwas vorliest. Aber wer mag das schon nicht? Es gibt wohl ein wohlig , warmes Gefühl nach Kindheit und Zuhause. Nach Gemütlichkeit, Zuflucht und nach Hause kommen. Ich stehe noch einmal auf und hole das Buch, bevor ich beginne, den beiden eine Geschichte aus dem Buch vorzulesen.
"Pippi Langstrumpf feiert Weihnachten" , beginne ich. Ich sitze in der Mitte. Rechts kuschelt sich Leano neben mich und links Jul. Es ist das schönste Gefühl der Welt.
*
Nach einer Ewigkeit, die wir gemeinsam in der Höhle verbracht haben schlägt Jul vor, dass die beiden gemeinsam zocken gehen. Leano fragt mich mit Blicken, ob es okay für mich ist. Wir verstehen uns auch einfach ohne Worte. Natürlich ist es okay für mich. Ich freue mich, dass Jul scheinbar endlich eine männliche Bezugsperson hat, die älter ist, als er selbst. Mit den Lehrern in der Schule kann er nicht reden und seine Freunde sind alle genauso alt , wie er. Da kann man auch nicht über solche Themen reden, die bei uns Zuhause eben gerade Thema sind. Mit seinen sechszehnjährigen Kumpels redet man nicht über das Koma seiner Eltern. Ich zünde den Kamin an und setzte mich auf den Sessel, um endlich mal wieder zu journaln. Das habe ich schon seit gefühlten Ewigkeiten nicht mehr gemacht, weil ich keine Zeit mehr gefunden habe und irgendwie auch keinen Kopf dafür hatte. Ich schreibe erst einmal alle meine Gedanken auf und dann beschließe ich, eine weitere Seite zu machen, wie ich sie gerne mal gestalte. Ich setze mich an den Wohnzimmertisch an den Boden und hole meine Stifte und andere Materialien und mache eine Liste.
"Alle die Dinge, die mich momentan glücklich machen" , schreibe ich, denn das kommt oft viel zu kurz. Oft sehe ich nur die negativen Ereignisse und ich möchte dankbarer sein. Es mir bewusster machen.
Ich beginne, die Dinge aufzulisten, die mich momentan glücklich machen.
"Jul. Das Christmas Inn. Nur. Das Zimtschneckenküsse. Pfannkuchen, Zimtschnecken, Hotelarbeit, Erfolge, Besuche bei meinen Eltern, dass sie irgendwie noch da sind. December und Dash, meine Freunde. Die Stadt. Der Schnee. Wintererlebnisse. Familie. Leano" , füge ich als letztes hinzu. Leano macht mich glücklich und durch das Journal wird mir das noch einmal richtig bewusst. Ich muss es ihm sagen, aber ich weiß einfach nicht wie. Ich habe viel zu viel Schiss davor, dass er nicht das gleiche empfindet. Dass er bei mir wohnt macht das ganze noch viel komplizierter. Wenn er nicht bei mir wohnen würde, würde das alles viel einfacher machen. So müssen wir uns doch jeden Tag sehen. Es wäre unangenehm, wenn er nicht, wie ich empfindet und wir die ganzen Tage noch miteinander verbringen müssten. Vielleicht sage ich es ihm Heiligabend, wenn ich mich traue.
Nachdem ich fertig gejournalt habe, beginne ich mich in mein Zimmer zu verziehen und die Geschenke einzupacken. Ich habe ein paar Geschenke für Jul besorgt, über die er sich hoffentlich freuen wird. Er sollte einen Wunschzettel schreiben, was er natürlich immer wieder hinausgezögert hat. Ich habe bis heute keinen Wunschzettel von ihm erhalten, weshalb es schwer war, etwas zu finden, was ihm dann auch wirklich gefällt. Ich weiß nicht, ob ich für Leano auch etwas einpacken soll. Für meine anderen Freunde habe ich immerhin auch etwas. Schließlich kommen alle zum Ball. Auch dieses Geschenke für Nur, December und Dash packe ich nun ein. Nach einer Weile klopft es zaghaft an meiner Tür.
"Hey" , sagt Leano. "Jul fragt dich, ob du mitspielen willst" , fragt Leano und steckt den Kopf zur Tür hinein.
"Was spielt ihr denn?" , frage ich.
"Mario Kart" , antwortet er lächelnd.
"Uhh, da mach ich dich fertig" , sage ich und der Kampfgeist kommt aus mir heraus. "Gib mir fünf Minuten" , sage ich und will noch schnell das letzte Geschenk einpacken, bevor ich zu den beiden gehe und den ersten Platz belege.
"Du willst nochmal mit mir spielen? Traust du dich das?" , necke ich meinen Bruder. Früher haben wir ganz oft Mario Kart gespielt, bis er irgendwann so beleidigt war, dass er nicht mehr spielen wollte, weil ich immer gewonnen habe.
"Ich habe so einige Jahre Übung. Wann hast du das letzte Mal gespielt?" , fragt er mich. Da hat er allerdings recht. Ich habe eine Ewigkeit nicht mehr gespielt, weil er der einzige war, mit dem ich dieses Spiel gespielt habe.
"Dann zeig mir mal, was du noch so drauf hast" , sagt er und gibt mir einen der Controller.
Als erstes wählt er eine leichtere Strecke aus und tatsächlich ist er um Längen besser geworden.
"Hey!", rufe ich, als er mich anfährt.
"Jetzt zeige ich dir mal, wie unfair du immer gespielt hast!" , beschwert sich Jul.
"War ich echt so fies zu meinem kleinen Bruder?" , frage ich. Er nickt und konzentriert sich weiterhin auf den Bildschirm.
"Gewonnen!" , brüllt dieser, als er im Ziel ankommt. Ich komme als dritte an.
"Und warum kannst du das so gut?" , frage ich Leano.
"Ich habe viele Geschwister" , sagt er schulterzuckend.
"Ich habe gerade das erste Mal gegen meine Schwester gewonnen. Das muss festgehalten werden!" , sagt Jul grinsend und schießt ein Selfie von uns. Er grinst bis über beide Ohren und ich sehe schmollend aus. Ich strecke die Zunge heraus. Gleich darauf sehe ich, dass er das Foto sogar auf Instagram gepostet hat. Auf Instagram!
"Du bist unmöglich" , sage ich lachend.
"Revanche?" , fragt er.
"Klar" , sage ich. Doch er hat wirklich heimlich geübt. Ich habe keine Chance mehr gegen meinen kleinen Bruder, was mich echt wurmt. Er lässt mich nicht einmal gewinnen. Und Leano ist auch viel zu gut. Ich muss wieder mehr trainieren. Wenn Jul in der Schule ist muss ich kommen und heimlich üben, damit ich ihn klammheimlich wieder besiegen kann, wenn er am wenigsten damit rechnet. Ich muss das in den nächsten Tagen tun, denn wenn erst einmal die Gäste da sind, dann habe ich wohl keine Zeit mehr.
Dann merke ich jedoch, wie spät es schon geworden ist. Wir müssen stundenlang gezockt haben.
"Oh scheiße" , fluche ich.
"Da wars wieder. Du hast schon wieder geflucht!" , sagt Leano freudestrahlend.
"Schau mal, wie spät es ist!" , sage ich.
"Oh" , sagen die beiden, die auch die Zeit vergessen haben.
"Ich koch uns Abendessen. Willst du mithelfen?" , fragt Leano meinen kleinen Bruder.
"Auf jeden Fall. Irgendjemand muss uns ja am Leben halten, wenn du weg bist. Und meine Schwester wird das sicherlich nicht sein" , sagt er.
"Hey! Ich kann dich hören" , beschwere ich mich.
"Wenn du ehrlich mit dir selbst wärst, wüsstest du, dass ich recht habe"
"Pf" , mache ich und setze mich noch einmal ins Wohnzimmer, um mich an die restlichen Erledigungen für den Ball zu kümmern. Denn am Sonntag werde ich das alles nicht erledigen können. Den letzten Tag dafür werde ich am Montag haben. Das meiste möchte ich jedoch schon so früh wie möglich fertig haben. Nach einer guten halben Stunde bin ich noch nicht sehr weit gekommen. Die Jungs hingegen schon und rufen mich für das Abendessen, was schon wieder herrlich schmeckt.
"Danke" , sage ich mit vollem Mund. Nach dem Abendessen setze ich mich noch einmal an dem Laptop. Wer vormittags nichts tut, muss eben abends ran. Ich werde immer müder, kann aber nicht aufhören zu arbeiten. Nach einer Weile merke ich, wie mir immer wieder die Augen zufallen. Schließlich schlafe ich wohl über meinen Arbeitssachen ein.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top