13. Kapitel, 13. Dezember
Mitten in der Nacht werde ich geweckt und erschrecke mich zu Tode. "Heilige Scheiße" , sage ich und schaue Leano an, der neben meinem Bett sitzt.
"Du fluchst sogar im Schlaf" , sagt er grinsend. "Bevor du einen Schreck bekommst, ich stalke nicht. Du hast das ganze Haus zusammen geschrien" , erklärt er.
"Scheiße, echt?" , frage ich.
"Scheiße, echt" , wiederholt er.
"Entschuldige, wenn ich dich geweckt habe" , entschuldige ich mich.
"Schon okay. Du scheinst einen Alptraum gehabt zu haben. Das ist nicht lustig. Ich kenne das" , erklärt er. Langsam kommen die Erinnerungsfetzen des Traumes hoch. Ich habe noch einmal den Unfall meiner Eltern miterlebt. Ich träume diesen Traum jeden Monat mindestens einmal. Ich träume andauernd von den beiden. Seien es schöne Träume oder eben Träume, wie diesen. Ich träume oft, wie ich ihre Geräte abschalte. Wie mein Bruder schreit und mich schlägt, weil ich seine Eltern getötet habe. Er gibt immer mir die Schuld in meinen Träumen, dabei ist der Autofahrer Schuld, der auf sein scheiß Handy geschaut hat, als er gefahren ist und somit den Tod meiner Eltern versursacht hat. Rational weiß ich das, aber mein Unterbewusstsein weiß das nicht und ich habe wahnsinnige Angst vor dem Tag, an dem ich mich entscheiden muss. Ich habe wahnsinnige Angst, dass mein kleiner Bruder mich hassen wird. Dass er mir die Schuld geben wird.
"Ist alles okay?" , fragt Leano. Ich schüttele den Kopf. Wahrscheinlich werde ich nicht wieder einschlafen können. Eine Träne läuft mir die Wange hinunter.
"Willst du darüber reden?" , fragt er und wieder schüttele ich den Kopf.
"Soll ich dich in Ruhe lassen?" , fragt er erneut in die Stille hinein, doch ich will auf keinen Fall alleine sein. Ich schüttele ein drittes Mal den Kopf, denn ich bin ihm dankbar für seine Anwesenheit.
"Soll ich bei dir bleiben?" , fragt er und nun nicke ich.
"Kannst du dich zu mir setzen?" , frage ich unter lauten Schluchzern. Seit Jahren hat mich keiner mehr so gesehen. Meine Eltern waren die letzten Personen, vor denen ich geweint habe. Die mein Anker waren. Ich habe nicht einmal vor meiner besten Freundin geweint, noch nie. Ich bin immer die starke Fjolla gewesen, die Kämpferin. Doch jetzt kommt alles raus, was sich in den letzten beiden Jahren angestaut hat. Ich lasse alles raus. Leano stützt sich aus dem Rollstuhl hinaus und ich bewundere seine Armmuskeln, die mich für einen Sekundenbruchteil von meinem Schmerz ablenken. Schließlich sitzt er neben mir im Bett. Wir beide haben unsere Schlafanzüge an und es ist seltsam. Er ist mein erster Hotelgast und doch so viel mehr für mich geworden. Es ist seltsam, dass er hier in meinem Bett ist, denn immerhin stehen wir in einer geschäftlichen Beziehung, doch darüber will ich mir jetzt keine Gedanken machen. Ich kann mir gar keine Gedanken darüber machen, denn es herrscht einfach nur Leere in meinem Kopf. Traurige Leere. Und dann blitzen da meine Eltern auf. Die Gesichter und wieder und wieder und wieder der Autounfall. Mein Schluchzen wird immer doller. Ich bekomme es einfach nicht unter Kontrolle.
"Soll ich dich in den Arm nehmen? Darf ich dich in den Arm nehmen?" , fragt Leano, der hilflos neben mir sitzt. Doch schon seine bloße Anwesenheit beruhigt mich ein wenig. Ich nicke in die Finsternis hinein. Nur der Mondschein beleuchtet mein Zimmer. Ich erkenne bloß die Umrisse von Leano, die vom Mondlicht angeleuchtet werden.
"Psch, alles wird wieder gut. Es war nur ein Traum" , versucht er mich zu beruhigen, doch es löst genau das Gegenteil aus, denn es war eben nicht nur ein Traum. Es ist die bitterböse Realität.
"Eben nicht" , schluchze ich.
"Was?" , fragt er. Ich habe meine inneren Dämonen und vielleicht bin ich im Inbegriff, sie zu teilen. In diesem Moment. Still, in der Nacht.
"Willst du darüber reden?" , fragt er dann noch einmal vorsichtig. "Es ist okay, wenn du es nicht willst" , schiebt er hinterher. Er wird mir zuhören. Er ist der beste Zuhörer überhaupt. Er ist geduldig und er drängt mich zu nichts. Ich mag ihn. Ich will mehr von ihm. Ich glaube, ich bin dabei, mich in ihn zu verlieben. Und wie soll man eine Beziehung aufbauen, wenn man Geheimnisse voreinander hat?
"Ich..Ich.." , beginne ich zu stottern.
"Lass dir Zeit. Wir haben alle Zeit der Welt" , sagt er und streicht über meinen rechten Arm. Wir sitzen gemeinsam auf meinem Bett, angeschienen vom Mondlicht und er hat beide seine Arme um mich gelegt. Ich fühle mich geborgen und trotzdem herrscht ein dicker Kloß in meinem Hals, der meine Worte verschluckt.
"Meine Eltern liegen im Koma" , sage ich. "Seit zwei Jahren"
"Scheiße" , sagt er.
"Ja, richtig scheiße" , schluchze ich.
"Warum?" , fragt er. Und es ist genau die richtige Reaktion, denn ich würde keine tausenste Bemitleitserkundung aushalten.
"Sie hatten einen Autounfall. Am ersten Dezember 2022. Seitdem liegen sie im Krankenhaus und sind an Maschinen angeschlossen. Sie haben eine Patientenverfügung, in der steht, dass ich über ihr Leben oder ihren Tod entscheiden soll. Ich bin diejenige, die entscheiden muss, ob sie die Maschinen abstellen. Ich bin diejenige, die entscheiden muss, ob sie ihre Eltern umbringt" , sage ich und bin in diesem Moment einfach nur noch wütend. Ich hasse meine Eltern dafür, dass sie mir das angetan haben. Wie kann man einem unschuldigen Kind so eine Bürde auferlegen? Die Wut weicht der Trauer.
"Das ist wirklich unfair von Ihnen." , erklärt Leano und er ist der erste, der mir dies ins Gesicht sagt. Niemand stellt halbe Leichen so hin. Niemand sagt etwas darüber. Niemand spricht aus, was alle denken.
"Danke" , sage ich und ich meine es so. Endlich scheint mich jemand zu verstehen.
"Sie liegen da seit zwei Jahren. Bekommen täglich Ergo- und Physiotherapie und es bringt nichts. Seit zwei Jahren liegen sie leblos herum. Sie werden nicht aufwachen, oder? Aber ich bringe es nicht übers Herz, die Maschinen abzuschalten. Ich würde meine Eltern umbringen. Und Jul würde mich für den Rest seines Lebens hassen. Scheiße verdammt, wie konnten Sie mir das antun?" , frage ich ihn. Der Knoten ist geplatzt. Ich schütte ihm in dieser Nacht mein gesamtes, kaputtes, angestautes Herz aus. Und er läuft nicht davon.
"Niemand verlangt von dir, dass du die Maschinen abstellen lässt" , erklärt er.
"Alle verlangen es. Irgendwie. Alle wissen doch, dass sie nicht mehr aufwachen werden. Und doch kann ich die Hoffnung nicht aufgeben" , erkläre ich ihm.
"Ich verstehe dich. Du hast deinen kleinen Bruder. Der ein Kind ist. Der seine Eltern verloren hat und doch irgendwie noch hat. Im dazwischen"
"Und selbst wenn sie jemals aufwachen sollten. Sie werden nie mehr so sein, wie sie vorher waren. Sie liegen seit zwei verdammten Jahren herum. Sie müssten alles neu lernen. Und ich wette, es bleiben Schäden zurück. Gravierende Schäden. Ich weiß nicht einmal, ob ich will, dass die beiden jemals aufwachen" , sage ich. "Ich weiß nicht, ob ich einfach will, dass sie sterben. Ohne, dass ich die Maschinen abstellen muss. Sie sollen einfach einschlafen" , sage ich und schluchze nun wieder. Ich weiß, wie hart das klingt. Niemand sagt so etwas. Deshalb habe ich es bisher auch noch keinem anvertraut.
"Fjolla, ich kann deine Gedanken verstehen. Das Leben mit Behinderung kann echt hart sein. Es ist völlig legitim, dass du das denkst. Es lastet die ganze Welt auf deinen Schultern. Du bist erst vierundzwanzig. Niemand sollte das in so jungen Jahren durchmachen müssen!" , bestärkt er mich und ich fange noch heftiger an zu weinen. Er schafft es, in jedem Moment des Tages das richtige zu sagen.
"Es tut mir so Leid" , schniefe ich und stürze mich mehr in seine Umarmung. Ich schmiege mich an seinen Bauch und beruhige mich langsam wieder. Er streicht mir mit seinen Händen über die Haare, was mich beruhigt und ich dämmere langsam wieder in einen unruhigen Schlaf.
*
Am morgen wache ich in einer seltsamen Position in meinem Bett auf. Mein Nacken schmerzt, bis ich den fremden Körper in meinem Bett bemerke. Ich drehe mich nach hinten und sehe Leano, der in einer noch viel unangenehmeren Position geschlafen zu haben scheint, als ich. Er schläft immer noch. Im sitzen. Heilige Scheiße, er ist in meinem Bett und ich habe extreme Kopfschmerzen. Dann erinnere ich mich an gestern Nacht. Ich habe mich ihm geöffnet. Komplett. Ich habe ihm meine dunkelsten Gedanken verraten und er ist immer noch hier. Vermutlich, weil er nicht wegkonnte, da mein Kopf auf ihm lag. Aber er ist noch hier. Er ist nicht gegangen. Ich bewege mich und in diesem Moment regt sich etwas in seinem Körper. Er scheint aufzuwachen und ich bekomme Panik. Ich habe noch nie mit einem Mann, geschweige denn einem Jungen in einem Bett geschlafen. Außer meinem Bruder, aber das zählt nicht.
"Guten Morgen" , sagt er grinsend. "Du siehst süß aus, wenn du verschlafen bist"
Mein Gehirn muss erst einmal verarbeiten, was er gesagt hat. Das ist der Satz, den er nach so einer Nacht an mich richtet?
"Morgen" , murmle ich, weil ich mich schäme. "Tut mir Leid wegen gestern Nacht" , nuschele ich.
"Fjolla" , sagt er und nimmt mein Gesicht in seine Hand. "Du musst dich für nichts entschuldigen. Ich würde es jeder Zeit wieder tun, okay?" , fragt er.
"Okay" , wiederhole ich leise.
"Soll ich uns frühstück machen?" , fragt er.
"Pfannkuchen?" , frage ich.
"Was auch sonst?" , fragt er grinsend. Er hebt sich in seinen Rollstuhl und fährt in die Küche. Ich bleibe in meinem Schlafanzug, denn Jul kennt mich aus unserer Jugendzeit nicht anders und Leano hat mich nun eh schon so gesehen. Es ist ein Weihnachtsschlafanzug mit Lebkuchenmännchen darauf. Der muss in der Weihnachtszeit schließlich gefeiert werden. Und ich liebe nichts mehr, als Weihnachtsschlafanzüge. Jul sitzt schon in der Küche und isst seine Pfannkuchen.
"Was hast du da denn an?" , fragt er grinsend. "Wir haben einen Gast!" , ermahnt er mich. Ganz der sechzehnjährige.
"Ach, der kennt mich doch schon"
"Kennt er dich sooo?" , fragt Jul und wackelt mit den Augenbrauen. Ich werde rot, obwohl nichts zwischen Leano und mir passiert ist.
"Uhlala" , sagt Jul grinsend und stopft noch einen Bissen Pfannkuchen mit Nutella in sich hinein.
"Pubertät" , sage ich und rolle mit meinen Augen, bevor ich mich an den Esstisch setze und ebenfalls meine Pfannkuchen verschlinge. Es ist die neuste Kreation von Leano. Dieses Mal erwartet mich ein Weihnachtsmann auf meinem Teller. Ich frage mich, was ihm noch für Motive einfallen, die in den nächsten Tagen noch auf meinem Frühstücksteller landen werden. Ich freue mich darauf. Nach dem Frühstück verschwindet Jul in die Schule und Leano und ich räumen gemeinsam die Küche auf.
"Du hilfst viel zu viel mit" , sage ich. "Du wohnst doch hier. Wir sind ein Hotel!" , beschwichtige ich ihm immer wieder. Er ist jedoch einfach nicht abzuhalten.
"Wir haben doch Zack und Cody geschaut, oder?" , fragt er.
"Ja, und?" , frage ich.
"Die leben auch in einem Hotel. Und müssen trotzdem mithelfen"
"Aber die haben doch ein eigenes Apartment" , protestiere ich. "Ich fühle mich schlecht. Ich fühle mich, wie ein grausame Gastgeberin, weil mein Gast mir mein Frühstück zubereitet!"
"Naja, mein Apartment habe ich eben vergrößert. Nach außen hin. Und ich mache es auch immer noch freiwillig, Fjolla. Ich verbringe eben gerne meine Zeit mit dir und da ist es egal, was wir machen. Ich wasche auch gerne mit dir ab, okay?" , fragt er. "Und du sollst dich nicht wegen mir schlecht fühlen. Würden ein paar Folgen Zack und Cody helfen?" , fragt er.
"Zwei Folgen! Danach muss ich arbeiten" , sage ich und wir verkrümeln uns auf der Couch, um die Kinderserie fertig zu sehen. "Wir müssen die schaffen, bevor du wieder abreist. Ich schaue die auf gar keinen Fall alleine weiter!" , sage ich. Leano kocht uns beiden zwei Tassen Kakao, die wir mit auf das Sofa nehmen und über die große Leinwand spielen wir die Folgen ab. Die Serie ist wirklich lustig und auch wenn wir uns gestern Abend so nah waren, halten wir nun Abstand voneinander. Ich sitze in meiner Ecke des Sofas und er in seiner Ecke. Es ist anders, als gestern Abend. Es ist hell und nicht mehr so vertraut irgendwie. Auch wenn wir uns gegenseitig Komplimente machen, traut sich keiner so richtig, den ersten Schritt zu machen, wenn wir nicht gerade in einer Extremsituation angekommen sind. Sogar Jul hat die Anziehung zwischen uns bemerkt, sonst hätte er heute morgen nicht diesen Kommentar gebracht. Auch jetzt sitze ich noch im Schlafanzug neben ihm und es stört mich nicht das geringste bisschen.
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