Kapitel XVIII

Der Wald im Norden Naras war auch als der dunkle Wald bekannt. Es heißt, dort könne man die Nacht nicht vom Tag unterscheiden. Es war das erste Mal, dass Meron hier war und was er in früheren Zeiten als Ammenmärchen verspottet hatte, lag nun direkt vor seinen Augen. Am Waldrand hatten die sechs Wachen Fackeln entzündet, doch auch ihr Licht schien von der Schwärze des Waldes verschlungen zu werden. Meron wusste nicht, wie spät es war, sein Zeitgefühl war komplett verloren gegangen. Doch sein Gespür für die Natur hatte ihn nicht verlassen. Dieser Wald war uralt, einer der ältesten Teile Naras. Hier lebten Tiere und Pflanzen, die man nirgendwo sonst jemals gesehen hatte. Angesichts dessen hatte Merons Ruhe ihn etwas im Stich gelassen. Er war nervös, fast so nervös wie die Wachen um ihn herum. Nur Antalda bewegte sich mit traumwandlerischer Sicherheit durch das dunkle Dickicht des Waldes, als wäre er hier geboren und aufgewachsen. Er fühlte sich sichtlich wohler und zehrte an der Macht des Waldes. Plötzlich hob Antalda die Hand und alle anderen blieben stehen. Soweit Meron dies im schwachen Fackelschein erkennen konnte, standen sie auf einer großen Lichtung.
"Bindet ihn fest", hörte er Antaldas raue, ehemals so sanfte Stimme. Gewaltsam führten die Wächter ihn in die Mitte der Lichtung und banden ihn an einem dicken hölzernen Pfahl, der gute drei Meter aus der Erde ragte, fest. Antalda streckte die Arme zum Himmel und eine schwarze Flamme erschien oben auf dem Pfahl. Sie verbrannte den Pfahl nicht, aber Meron spürte, dass er mit jeder Minute, die die Flamme brannte, schwächer wurde. Die Lichtung war nun in ein seltsam kaltes und dunkles Licht getaucht.
Antalda stieß einen schrillen Pfiff aus. Nur wenige Sekunden später traten drei riesige Wesen durch die Bäume auf die Lichtung. Erst auf den zweiten Blick erkannte Meron sie. Nie war er einem solchen Tier begegnet, doch Chorchans Beschreibungen waren genau gewesen. Dies waren die echsenartigen Geschöpfe, von denen eines Chorchan kurz nach seiner Ankunft auf Nara angegriffen hatte. Angeblich standen sie unter Raznars Befehl, wieso waren sie hier? Hier gehorchten sie Antalda? Die einzige Antwort, die ihm einfiel, wollte er nicht glauben.
"Euer erstes Ziel", sprach Antalda lauernd zu den Tieren und deutete auf die Wachen, die noch am Rande der Lichtung standen. "Tötet sie."
Sofort sprangen die Echsen die sechs Wächter an. Der Schock, der ihnen bei Antaldas Worten in die Glieder gefahren war, lähmte sie. Ohne sich verteidigen zu können, wurden sie in Stücke gerissen. Meron traute seinen Augen nicht. Wieso ließ Antalda seine eigenen Gefolgsleute töten? Antalda drehte sich zu Meron um und sah ihm höhnisch in die Augen, während sich die Echsen am Fleisch der Toten labten.
"Ich bitte dich, Meron. Ich habe dich immer für einen klugen Mann gehalten, also solltest du mein kleines Geheimnis inzwischen entdeckt haben", sagte Antalda und lächelte spöttisch.
"Raznar", zischte Meron zwischen den Zähnen.
"Eigentlich sollte ich applaudieren", meinte Antalda und fuhr fort: "Vor deinem Tod möchte ich dir noch erzählen, wie es dazu kam, dass ich mich dem mächtigen Raznar angeschlossen habe."
"Erzähl mir nichts, kein Wort!", schrie Antalda. "Mir reicht es zu wissen, dass du dich dem Geächteten angeschlossen habt. Zeugenbeseitung, dass war dein Ziel, als du diese Viecher auf die Wachen gehetzt hast. Keiner wird wissen, was vor sich geht. Das ganze Dorf wird ahnungslos sein. Chorchan ist nicht mehr da, was soll die Heere Raznars noch vom Dorf fernhalten? Hast du dann erreicht, was du wolltest? Ist dann der Moment gekommen, an dem du endgültig dein falsches, freundliches Ich ablegst und dich allen offenbarst? Glaub mir eines, Antalda oder wie auch immer du jetzt genannt wirst: Weder Raznar noch du noch sonst irgendjemand kann Nara jemals wirklich zerstören. Niemals wird das Glück der Finsternis weichen."
"Du siehst scharf, mein alter Freund. Bis auf den letzten Punkt gebe ich dir vollkommen recht, du hast meinen Plan durchschaut", antwortete Antalda. "Umso gefährlicher bist du für mich, doch bald ist dem nicht mehr so. Dein Grab ist geschaufelt, Meron. Du hast dich mit deinem Namen gerühmt, Meron. Du bist die Wahrheit. Wenn du untergehst, geht die Wahrheit mit dir unter. Nun denn, ich wünsche einen angenehmen Tod."
Zu den Bestien gewandt meinte er: "Er soll leiden, lasst ihn qualvoll sterben, sodass kein Stück mehr von seiner Existenz zeugt."
"Ich freue mich, dich gekannt zu haben, mein Freund der Wahrheit", sagte Antalda und ging zurück in die Wald. Meron sah ihm hinterher, bis er von einem Knurren unterbrochen wurde. Die drei Echsen kamen langsam an seinen Pfahl heran.

Chorchan schreckte hoch. Um ihn herum war Dunkelheit. Jetzt erst begriff er, dass er den ganzen Nachmittag verschlafen hatte. Doch das störte ihn nicht weiter, denn so ausgeruht hatte er sich seit Tagen nicht mehr gefühlt. Er wühlte in seiner Tasche und kramte ein paar Bissen Brot hervor. Einen der sechs Brotlaibe, die Meron ihm mitgegeben hatte, hatte er bereits verspeist. Wenn er sein Essen weiter so rationierte, würde das Brot nicht nur für eine Woche, wie Meron gesagt hatte, sondern sogar für zwei Wochen reichen. Nun holte er seine Wasserflasche hervor, um seine trockene Kehle wieder etwas zu befeuchten. Als er die Flasche ansetzte, waren jedoch nur noch ein paar Tropfen darin. Chorchan seufzte. Auf seiner weiteren Reise würde er nach einem Fluss oder einem See Ausschau halten müssen. Er sah sich um. Links von ihm war noch ein leichter Schimmer zu sehen, er gehörte wohl zur untergehenden Sonne. Vor ihm lag ein Weg, der von links nach rechts weiter in den Wald hineinführte. Da die Sonne links von ihm unterging, musste er den Weg wohl nach rechts gehen. Stöhnend rappelte Chorchan sich auf. Seine Glieder schmerzten und waren steif von seiner unbequemen Schlafhaltung. Er schüttelte sich einmal kurz durch, dann schulterte er die Tasche und begann den Weg entlang zu laufen. Er wusste nicht, dass in diesem Moment einige Meilen westlich von ihm ein kleiner blauer Vogel völlig erschöpft auf dem Ast eines Baumes landete und einschlief. Er wusste nicht, dass dieser Vogel ihn finden wollte. Doch er wusste, was er tun konnte und das tat er. Jeder Schritt, den er gen Osten ging, brachte ihn Raznar und dessen oder seinem eigenen Verderben ein Stückchen näher.

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