Kapitel X

"He, aufwachen!"
Eine warme, sanfte Stimme sprach zu ihm.
"Wach auf!"
Er spürte eine warme Hand auf seiner Wange und dann schlug er die Augen auf. Ein ovales Gesicht befand sich direkt über seinem eigenen. Es war zweifelsohne sehr hübsch mit den tiefen braunen Augen, der spitzen Nase und dem fröhlichen Lächeln auf den vollen Lippen. Umrahmt wurde es von langen, leicht gelockten und dunkelbraunen Haaren.
"Schön, du bist wach. "
Die Worte kamen aus dem Mund des Gesichtes und es entfernte sich von ihm. Er sah nun die komplette Gestalt des Mädchens, dass über ihm stand. Sie war groß, zumindest für ein Mädchen und er schätzte sie auf etwa fünfzehn Jahre. Sie hatte helle Haut, die aber von der Sonne stark gebräunt war und sie trug Kleidung aus Fell, genau wie er auch, was er soeben bemerkt hatte, als er seine Hand auf die Brust gelegt hatte. Langsam richtete er sich auf.
Das Mädchen ging vor ihm in die Hocke und fragte ihn: "Und? Wie fühlst du dich?"
Schrecklich, wollte er antworten, doch er war zu erschöpft, um zu reden.
Besorgt sah sie ihn an.
"Hier, trink das." Sie hielt ihm eine lederne Feldflasche hin. Dankbar nahm er sie und führte sie an den Mund. Eine warme Flüssigkeit floss seine Kehle herab. Sie schmeckte wie Honig und brachte wieder einige klare Gedanken in seinen Kopf.
"Wo bin ich?" Mit krächzender Stimme kamen ihm diese Worte über die Lippen. "Wo bin ich?"
"Du bist dort angekommen, wo du zuhause bist. Du bist dort, wo dein Leben begann, so, wie es jetzt ist." Sie schenkte ihm ein breites Lächeln.
"Und jetzt bitte ohne Rätsel", erwiderte er.
Sie lachte laut auf. "Nein, das ist kein Rätsel. Willkommen daheim. Willkommen auf Nara, der Insel des Glücks."

Die Erinnerung kehrte zurück, die Erinnerung an die erste Begegnung mit ihr. Als Chorchan die Augen aufschlug, stachen ihm wieder diese braunen Augen und dieses dunkelbraune Haar ins Gesicht.
"Naina?", fragte er.
"Pssst", machte Naina und hielt ihm einen Finger an den Mund.
"Ruh dich aus, Chorchan", flüsterte sie. "Du hast Großartiges geleistet. Ich bin so stolz auf dich."
Chorchan wollte antworten, doch als er den Mund öffnete, brachte er nur ein Husten zustande.
"Ich sagte doch, du sollst ruhig sein!", schimpfte Naina.
Dann öffnete sie eine Flasche. Chorchan erkannte diese sofort wieder, es war die Feldflasche, aus der ihr Naina damals bereits zu trinken gegeben hatte.
"Hier, trink das. Es wird dir helfen", meinte sie und setzte die Flasche an seine Lippen.
Chorchan trank und erkannte den Geschmack nach Honig, der ihm ganz warm werden ließ.
"Danke", sagte er mühevoll.
Besorgt sah Naina ihn an.
"Musst du eigentlich immer in Ohnmacht fallen?", fragte sie. "Du hast mir einen riesigen Schrecken eingejagt, als dich hier liegen sah."
Ein merkwürdiger Glanz trat in ihre Augen.
"Ich sollte dich ins Dorf zurückbringen, dort wird man dir besser helfen können", sagte sie. "Denkst du, du kannst aufstehen?"
Sie hielt ihm ihren ausgestreckten Arm hin. Dankend griff Chorchan zu und zog sich daran hoch. Auch nach dem Getränk von Naina war ihm immer noch etwas schummrig und er stand noch recht wacklig auf den Beinen. Dann machte er seine ersten Schritte vorwärts. Mit jedem Schritt wurde er sicherer, sodass Naina ihn schließlich nicht mehr stützen musste. Durch das Dickicht des Waldes kamen sie dem Fackelschein des Dorfes immer näher. Die Sonne stand zwar bereits knapp über dem Horizont, doch hier Wald war davon nicht viel zu sehen. Noch war alles dunkel und Chorchan und Naina konnten sich nur an den flackernden Lichtern aus dem Dorf orientieren. Als sie dann den Rand der Dorflichtung erreichten, stieg die Sonne über die Baumwipfel und bestrahlte Chorchan mit ihrem goldenen Licht. Auf einmal brandete von allen Seiten Jubel auf. Das halbe Dorf hatte sich um die Ankommenden versammelt und jubelte Chorchan zu. Er war der Held, der den gewaltigen Sturm aufgehalten und vernichtet hatte. Aus der Menge traten plötzlich sechs Gestalten, zwei mit der braunen Fellkleidung der Pantori, zwei in den weißen Roben der Hemeri und zwei in den schwarzen Roben der Nyteri. Der Hohe Rat von Nara war erschienen. Nun nahmen sie Chorchan in ihre Mitte und brachten ihn weg von der Menge und auf die abgeschiedene Lichtung des Rates. Alle nahmen Platz und jetzt erst sah Chorchan, das ihre Gesichter nicht erfreut, sondern von grimmiger Nachdenklichkeit waren.
"Willkommen, Chorchan, im Hohen Rat von Nara! Zuerst möchten wir dir zu deiner Leistung im Sturm dort draußen gratulieren. Du hast hervorragende Arbeit geleistet und das ganze Dorf vor einer Katastrophe gerettet. Wir stehen allesamt tief in deiner Schuld", begann Antalda. "Doch ich will dich nicht auf die Folter spannen. Der Grund dafür, dass wir dich hergebracht haben, ist, wie du sicherlich bereits erkannt hast, ein anderer."
Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: "Wir alle haben gesehen, wie du nach dem Überwältigen des Sturmes in Ohnmacht gefallen bist. Was hast du gesehen?"
Diese Frage traf Chorchan vollkommen unvorbereitet.
"Also...als ich den Sturm besiegt hatte, war ich erschöpft, so erschöpft, dass ich einfach zu Boden sank", erzählte er. "Dann hörte ich in meinem Kopf eine schreckliche und grausame Stimme, merkwürdig dunkel, aber dennoch schrill. Sie sagte zu mir: ' Die erste Prüfung hast du bestanden, Chorchan Slindarin. Ich hatte nichts anderes erwartet von jemandem mit deinen Fähigkeiten. Komm, stelle dich mir! Versuche, mich zu besiegen. Komm, sonst wird die ganze Welt im Sturm vernichtet werden. Ich erwarte dich, ich erwarte deinen Tod. Komm zu mir und stirb!' "
Chorchan war überrascht, wie genau ihm diese Worte im Gedächtnis geblieben waren.
"Auch im Sturm habe ich solche schrecklichen Dinge erlebt, grausame Bilder in meinem Kopf, Bilder von Schmerz, Leid und Elend, Bilder von Kälte und Dunkelheit, von einem schwarzen Palast in einem Meer aus ewigem Schnee und Eis. Diese Bilder waren es, die so an meinen Kräften gezehrt hatten", sagte Chorchan.
Furcht und Entsetzen war in den Mienen der Ratsmitglieder zu lesen. Antaldas Gesicht jedoch blieb steinhart, seine Augen zeugten von den Gedankengängen in seinem Kopf. Dann stand er auf.
"Nun denn, Chorchan Slindarin. Ich hatte gehofft, diese Worte möglichst lang für mich behalten zu können, doch die Zeichen regen zur Eile an. In drei Tagen wirst du losziehen müssen gen Osten, zum Land des Verstoßenen hin. Es tut mir leid", sagte Antalda bekümmert.
Als sich Chorchan zum Gehen wandte, rief Antalda ihn noch einmal zurück.
"Chorchan! Dein Schicksal ist noch nicht entschieden. Du bist sein Bote, du bist der, der das Schicksal der ganzen Welt erschafft. Du hast es selbst gesagt: ' Nytan al eratax, tojan hopeti, hemeran sil culux!' Du hattest recht. Auf jede Nacht folgt ein Morgen. Dieser Morgen bist du. Du bist der Beginn für den Tag der ganzen Welt. Dass dir diese heiligen Worte in diesem Moment über die Lippen kamen, zeugt davon, dass du die Macht hast, Raznar zur Strecke zu bringen. Ich wünsche dir nur das Beste. Bring uns den Tag zurück, doch nun entspanne erst einmal und genieße deine Zeit mit deinen Freunden", meinte er. Chorchan nickte stumm, dann drehte er sich um und ging in den Wald zurück.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top