Kapitel VII
Chorchan schreckte hoch. Er fühlte, dass der Tag angebrochen war, doch er sank trotzdem noch einmal auf seine Matte zurück. Schlaftrunken rieb er sich die Augen, doch als ihm einfiel, welcher Tag heute war, was heute geschehen würde, war er sofort hellwach. Die Nacht war anstrengend gewesen. Obwohl er keinen einzigen Traum gehabt hatte, war er mehrmals schweißgebadet aufgewacht. Schnell zog er sich seine graue Tunika über und trat aus dem Zelt. Der Morgen war angenehm kühl und ruhig. Chorchan starrte an den blutroten Himmel und die Sonne, die bereits komplett über dem Horizont stand. Trotzdem war im Dorf noch alles ruhig und Chorchan beschloss, sich einmal die Insel etwas näher anzusehen. Zuerst ging er in Richtung der Sonne. Als er den Rand des Dorfes erreichte, sah er zu seiner Rechten einen hohen Hügel, dessen grünes Gras vom Sonnenlicht rot gefärbt wurde. Er ging darauf zu. Nach langem, mühevollen Marsch kam er am Fuße des Hügels an und machte sich an den Aufstieg. Die Sonne stand bereits halbhoch und aus der Richtung des Dorfes hörte er einige Geräusche, die aber aufgrund der großen Entfernung nur sehr gedämpft waren. Als er auf dem Hügel ankam, sah er dort eine Gestalt in Meditationshaltung sitzen. Ihr Gesicht konnte er nicht erkennen, da sie mit dem Rücken zur Sonne saß, doch auf ihren Rücken fiel langes, dunkelbraunes Haar.
Ihm wurde ganz warm, als er Nainas Stimme hörte, die sagte: "Hallo, Chorchan. Komm, setz dich zu mir."
Sie drehte sich nicht zu ihm um, also setzte sich Chorchan einfach neben sie.
"Ich hoffe, du hast gut geschlafen?"
"Naja...", begann Chorchan, doch sie unterbrach ihn.
"Das habe ich auch nicht erwartet. Wer würde vor einem solchen Tag schon gut schlafen."
"Da hast du recht", antwortete Chorchan lächelnd. Naina hielt die Augen immer noch geschlossen.
"Deshalb ist es umso besser, dass du hier bist", meine sie und öffnete die Augen. Dann drehte sie ihren Kopf Chorchan zu.
"Wie fühlst du dich?", fragte sie ihn. Als er keine Antwort gab, meinte sie: "Sieh dich einmal um. Links, rechts, vor dir, überall diese Schönheit, diese Natur. Vögel, die zwitschern, Blätter, die im Winde rauschen..."
Sie atmete tief durch.
"Lockere dich, werde eins mit deiner Umwelt, mit der Natur, die dich umgibt, die ein Teil von dir ist. Vergiss den Schatten in deinem Rücken."
"Ich kann nicht", sagte Chorchan. "Der Schatten, er drückt meinen Rücken nach unten. Wieso ist in meinem Rücken Schatten, wenn doch dort die Sonne steht?"
Naina seufzte. "Nicht alles, was glänzt, ist Gold." Sie drehte sich und sah nun zur Sonne, Chorchan tat es ihr gleich.
"Siehst du, dort unten?" Naina zeigte auf eine Stelle am Horizont, wo sich dunkle Wolken übereinander türmten.
"Raznar", meinte Chorchan.
"Ja", antwortete Naina. "Das ist Taranth, die Insel der Finsternis oder Mar-an-Raznar, wie man sie heute nennt. Auch dort wird dein Weg dich noch hinführen."
Traurig sah Naina ihn aus ihren braunen Augen an. "Es ist Zeit, Chorchan. Wir werden erwartet."
Als sie wieder auf der Wiese eintrafen, schien es Chorchan so, dass das ganze Dorf auf den Beinen war. Die meisten waren mit ihrer Arbeit oder Training beschäftigt, einige nahmen noch ihr Frühstück ein. An einem der hintersten Tische entdeckte Chorchan Meron, der dort ganz allein saß und aß.
"Komm", sagte Chorchan zu Naina und ging auf Meron zu. Sie folgte ihm. Bei Meron angekommen, setzten sich die beiden ihrem Trainer gegenüber. Merons Augen blitzten auf.
"Chorchan, mein Junge, schön, dich zu sehen! Guten Morgen, Naina. Und, seid ihr bereit?"
"Natürlich, Meron", meinte Naina und stand auf, um sich etwas zu essen zu holen.
"Ich hoffe, du hast gut geschlafen", sagte Meron, doch bevor Chorchan antworten konnte, fuhr er fort: "Eine blöde Frage. Wer schläft schon gut, eine Nacht, bevor er zur letzten Hoffnung für so viele Menschen wird."
Schweigend saßen sie sich gegenüber, bis schließlich Naina mit zwei gefüllten Tellern wieder auftauchte.
"Hier, für dich", sagte sie und stellte Chorchan den einen Teller hin.
"Danke", entgegnete er. Als er einen Blick auf seinen Teller warf, wo er einen braunen Klumpen und ein paar Beeren entdecken konnte, wandte er sich an Naina: "Was ist das?"
"Das Braune? Das ist ein Brotfladen, in heißer Asche gebacken. Schmeckt nach nicht viel, ist aber sehr nahrhaft. Mit den Beeren zusammen hervorragend." Als Naina bemerkte, dass Chorchan trotz ihrer Erklärung sein Frühstück misstrauisch beäugte, ergänzte sie: "Wenn du etwas Besseres willst, musst du in den Wald gehen und Honig holen. Dann mache ich dir köstliche Honigfladen." Mit einem Grinsen auf dem Gesicht schob sie sich den nächsten Bissen in den Mund und stellte zufrieden fest, dass Chorchan nun ebenfalls kräftig zulangte.
Nach dem Frühstück verabschiedeten sich Chorchan und Naina von Meron, um Antalda aufzusuchen, der nach Chorchan verlangt hatte. Als sie ihn schließlich in einem kleinen Zelt fanden, ließ Naina Chorchan bei Antalda zurück, um in den Wald zu gehen.
"Chorchan Slindarin, einen schönen guten Morgen wünsche ich dir. Ich hörte, du warst heute bereits im Hügelland, dem Irnanh und hast mit Naina den Sonnenaufgang gesehen und meditiert", begann Antalda.
"Das stimmt", antwortete Chorchan.
"Gut, das wird dir bei deiner nächsten Aufgabe behilflich sein. Ich spüre deine Ruhe. Lass sie dich ganz durchdringen und erfüllen."
Auf Antaldas Geheiß atmete Chorchan tief durch und spürte, wie auch der letzte Rest an Anspannung von ihm wich.
"Verzeih mir, Antalda, aber von welcher Aufgabe sprichst du?", fragte Chorchan.
"Ich werde dich nun dem Volk unseres Dorfes, den Bewohnern von Nara vorstellen. Sie müssen wissen, wer den Sturm heute Abend zurückhalten wird. Sie müssen wissen, wer der neue Ganayki, ihr neuer Herr ist", erklärte Antalda. "Nur so vertrauen sie dir, nur so helfen sie dir."
Er stand auf.
"Komm, junger Bote, Bote des Schicksals. Ich stelle dich denen vor, deren Schicksal in deiner Hand liegt."
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top