Kapitel VI
Hohe, schwarze Mauern erhoben sich um die Insel der Finsternis, Tarmanth, die seit der Ankunft Raznars Mar-an-Raznar, Land des Verstoßenen heißt. Die riesige Insel war komplett von dieser hohen Mauer umgeben und nur vier große Tore befanden sich darin, in jeder Himmelsrichtung eines. Diese Tore waren nur schwer zu öffnen, nur Ganayki und Nyteri besaßen die Macht dazu. Denn die Nacht und die Macht der Stürme waren die einzigen Kräfte, die Raznar benutzte. Über der ganzen Insel lag eine schwarze Wolke aus Dunkelheit und keiner der Bewohner von Nara hatte je gesehen, was sich darunter verbarg, zumindest war keiner, der dieses Wissen erlangt hatte, jemals auf die Insel des Glücks zurückgekehrt. Doch wäre einer von ihnen wieder zurückgekommen, so hätte er nicht viel zu berichten gehabt. Hinter diesen Mauern, unter diesen schwarzen Wolken lag nämlich eine trostlose Wüste aus Eis, soweit das Auge reichte. In der Mitte dieser Insel erhob sich allerdings ein gewaltiger, genauso schwarzer Felsbrocken aus dem Boden. Aus ihm hatten die Diener Raznars ein riesiges Schloss gehauen, in welchem Raznar auf einem schwarzen Thron, tief unter der Erde saß. Tausende von Nyteri und Ganayki schufteten dort, denn Raznar hatte alle, die sein Land betraten, verführt und zu sich bekehrt, sodass sie nun bereitwillig jedem seiner Befehle Folge leisteten. So konnte er mit der Hilfe der Ganayki die mächtigsten Stürme auf Nara loslassen, auch den, der morgen Chorchan alle Kräfte abverlangen würde. Nichts vermag ihn aufzuhalten und sein nächstes Ziel ist gesteckt: Ein Sturm, gewaltig genug, um nicht nur Nara, sondern die ganze Welt zu vernichten.
Chorchan sank erschöpft in einen Stuhl. Das Training war für heute vorüber und es war anstrengend und kräftezehrend gewesen. Meron hatte ihm schwere Prüfungen gestellt, so musste er mithilfe seiner Kräfte bestimmte Parcours voller Fallen und Hindernissen bewältigen und gegen verschiedene Tiere, zum Beispiel Adler und Echsen, solche, die sich unter Raznars Gefolgschaft befinden. Als wichtigste und schwerste Aufgabe hatte Meron ihn zum Schluss einen Sturm herbeirufen lassen, da Chorchan Raznars Sturm nur durch einen eigenen, einen Gegensturm, aufhalten könne.
"Nur wenn die Macht deines Sturmes größer ist als die von Raznars Sturm, kannst du ihn aufhalten" waren die Worte gewesen, die Meron ihm mit auf den Weg gegeben hatte.
Chorchan holte tief Luft und setzte sich in einer entspannten Meditationshaltung auf den Boden. Als er die Augen geschlossen hatte, kamen ihm wieder die Bilder vom Fluss in den Kopf, jedoch verdrängte er sich und ging weiter, tiefer in sein Unterbewusstsein. Er sah nun eine riesige schwarze Wolke, die so weit reichte, dass ihr Ende nicht zu sehen war. Als er durch die Wolke tauchte, geriet ein gewaltiger, genauso schwarzer Palast in seine Augen. Auch an diesem hielt sich Chorchan nicht lange auf, sondern er ging hinein und raste tief hinein, durch Gänge, Kammern und riesige Räume, allesamt pechschwarz. Ganz unten, tief unter der Erde, sah Chorchan einen Thron, auf dem eine schwarze Kapuzengestalt saß. Chorchan trat an sie heran und versuchte, unter ihre Kapuze und sein Gesicht zu sehen. Doch schwarze Schwaden hielten ihn davon ab, packten ihn mit eiskalten Klauen und rissen ihn aus dem Palast heraus, zogen ihn über die Wolke und in eine kalte, dunkle Leere. Chorchan fühlte Macht um sich, Macht, die diesen Schwaden aus der Dunkelheit, der Nacht zufloss. Hastig schlug er die Augen auf und sah Nafthal, den Nyteri aus dem Hohen Rat vor sich stehen.
"Guten Abend, Chorchan", sagte er mit durchdringender Stimme, die dunkler war, als die Robe, die er trug. "Ich darf mich doch setzen?"
Chorchan verdrängte seinen Ärger darüber, dass Nafthal einfach so in sein Zelt marschiert und bot ihm mit einer Geste seinen Stuhl an.
"Dankeschön", sagte Nafthal und setzte sich. "Du fragst dich sicher, wieso ich hier bin."
"Das stimmt, ich werde nicht gern ohne triftigen Grund gestört", antwortete Chorchan mit giftigem Unterton in der Stimme und hoffte, dass sein Gegenüber diese Anspielung verstehen würde. Tatsächlich verdunkelten sich Nafthals Augen noch mehr, sofern das überhaupt möglich war und seine Stirn schlug Falten.
"Ich bin nicht gekommen, um mit dir Diskussionen über die uralten Gesetze von Nara zu halten und auch nicht, um mit dir zu streiten", meinte Nafthal, die Wut in sich mühsam unterdrückend.
"Wieso bist du dann hier, Nafthal?", antwortete Chorchan nicht minder wütend. "Wohl kaum, um mich zu loben."
"Vergiss diesen Unsinn, ich bin hergekommen, um etwas Wichtiges mit dir zu bereden", sagte Nafthal ruhig. "Wie ich hörte, hast du mit den Adlern gesprochen."
"Das stimmt", meinte Chorchan.
"Außerdem hast du erfahren, dass der Sturm Raznars bereits morgen eintrifft."
Chorchan nickte bestätigend.
"Deshalb hast du bereits heute mit deinem Training begonnen."
"Ja", stimmte Chorchan zu.
"Darf ich fragen, ob dir die Aufgaben, die Meron dir gestellt hat, leicht gefallen sind?", wollte Nafthal wissen.
"Ich hatte keine größeren Schwierigkeiten, wenn ich das so sagen darf."
"Das ist sehr interessant. Ich habe nämlich von Meron erfahren, dass die Prüfungen, die er dir gestellt hat, die schwersten waren, mit denen er dich trainiert. Auch hat Meron gesagt, dass du diese mit Leichtigkeit gemeistert hast."
Mit weit aufgerissenen Augen starrte Chorchan sein Gegenüber an. Sicher, die Aufgaben von Meron waren kein Kinderspiel gewesen, doch er hatte keine großen Probleme damit gehabt haben. Dass diese Prüfungen die höchste Steigerung an Schwierigkeit gewesen waren, hätte Chorchan niemals für möglich gehalten.
Nafthal schmunzelte.
"Überrascht dich diese Tatsache wirklich? Mich nicht und auch keinen anderen aus dem Hohen Rat. Für dich als Boten ist dieses Training keine Herausforderung", fuhr Nafthal fort. "Doch nun zu einer ernsteren Sache: Als wir hörten, dass der Sturm Raznars bereits morgen eintreffen soll, schickten wir unsere besten Späher gen Osten, um die Aussage der Adler tu prüfen und den Sturm zu erforschen. Gerade eben ist Skarl wieder zurückgekehrt. Seinem Bericht zufolge ist dieser Sturm gewaltiger als alles bisher Gesehene. Da er bereits auf dem Eron-Plateau angekommen ist, wird er morgen bei Sonnenuntergang den Waldrand erreichen."
Als Chorchan diese Worte hörte, konnte er bloß blass nicken. Der Gedanke an den morgigen Abend ließ ihn erschaudern.
"Außerdem wünscht Antalda, dass du morgen dem Volk Naras, also den Bewohnern des Dorfes vorgestellt werden sollst, sofern das für dich in Ordnung geht", ergänzte Nafthal.
Wieder konnte Chorchan nur nicken, doch Nafthal legte ihm eine Hand auf die Schulter.
"Ruh dich aus und schlafe schnell. Ich bin überzeugt, dass du morgen Abend keinerlei Probleme haben wirst. Gute Nacht, Chorchan Slindarin."
Mit einem ermutigenden Lächeln stand Nafthal auf und verließ das Zelt.
Chorchan sah ihm nach, schloss die Augen und fiel schließlich in einen langen, traumlosen Schlaf.
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