Kapitel IX

Die letzten Strahlen der Sonne verblassen, die Dunkelheit der Nacht legte sich auf das Land. Keine Sterne waren zu sehen, auch der Mond wurde von den grauen aufgetürmten Wolkenbergen verdeckt. An der Grenze des Ostwaldes hatten sich neun Personen versammelt: der Hohe Rat von Nara, Meron, Naina und Chorchan. Angespannt blickten sie gen Osten, auf die herannahende Wolkenwand, die immer wieder von hellen Blitzen durchzogen wurden. Donnergrollen war in weiter Ferne zu vernehmen.
Meron pfiff durch die Zähne und Chorchan drehte sich zu ihm um.
"Was ist?", fragte er.
"Dieser Sturm da ist das Gewaltigste, was ich je gesehen habe", meinte Meron beeindruckt. "Raznar wird seine ganze Kraft aufgewandt haben."
Er klopfte Chorchan auf die Schulter.
"Aber das machst du ja mit links. Normalerweise sage ich am der Stelle: Denk an dein Training. Doch bei dir, Chorchan, mache ich das nicht. Denke nicht an dein Training. Viel hast du von mir nicht gelernt, viel konnte ich dir nicht mehr beibringen. Denk an dich. Denk an die Menschen, die du liebst. Denk an die Menschen im Dorf, die ihre Hoffnung in dich setzen. Du kannst es schaffen, du wirst es schaffen. Das weiß ich."
"Danke, Meron", sagte Chorchan gerührt.
"Wir sehen uns wieder", antwortete dieser. "Mach's gut, mein Freund."
Dann wandte er sich ab und ging auf den Lichtschein in der Ferne zu, das Dorf.
"Viel Glück, Chorchan", hauchte Naina mit Tränen in den Augen.
Chorchan wollte antworten, doch die Worte blieben ihm im Halse stecken. Da fiel ihm Naina plötzlich um den Hals.
"Komm zu mir zurück", flüsterte sie. Dann ging auch sie in den Wald hinein, blieb jedoch auf halber Strecke stehen. Sie nahm ihre rechte Faust und führte sie zuerst an die Stirn und dann an den Mund. Danach drehte sie sich um und war bald im Dickicht des Waldes verschwunden.
"Für uns gibt es nun nicht mehr viel zu sagen. Wir vertrauen auf dich. Du bist Chorchan, der Bote. Wenn irgendjemand die Macht hat, diesen Sturm aufzuhalten, dann bist du das", sprach Antalda. "Wir wünschen dir viel Glück."
Dann führten auch die Mitglieder des Rates ihre Faust zuerst an die Stirn und dann an den Mund, so wie Naina. Dann verschwanden sie, einer nach dem anderen im Wald.
Ruhe umgab Chorchan. Kein Geräusch war zu hören, kein zwitschernder Vogel, keine zirpende Grille. Nicht einmal ein Blatt regte sich im Wind und nun erst merkte er, dass es vollkommen windstill war. Nur etwa zweihundert Meter vor ihm tobte ein gewaltiger Sturm, doch um ihn herum regte sich kein Lüftchen. Chorchan ließ sich zu Boden und meditierte. Er griff tief in seinen Geist, ließ alle Emotionen, die Angst, die Verzweiflung, fallen. Er machte sich innerlich leer und spürte, wie er mit neuer Kraft erfüllt wurde. Er warf einen letzten Blick auf den Sturm, dann schloss er die Augen. Dann blendete er alles aus, den Sturm, die Nacht, die Stille und konzentrierte sich ganz auf sich. Er spürte eine heiße Quelle in sich aufbrechen, in seiner Brust schienen Feuer und Wasser durch einen starken Wind durcheinandergewirbelt zu werden und er hüllte sich ein in diese Aura, in die drei Kräfte des Sturmes. Dann stand er auf, setzte sich in Bewegung und öffnete seine Augen. Chorchan war von einem silbernen Glanz umhüllt, der stärker leuchtete als die Sonne am Tag. Nach einigen Schritten trat er in den Sturm hinein. Er sah ihn nur, doch durch den Glanz spürte und hörte er nichts. Mitten durch den Sturm ging er. Feuer, Wasser und Wind schlugen von allen Seiten auf ihn ein, doch er spürte davon nichts. Schließlich war er in der Mitte des Sturms angelangt. Die silberne Hülle verschwand und Chorchan hörte das Wüten des Sturmes um sich herum. Doch hier, im Herzen des Sturmes, war es ruhig und windstill. Chorchan sah nach oben. Dort, zwischen den schwarzen Wolken, hoch am Himmel, stand der Mond, hellblau und klar. Es war Vollmond in dieser Nacht und das Licht des Mondes tauchte das Sturminnere in ein geheimnisvolles Licht. Chorchan streckte die Hand aus und fasste in einen Wolkensturm neben ihm. Bilder erschienen in seinem Kopf, schwarz, dunkel, grausam. Blendend weißes Eis, schwarzes Gestein, brutale Kreaturen sah Chorchan vor seinem inneren Auge und schnell zog er seine Hand zurück. Als er jedoch abermals zum Mond hinaufsah, meinte er dort einen kleinen, hellen Stern zu erkennen. Das Licht des Sternes belebte ihn und ließ ihn neue Kraft schöpfen. Er wusste, was er zu tun hatte. Chorchan sprang in den Sturm hinein.
Höher trieb er, immer höher. Die Schmerzen in seinem Kopf, die grausamen Bilder wurden beinahe unerträglich und Chorchan wollte sich bereits aus den Wolken stürzen. Doch er sah den Stern vor sich. Er schien zum Greifen nah. Chorchan wusste, dieser Sturm hatte ein Ende und dieses war nicht mehr fern.
Plötzlich durchbrach er die Wolkendecke und stand oben auf den Wolken, die ihm sicheren Halt boten. Um ihn herum waren nur grau-schwarze Wolken, doch über ihm stand der Mond mit dem kleinen Stern zu seiner Rechten. Da erschienen die Worte, in seinem Kopf, Worte, mächtig genug, um diesen Sturm zu stoppen.
Er hob beide Arme und mit dröhnender, weithin hörbarer Stimme rief er: "Nytan al eratax, tojan hopeti, hemeran sil culux!"
Die Worte in der Sprache des alten Nara kamen über seine Lippen, in unserer Sprache bedeuten sie: "Die Nacht ist vorüber, der Morgen erscheint, der Tag beginnt!"
Nach diesen Worten erhoben sich aus dem Sturm drei Säulen: eine aus gleißendem Feuer, eine aus Wasser und die dritte aus Wind. Über Chorchans erhobenen Händen trafen die Säulen aufeinander und bildeten einen Schirm über den ganzen Sturm. Glühend sank der Schirm immer weiter auf den Sturm hinab, raubte ihm alle Kraft und zwang ihn schließlich in die Knie. Chorchan fiel zu Boden. In der Ferne ging die Sonne auf. Er hatte nicht bemerkt, dass er die ganze Nacht mit dem Sturm gefochten hatte. Doch nun war die Aufgabe erfüllt, der Sturm war besiegt! Chorchan wollte aufstehen und zum Waldrand gehen, als ein stechender Schmerz in seiner Stirn ihn erneut auf die Knie fallen ließ. Eine grausame Stimme ertönte in seinem Kopf, tief, dunkel und zischend: "Die erste Prüfung hast du bestanden, Chorchan Slindarin. Ich hatte nichts anderes erwartet von jemandem mit deinen Fähigkeiten. Komm, stelle dich mir! Versuche, mich zu besiegen. Komm, sonst wird die ganze Welt im Sturm vernichtet werden. Ich erwarte dich, ich erwarte deinen Tod. Komm zu mir und stirb!"
Dann wurde ihm schwarz vor Augen und er fiel der Länge nach zu Boden.

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