50. Die Stimme des Meeres

Twinkle, twinkle, little star,

How I wonder what you are.

Up above the world so high,

Like a diamond in the sky.

Am Donnerstag in der Schule kam etwas Bewegung in den langweiligen Alltag der anderen. Ich selbst war ja reichlich versorgt. Wie inzwischen jeden Tag saß ich am Tisch der Künstler und unterhielt mich mit Sarah und ihrem Kumpel Rodrick über die anstehenden Prüfungen, als ein lauter Wortwechsel unsere Aufmerksamkeit weckte.

Laute Wortwechsel waren nichts Seltenes in einer Schulcafeteria, doch hier handelte es sich um Paul und Anni. Sie standen an ihrem Tisch, Paul sein Tablett in der Hand, während Annis neben ihr auf dem Tisch lag. „Was zum Teufel soll das heißen?", schrie sie ihn gerade an. Mary und Sina saßen direkt daneben und sahen ebenso überrascht wie der Rest von uns aus.

„Warum schreist du mich jetzt schon wieder an?", gab Paul wesentlich leiser und etwas genervt zurück.

Neben mir tauchte ein mir vertrauter Rotschopf im weißen Laborkittel auf. „Was ist denn da los?" Er stellte sein Tablett neben mich hin und quetschte sich zwischen mich und Aisha, die ihm einen bösen Blick zu warf. Ich schüttelte den Kopf. „Keine Ahnung."

„Ich habe sie vorhin im Gang auch schon streiten sehen.", meinte Aisha und warf ihre Dreads zurück.

„Echt warum?", fragte jemand anderes am Tisch.

Aisha zuckte mit den Schultern. „Ich habe nur gehört, dass es um ein Mädchen ging."

Inzwischen hatten die beiden ihren Streit fortgesetzt.

„Wenn dir meine Figur nicht gefällt, warum gehst du nicht zurück zu dieser Bitch?", schrie Anni gerade.

Paul fuhr sich durch die braunen Haare und verdrehte die Augen. „Ich habe nur gesagt, dass du dein Essen mal ganz aufessen könntest."

„Ja, weil ich anscheinend zu dünn bin."

„Das habe ich nie gesagt."

„Aber gedacht.", fauchte Anni, griff in Pauls Dessertschüssel und klatschte ihm das Eis ins Gesicht. „Iss doch du erstmal deinen Scheiß." Paul schrie auf und wich zurück dabei schwankte das Wasser auf seinem Tablett bedenklich.

Ich stand zeitgleich mit Mary auf, die natürlich schneller am Geschehen war. Sie stellte sich zwischen Paul und Anni und sagte: „Das reicht jetzt." Ihre Stimme klang ruhig, aber bestimmt.

Die ganze Cafeteria schien die Luft anzuhalten, selbst der Fußball/Cheerleader Tisch war vollkommen aufmerksam.

„Verdammt, was ist nur los mit dir?", brüllte Paul.

Was er nicht wissen konnte, war wie empfindlich Anni auf solche Kommentare reagierte, denn nur Mary und ich wussten, dass sie mit zehn Jahren unter Magersucht gelitten hatte. Es war nur eine kurze Periode gewesen und war zum Glück schnell geheilt worden, doch seitdem hatte sie panische Angst wieder der Krankheit zu verfallen.

Ich erreichte die beiden und legte beruhigend einen Arm um Anni. „Es ist alles gut, er hat sich nichts dabei gedacht, du weißt ja wie er ist.", flüsterte ich ihr zu, während Mary versuchte Paul zu beschwichtigen. Die anderen schienen zu spüren, dass das Drama vorbei war und setzten sich leise tuschelnd, wieder zu ihren Tischen.

Anni sah mich mit Tränen in den hellblauen Augen an. „Ich wollte nicht überreagieren.", sagte sie leise. Dann atmete sie einmal tief durch und ging an Mary vorbei zu Paul. Sie raunte ihm etwas zu und er nickte. Inzwischen sah er nicht mehr wütend aus, sondern besorgt. Zusammen verließen sie die Cafeteria.

„Wow, das war krass.", JJ gesellte sich mit seinem Teller Spaghetti zu uns, was mich unwillkürlich zum Schmunzeln brachte.

„Kann man dich durch irgendwas aus der Ruhe bringen JJ?"

JJ hob dozierend seinen Finger. „Ein Wissenschaftler muss stehts die Ruhe bewahren und sachlich bleiben." Während er redete schwankte die Gabel auf seinem Teller und viel, bevor er sie auffangen konnte.

„Oh Mist.", murmelte er und bückte sich, um sie wieder aufzuheben, wobei er allerdings den halben Inhalt seines Tellers auf den Boden kippte. Mary legte sich die Hände übers Gesicht und schüttelte den Kopf, während ich nicht anders konnte als zu lachen.

„Muss ein Wissenschaftler auch stehts tollpatschig sein, oder trifft das nur auf dich zu?", fragte ich während ich ihm half seine Spaghetti aufzuheben und Mary mit einer Serviette die Tomatensoße aufwischte.

„Halt die Klappe, du wurdest auf peinliche Art gefriendzoned."

„Hey!" Ich boxte ihn gegen seine Schulter. Leider nutzen meine Freunde es gerne aus, dass ich ihnen alles erzählte. „Die Wunde ist noch frisch."

JJ schaute traurig auf seinen Teller schmutzigerSpaghetti. „Die hier auch."

Wochen vergingen und schließlich brach der Februar an. Das Training ging wie gewohnt weiter, sowie auch die Schule. Es gab keine Dramen und Skandale, da die Klausurenphase immer näher rückte und egal wer man war und wie weit oben man in der Schulhierarchie saß, zu dieser Zeit waren alle verzweifelten Schüler, die versuchten sich über Wasser zu halten.

Zwischen mir und Alan ging alles weiter, wie bisher. Ich schmachtete ihn heimlich an, während er sich weigerte mir zu sagen, was los mit ihm war.

Zwischen Anni und Paul hatte sich ebenfalls kaum was verändert, sowie bei Sina und Mary, wobei ihre Zungen nicht so stark miteinander verknotet waren, wie die von Anni und Paul.

Eines Samstags, an dem ich fleißig meine Mathehausaufgaben machte, kam meine Mutter in mein Zimmer, setzte sich auf mein Bett und meinte, sie wolle am nächsten Tag groß kochen.

„Warum denn das?" Normalerweise aßen wir jeder, wann wir Lust hatten, was wir im Kühlschrank fanden oder kochten uns jeder selbst was zusammen.

„Ich wollte deinen Freund Alan einladen und mich bei ihm entschuldigen, dass ich so harsch zu ihm gewesen bin."

Überrascht sah ich von einer besonders kniffligen Wahrscheinlichkeitsaufgabe hoch. „Das ist bestimmt nicht nötig."

Meine Mutter stand auf. „Doch, doch das ist es. Außerdem will ich den jungen Mann, der es dir so angetan hat, richtig kennenlernen."

Ich seufzte. „Mom, glaub mir, es ist besser, wenn nicht. Er mag es nicht neue Menschen kennenzulernen."

„Wie wäre es, wenn du ihn einfach fragst. Falles er nicht kommen mag, muss er ja auch nicht. Ansonsten soll er morgen um zwölf Uhr da sein." Mit diesen Worten verließ sie den Raum und ließ mich angespannt zurück.

Seufzend legte ich meinen Stift weg, griff nach meinem Handy und schickte ihm eine Nachricht. Zu meinem Erstaunen sagte er tatsächlich zu und so standen meine Mom und Brad am nächsten Tag, den ganzen Morgen in der Küche, während ich mich weigerte mitzuhelfen, da es ja nicht meine Idee gewesen war.

Ein paar Mal hörte ich Sätze wie: „Nein Lily, ich bin mir ziemlich sicher, dass kein Salz in das Mousse au Chocolat reingehört.", „Ja Lily, die Flammkuchen werden nicht gekocht, sondern gebacken." Und „Nein, Lily! Das ist doch viel zu viel Pfeffer, willst du uns alle umbringen?". Ich war sehr froh darüber, dass Brad mehr Ahnung vom Kochen hatte, als meine Mom.

Pünktlich um zwölf Uhr klingelte es und ich rannte runter, um die Tür zu öffnen. Alan hatte sich überraschend viel Mühe mit seinem Outfit gegeben. Er trug dunkle, lange Jeans und ein weißes Hemd, dass seine braune Haut unterstrich. Die Hände hatte er in den Hosentaschen vergraben und insgesamt wirkte er etwas nervös.

„Komm rein.", forderte ich ihn auf.

Er zog seine eleganten, Lackschuhe aus und zusammen gingen wir ins Esszimmer, wo meine Mom und Brad gerade die Suppe auf den Tisch stellten. Die beiden begrüßten Alan herzlich und wir setzten uns alle. Meine Mom und Brad auf der einen Seite, ich und Alan auf der anderen.

„Ich muss mich bei dir entschuldigen wegen meines Verhaltens letztes Mal.", sagte meine Mutter und lächelte entschuldigend.

Alan erwiderte ihr Lächeln. „Schon vergessen."

Ich spürte ihre Erleichterung. „Magst du Tomatensuppe?"

Alan nickte und sie schenkte ihm und danach mir, Brad und sich ein.

„Woher kommst du Alan?", fragte Brad.

„Meine Familie reist viel, also gibt es keinen bestimmten Ort, aber ich bin im Amazonas Regenwald geboren."

Überrascht sah ich ihn an. Das hatte ich zum Beispiel nicht gewusst.

„Tatsächlich? Das ist ja interessant. Habt ihr bei den Naturvölkern gelebt?" Brad war Feuer und Flamme.

Alan zögerte kurz. „Nicht direkt. Aber wir hatten Kontakt zu ihnen." Das bedeute wahrscheinlich diplomatischer Kontakt zu irgendwelchen magischen Wesen.

„Und wo genau lebt ihr hier auf Mari?", fragte Brad weiter.

„Abseits.", sagte Alan kurz angebunden und beendete damit das Gespräch. Aus eigener Erfahrung wusste ich, wie vor den Kopf gestoßen sich Brad jetzt fühlte.

Als wir mit der Suppe fertig waren, servierten meine Mom und Brad das Hauptgericht, die Flammenkuchen.

Während sie in der Küche waren, fragte ich Alan: „Und mit wem genau hattet ihr ‚Kontakt' im Regenwald?"

„Mit den Amazonen."

Ich machte große Augen. „Ist das nicht dieses Frauenvolk aus der griechischen Mythologie?"

Er nickte.

„Und wie waren sie so?"

Alan schnaubte belustigt. „Ich war gerade mal ein paar Tage alt, woher soll ich das wissen?"

Ich zuckte mit den Schultern.

In dem Moment kamen Brad und meine Mom mit den Flammenkuchen und wir setzten das Essen fort. Brad und Alan unterhielten sich den Rest des Mittags über irgendwelche Sport Events und später dann über Filme.

Insgesamt machte das Essen überraschend viel Spaß. Es verlief ganz ohne Katastrophen, bis auf den kleinen Vorfall, bei dem meine Mutter aus Versehen bei Wein einschenken nicht aufpasste und Alans Hemd rot färbte.

Tausendmal hatte sie sich entschuldigt, während Alan fluchend aufgestanden war und sich kurzer Hand das Hemd ausgezogen hatte. Sogar Brad war der Mund für einen kurzen Moment offen stehen geblieben, bevor er aufgestanden war, um Alan ein frisches Hemd zu holen, während meine Mom das Schmutzige in die Waschmaschine geworfen hatte. Ich konnte mich nicht wirklich beschweren.

Gegen Abend hin, bekam meine Mom dann einen Anruf von ihrem Boss. Anscheinend hatte jemand berühmtes ein Kleid aus ihrer Kollektion für den nächsten Tag bestellt. Also fuhr Brad sie zur Firma und so blieben Alan und ich allein zurück.

Trotz Friendzone wurde ich etwas nervös. „Willst du noch etwas bleiben?", fragte ich ihn.

Er lümmelte sich auf das Sofa im Wohnzimmer. „Warum nicht? Noch ein Glas Wein bitte."

Ich verdrehte die Augen brachte ihm aber ohne Protest sein Glas und setzte mich neben ihn. „Erzähl mir etwas über die Amazonen.", forderte ich ihn auf.

„Was willst du wissen?"

„Alles. Was genau macht sie magisch? Wie wohnen sie? Ist es wahr, dass sie ohne Männer leben? Ha-"

„Okay, okay, ist ja gut. Ich verstehe schon.", unterbrach Alan mich lachend. Er nahm ein Schluck von seinem Glas, stellte es ab und wandte sich mir zu. Seine Augen funkelten abenteuerlustig. Mit gesenkter Stimme fing er an zu erzählen. „Also, mein Vater hat mir erzählt, dass sie unheimlich große Frauen sind, manche sogar über zwei Meter groß. Sie sollen stark sein, mit breiten Schultern und muskulösen Armen und die Haare sollen bodenlang und in dicke Zöpfe zusammengefasst sein. Sie tragen nur Röcke und Brustpanzer und sind mit Speeren bewaffnet. Mein Vater erzählte er habe versucht einen dieser Speere zu heben, war unter der Belastung aber fast zusammengebrochen. Ihre Stärke und Schnelligkeit sollen brutal sein, krasser noch, als die der Elfen. Man sagt jede Waffe, die sie in der Hand halten, können sie sofort führen, selbst Mädchen, die noch in ihren Windeln liegen. Disziplin ist wie eine Religion für sie. Sie sind niemandem treuer als ihrem Volk und ihrer Anführerin. Ihre einzige Schwäche soll ein Punkt an ihrem Körper sein, wie die Achillesferse, wobei bei jeder Frau dieser Punkt wo anders ist. Ansonsten sind sie unverwundbar. Sie werden selbst in Sepheriya bewundert und respektiert und oft in Kriegen als Söldner eingesetzt. Jane wollte schon immer eine Amazone sein."

Ich lächelte. Das konnte ich mir sehr gut vorstellen. „Und wie vermehren sie sich?"

„Sie holen sich männliche Wanderer und wenn diese Wanderer zustimmen, nutzen sie diese für die Fortpflanzung und lassen sie dann wieder laufen."

„Warum leben sie ohne Männer?"

Alan zuckte mit den Schultern. „Das hat was mit ihrer Kultur zu tun, aber mein Vater sagte, dass sie immer sehr respektvoll mit ihm umgegangen sind. Es stimmt also nicht, dass sie einen Hass auf Männer haben."

Ich lehnte meinen Kopf an die Rückenlehne des Sofas und sah gedankenverloren aus dem Fenster. Die Sonne war hinter Wolken versunken, die sich nach und nach in leuchtende Rottöne färbten. „Ich würde so gerne mal welche treffen.", murmelte ich.

Er brummte zustimmend. Eine Weile hingen wir schweigend unseren Gedanken nach, als Alan unvermittelt aufstand.

Ich sah ihm nach und beobachtete, wie er zu meinem weißen Piano ging, das stolz einen Teil des Wohnzimmers einnahm. „Das ist echt schön.", sagte er.

Ich stand ebenfalls auf und ging zu ihm. „Habe ich zum Geburtstag bekommen."

„Spielst du mir was vor?"

„Klar." Ich setzte mich auf den Hocker und spielte einen Teil von „Für Elise" von Beethoven.

Alan lehnte sich an den Flügel und schloss die Augen. Als ich fertig war, sagte er: „Ich habe den Klang von Klavieren schon immer geliebt, aber mein Vater hat immer gemeint, das sei einfach nur Platzverschwendung."

Ich strich leicht über die Tasten. „Da bin ich froh, dass Mom und ich uns unsere Musikalität teilen. Kannst du ein anderes Instrument spielen?"

Alan machte eine Runde um mich rum und setzte sich neben mich. „Ein bisschen Schlagzeug und ein paar Gitarrenakkorde, die ich von Jack gelernt habe." Er ließ seine Finger ebenso sanft wie ich über die Tasten gleiten. „Bringst du mir was bei?" Er sah mich erwartungsvoll an.

Ich überlegte. „Ich könnte dir Twinkel Twinkel little star beibringen, es ist nicht all zu schwer."

Und so verbrachte ich die nächste halbe Stunde damit, Alans Finger zu korrigieren und ihm zu erklären, wo welcher Ton saß, bis wir es schließlich zweistimmig spielen konnten.

Er grinste wie ein Honigkuchenpferd. „Jetzt fehlt nur noch der Gesang.", meinte er und sah mich an.

„Ich singe nicht.", erwiderte ich automatisch.

„Keine Angst ich kann mich gegen deine Magie abschirmen."

Ich öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Schweigend saß ich da und starrte die Tasten an.

„Was ist?"

„Ich will nicht singen."

„Willst oder kannst nicht?"

Ich konnte nicht. Schon mehrmals hatte ich mit dem Gedanken gespielt in der Dusche oder wo anders, wo mich keiner hören würde zu singen, doch jedes Mal, wenn ich es versuchte, kamen diese Bilder von sich fetzenden Menschen und die Schreie in mir hoch und die Töne blieben mir im Hals stecken. Ich wollte nichts mehr als zu singen, doch ich konnte nicht.

Ich schüttelte schweigend den Kopf.

„Damals wusstest du nicht, was passieren würde und solange du nicht leichtfertig damit umgehst, wird sowas auch nicht nochmal passieren. Hab keine Angst Angela."

Ich wusste nicht warum, aber seine Worte schienen etwas in mir freizusetzen. Die Angst wurde weggedrängt, als er anfing zu klimpern und dazu leise zu singen. Die erste Strophe hörte ich einfach nur zu und in der Zweiten stieg ich schließlich mit ein. Mit jedem Wort wurde ich etwas lauter und mit jeder Silbe löste sich der Knoten in meiner Brust ein weiteres Stück. Alan rastete nicht aus, sondern spielte und sang ruhig weiter, bis zum Ende des Stücks.

Später am Abend lag ich im Bett und fühlte mich so losgelöst, wie schon lange nicht mehr. Eine Wärme erfüllte mich und hielt die ermordete ogri von meinen Träumen fern. 

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