4. Brad muss weg

I went in headfirst, never thinkin' about who what I said hurt

In what verse, my mom probably got it the worst

The brunt of it, but as stubborn as we are, did I take it too far?

-Eminem „Headlights"

Auf der Heimfahrt im Bus erzählte Anni den anderen von dem geheimnisvollen Fremden.

Als sie fertig war, schüttelte Paul den Kopf. "Das ist doch lächerlich. Du behauptest von jedem zweiten Typen, dass er ach so gut aussieht."

JJ und Mary nickten zustimmend.

Anni schüttelte energisch den Kopf. "Ihr versteht es nicht. Er sah nicht nur gut, sondern unglaublich aus, wie ein Gott."

Paul zog zweifelnd seine Augenbrauen hoch, Mary vertiefte sich wieder in ihr Buch und JJ sah grübelnd aus dem Fenster. Wahrscheinlich dachte er darüber nach, was für ein explosives Gemisch die Schule endgültig zum Einsturz bringen könnte.

Hinter uns versuchte eine Mutter verzweifelt ihr schreiendes Kind zu beruhigen.

Anni ließ ein frustriertes "Arg" hören und stieß mir den Ellenbogen in die Seite. "Angela, sag auch mal was, du hast ihn doch auch gesehen."

Die Blicke der anderen richteten sich auf mich. Ich wusste alles, was ich sagen würde, würden sie sofort glauben, da ich nie so übertrieb wie Anni.

Ich zuckte mit den Schultern. "Na ja, er ist so schnell vorbeigerannt, da konnte ich sein Gesicht nicht richtig sehen."

Ich wusste selbst nicht wirklich warum ich log. In meiner Nähe waren immer seltsame Dinge passiert, ich hatte mich schon immer von anderen unterschieden und das nicht nur durch die Haare. Doch so etwas wie er war mir noch nie untergekommen. Ich wusste nicht, was ich von der ganzen Sache halten sollte und solange ich mir selbst keine Erklärung liefern konnte, würde ich auch nicht mit meinen Freunden darüber reden. Schließlich hielten sie mich auch so schon für verrückt.

Anni starrte mich entgeistert an, während Paul ihr mitleidig die Schulter tätschelte. "Ist schon gut Anni Schatz, ich verwechsele meine Träume, in denen ich Sex mit heißen Bikini-Models habe, auch manchmal mit der Realität. Ach, Moment das war kein Traum, sondern die beste Nacht meines Lebens."

Ein kollektives, genervtes Stöhnen erklang.

Anni schlug seine Hand wütend weg. "Eine verdammte Nacht mit dieser bescheuerten Bitch und du fühlst dich gleich wie ein verdammter Casanova, komm mal runter von deinem Egotrip."

Da musste ich Anni zustimmen. Vor einem Jahr war ein bulgarisches Bikini-Model für ein Fotoshooting nach Mari gekommen. Paul hatte auf meisterhafte Weise mit ihr geflirtet und dann kurz vor ihrer Abreise mit ihr geschlafen. Die Geschichte hatter er seither stolz jedem erzählt, der sie hören oder auch nicht hören wollte.

JJ kicherte schadenfroh.

Paul sah ihn böse an und wandte sich wieder Anni zu. "Du bist doch bloß neidisch, weil du noch nicht das Vergnügen hattest mit mir zu schlafen."

Ich beobachtete interessiert, wie Anni rot anlief und Paul zufrieden grinste. "Ganz sicher nicht, es gibt auch bessere Wege sich HIV einzufangen."

"Tatsächlich?" Paul hob wieder eine Augenbraue, um sie zu provozieren.

Anni hob herausfordernd das Kinn. "Ja und ich wette, dass der geheimnisvolle Mann eine davon ist."

Paul stieß ein spöttisches Schnaufen aus. "Falls der überhaupt existiert."

Der Bus hielt an und Paul, JJ und Mary stiegen aus. Von hier aus würde der Chauffeur der Zwillinge sie abholen und Mary ebenfalls nach Hause fahren.

"Hast du ihm wirklich nicht ins Gesicht gesehen?", fragte Anni mich neugierig, als die drei weg waren.

Ich seufzte. "Doch schon, aber es nervt mich, dass alle wegen eines hübschen Gesichts gleich so aus der Bahn geworfen werden." Und wegen eines Paares roter Augen. Wer weiß vielleicht waren die zwei ja, eine Art von Mutanten.

"Ein wunderschönes Gesicht meinst du", erwiderte Anni.

Ich zuckte mit den Schultern, als wäre es mir egal, aber sie grinste mich wissend an. Zwei Haltestellen weiter stiegen wir ebenfalls aus.

„Du willst ihn doch genau so gerne ausziehen, wie ich."

Ich schüttelte den Kopf und versuchte mein Lächeln zu verbergen, als ich merkte, dass sie mich immer noch prüfend beäugte. "Schau mich nicht so an, du Idiotin, wir sehen uns morgen." Ich umarmte sie schnell und lief den Hügel hoch, auf dem mein neues Heim stand. Jetzt würde ich ein ernstes Gespräch mit meiner Mutter führen.  

Ich fand meine Mutter im Wohnzimmer. Sie saß in einem der Ledersessel und las einen uralten Wälzer.

Zögerlich setzte ich mich neben sie und berührte sie sanft am Arm. "Mom?"

Sie zuckte erschrocken zusammen. Natürlich hatte sie mich nicht bemerkt. Sie versank in Büchern wie kein anderer. "Angela mein Herz, wo warst du?"

Ich runzelte leicht die Stirn. "In der Schule, Mom."

Sie lächelte erleichtert. "Natürlich, wie dumm von mir."

Ich erwiderte ihr Lächeln und holte tief Luft. Das würde nicht einfach werden. "Ist Brad da?"

Sie schüttelte den Kopf.

"Gut, ich muss mit dir über ihn reden." stieß ich hervor.

Das Gesicht meiner Mutter erhellte sich, wenn möglich noch mehr. "Ist er nicht einfach wundervoll?" Sie sah aus, wie das Herzchen-Augen Emoji bei WhatsApp.

"Äh ja, also, findest du nicht, dass er etwas zu jung für dich ist?" Okay, ja das kam tatsächlich ziemlich fies rüber, doch meine Mutter war zum Glück ein Mensch, der nicht auf die Feinheiten menschlicher Kommunikation eingestellt war.

"Nein mein Herz, ich würde sagen, Liebe hat kein Alter.", sagte sie auf eine unglaublich naive Weise.

Ich schüttelte den Kopf. "Mom, was wenn er nur wegen deines Geldes mit dir zusammen ist? Ich meine sieh ihn dir doch an. Ein dreißigjähriger Mann, der als Assistent in einer Textilfirma und als irgendwas anderes in einem Museum arbeitet, auf einer Insel, auf der es kaum Touristen gibt. Bestimmt hat er kein wirklich großes Einkommen und da läuft ihm plötzlich eine wieder reich gewordene, ältere Frau über den Weg. Ist es nicht naheliegend, dass er sich an sie ran macht, um selbst was von dem ganzen Geld zu haben? Überleg mal, das ganze Jahr hat er in deiner Firma gearbeitet und nichts war zwischen euch und plötzlich bist du reich und ihr seid zusammen."

Meine Mom sah mich einen Moment lang an, dann stand sie auf und verließ den Raum.

Ungläubig starrte ich auf den leeren Sessel neben mir. Ich wusste ja, dassmeine Mutter gerne Konflikten aus dem Weg ging, aber ich hatte noch nie erlebt,dass sie mich einfach stehen ließ, ohne etwas zu sagen.  

Ich wälzte mich schon seit einer Stunde im Bett herum und konnte nicht einschlafen. Tausende Gedanken schwebten in meinem Kopf herum.

War ich zu hart zu meiner Mutter gewesen? War sie jetzt sauer auf mich? Was konnte ich tun, um mich mit ihr zu vertragen? Aber andrerseits hatte ich doch Recht, oder?

Und was war mit der Schule? Würde ich ohne weiteres wieder in die Schulgemeinschaft aufgenommen werden? Der Tag war in dieser Hinsicht zwar gut gelaufen, doch es hatte auch unangenehme Blicke und Kommentare gegeben. Viele dachten ich hielt mich für etwas Besseres und war deshalb auf das Internat gegangen. Ich konnte es ihnen nicht wirklich verübeln, da die meisten meine Großmutter kannten und der festen Überzeugung waren ich sei ganz nach ihr gekommen.

Und dann waren da noch das Mädchen und der Mann mit den roten Augen. Halluzinierte ich etwa? Wie konnte so etwas überhaupt sein? Andererseits, wie sollte ich darüber urteilen können was möglich war und was nicht? Schließlich waren mir selbst schon sehr verrückte Dinge passiert und nichts davon hatte ich mir bisher erklären können.

Ich drehte mich stöhnend auf den Bauch. Wenn das so weiterging, würde ich bis zum Morgengrauen wach bleiben.

Entschlossen kniff ich die Augen zu und verbannte alle Gedanken aus meinem Kopf.

I guess we are who we are

Headlights shining in the dark night, I drive on

Maybe we took this too far

Wie auf Kommando begann Nathan Ruess' Stimme, den Refrain von „Headlights" in meinem Kopf zu singen.

Das konnte doch nicht wahr sein.

Genervt stand ich auf, packte meine Schlüssel und ging runter zur Eingangstür. Dort zog ich mir meine Jacke über, schlüpfte in meine Schuhe und verließ das Haus. Immer wenn ich nicht einschlafen konnte lief ich eine Weille am Waldrand entlang, um müde zu werden.

Die Luft war noch warm von der längst vergangenen Sonne, sodass meine nackten Beine nicht froren.

Ich lief zur Rückseite des Hügels, die zum wilden unbewohnten Teil der Insel gewandt war. Von dort aus konnte ich sehen, wie der Wald den kleinen Berg der Insel hinaufwuchs und am Gipfel mit der Nacht verschmolz. Das Licht des abnehmenden Mondes zeichnete, wie ein riesiger Maler faszinierende Schattenspiele auf das Tal und leuchtete mir den Weg.

Ich lief den Hügel runter auf den Berg und den Waldrand zu. Die Bäume verschluckten mich und alles was ich hören konnte, war ihr Rascheln, wenn der Wind sie liebkoste. Ich achtete darauf, dass ich mein Haus weiterhin sehen konnte, während ich einem schmalen Wildpfad folgte. Langsam tastete ich mich voran, als ich plötzlich ein Geräusch neben mir hörte. Ich zuckte zusammen und sah mich um. Nichts.

Mein Atem wurde hastiger und mein Herz schlug, so hart, dass es meinen Rippen wehtat.

Mit aller Macht versuchte ich dieses steife Gefühl in meinen Gliedern abzuschütteln und meinen Atem zu normalisieren.

Ich drehte mich um und wich zurück.

Eine große Silhouette versperrte mir die Sicht auf mein Haus. Ich wollte schreien, doch ich war wie festgefroren. Nach den breiten Schultern zu schließen handelte es sich um einen Mann. Er bewegte sich auf mich zu, den Arm in meine Richtung gestreckt.

Silbernes Mondlicht traf auf raubtierhafte rote Augen.

Endlich ging ein Ruck durch meinen Körper.

Ich schrie auf und nahm die Beine in die Hand. So schnell ich konnte schlug ich einen kleinen Haken um ihn rum und rannte. Ich war nie besonders sportlich gewesen, was sich an meinen Beinen ziemlich deutlich zeigte, doch ich war schon immer schnell und wendig gewesen, was mir jetzt zugutekam.

Innerhalb von einer Minute war ich wieder an meinem Haus angelangt. Ich drehte mich um und stellte fest, dass er mir nicht gefolgt war. Mein Schrei schien ebenfalls niemanden alarmiert zu haben. Es war alles genau so ruhig wie zuvor.

Keuchend lehnte ich mich an die im Mondlicht silbrig glänzende Hauswand und stützte mich auf meine Knie. Leider bedeutete schnell rennen zu können nicht, dass man automatisch eine gute Kondition hatte.

Mit acht Jahren hatte meine Mutter mich bei der Laufgruppe der Schule angemeldet, wegen meines Potenzials. Ich hatte einen Monat durchgehalten und dann war ich wegen Faulheit ausgestiegen. Meine Großmutter hatte mich deswegen getadelt, da ich angeblich nie etwas zu ende brachte. Ein Monat davor hatte sie noch behauptet, dass Laufen kein Sport war und dass die, die sich Läufer nannten, sich einfach nur wichtig fühlen wollten.

Mit quälendem Seitenstechen schleppte ich mich schließlich ins Bett und schlief sofort ein.

Die ganze restliche Nacht träumte ich von roten Augen und dunklen Wäldern. 

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