31. Ilirian

Before you go to sleep

Say a little prayer

Every day in every way

It's getting better and better

-John Lennon "Beautiful Boy"

Am Mittwoch nach dem Training machte ich mich auf, um ein paar Snacks für die Silvesterparty am nächsten Tag zu kaufen. Die Sonne stand schon tief und die Straßen waren fast leer, da die ganzen Rentner auf Mari sich früh in ihren Häusern verschanzten. Hier und da begegnete ich kleinen Gruppen von Jugendlichen, die sich an Straßenecken lümmelten und laut Musik hörten, bis einer der besagten Rentner sie vertrieb. Ich konnte es ihnen nicht verübeln. Auf Mari war kaum was los in den Ferien und sie waren noch zu jung für Alkohol.

Anders als ich, dachte ich grinsend, als ich ein paar Minuten später vor dem Alkoholregal im Supermarkt stand. Ich betrachtete diverse Whiskey und Schnapsflaschen. Es hatte auf jeden Fall Vorteile achtzehn zu sein. Andrerseits war ich nicht die Alkoholbeauftragte und kannte mich auch nicht wirklich damit aus, wenn ich ehrlich war.

Seufzend wandte ich mich ab und blickte direkt in zwei hellbraune Augen, die mich anstarrten. Ich zuckte zusammen und trat einen Schritt zurück, als ich das Mädchen wiedererkannte. „Du bist doch Mila, von dem Fest."

„Ich will hier vorbei", sagte sie mit ausdrucksloser, tiefer Stimme.

Schnell schob ich meine Einkaufswagen beiseite mit dem ich unwissend den Gang blockiert hatte, hielt sie aber am Handgelenk fest bevor sie vorbeigehen konnte. Böser Fehler.

Der Supermarkt versschwand und wurde ersetzt durch eine von Bäumen umgebene Lichtung. Die Blätter und das hohe Gras leuchteten unnatürlich grün, so dass es schon fast in den Augen wehtat. Der Himmel war rötlich, wie bei einem Sonnenunter- oder aufgang nur war keine Sonne zu sehen. Auf der Lichtung stand eine Frau mit dem Rücken zu mir. Ihre Haare waren kurz und so golden wie meine. Sie schien ein strampelndes Baby in den Armen zu halten, dessen kleine dicken Beine blau waren. Ihr schräg gegenüber stand eine Frau, die ich sofort wiedererkannten. Es war die Frau, mit der ich auf der Feenfeier geredet hatte.

Wie auf der Feier trug sie ein weißes Kleid und keine Schuhe. Sie sah auf das strampelnde Baby runter, hob die Hand ... Die Vision brach ab und ich stand wieder im Supermarkt.

Mila entriss mir knurrend ihr Handgelenk. „Was fällt dir ein mich zu berühren? Ich habe mich nicht bereit erklärt dir deine Vergangenheit zu zeigen."

Ich taumelte von einem plötzlichen Schwindel erfasst einen Schritt zurück und stieß mit dem Rücken gegen das Regal hinter mir. Die Flaschen klirrten. „Meine Vergangenheit? Aber das war nicht meine Vergangenheit."

Mila zuckte mit den Schultern. „Wahrscheinlich kannst du dich nicht mehr daran erinnern." Entschlossen schob sie ihren Wagen weiter.

„Warte!" Diesmal packte ich sie an ihrem schwarzen Hoodie.

Sie fuhr herum, ihre Augen zu wütenden Schlitzen zusammengekniffen. „Was?", fauchte sie.

„Bitte, erklär's mir. Diese Vision, habe ich sie von meiner Position aus damals gesehen? Und wenn ja wieso erinnere ich mich nicht daran."

Mila warf einen sehnsüchtigen Blick zum Ende des Gangs, wandte sich dann aber mir zu. „Hör mal, diese Visionen zeigen nicht wirklich Erinnerungen, nicht direkt zumindest. Sie zeigen eher Szenen, bei denen du dabei warst, aber nein sie werden nicht aus deiner Sicht gezeigt, weder deiner körperlichen noch emotionalen. Es ist wie ein kurzes Video, das man sich ansehen kann und das wars auch. Irgendwo dort musst du gewesen sein, vielleicht warst du versteckt, vielleicht warst du auch das Baby. Ich habe keine Ahnung und es ist mir egal. Tut mir leid falls dich das verstört hat, aber ich kann mir nicht aussuchen, was ich sehen, wenn man mir keine Vorbereitungszeit gibt." Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging.

Noch verwirrter als zuvor sah ich ihr nach. Ich war mir sicher noch nie an diesem Ort gewesen zu sein und die Frau im Nachthemd vor der Feenparty noch nie gesehen zu haben. Was also machte sie in meiner angeblichen Erinnerung? Wer war sie überhaupt?

Doch die Frau mit den goldenen Haaren. Sie kannte ich. Möglicherweise war das sogar meine Mutter. Hatte sie nicht gesagt, dass ihre natürliche Haarfarbe ebenfalls Gold war?

Wo aber war ich in der Vision? Das Baby konnte ich nicht sein, ich hatte keine blaue Haut. Und was hatten die Frauen mit dem Baby machen wollen?

Ich rieb mir den schmerzenden Kopf. Es hatte keinen Sinn sich Gedanken darüber zu machen. Vielleicht hatte Milas Fähigkeit ja irgendeinen Defekt.

Ich schob den Einkaufswagen zu den Snack-Regalen und packte mehrere Tüten Chips, Schokoladen, Kekse und so ziemlich alles was ungesund war rein. Erst als ich gezahlt hatte, merkte ich, dass das alles nicht in meine von Zuhause mitgebrachte Stofftüte passte. Da ich mich aber weigerte eine Plastiktüte zu kaufen, verließ ich den Laden mit überfüllten Händen.

Ich war gerade an einer Ampel stehengeblieben, als ich hinter mir einen Ruf hörte: „Duck dich!"

Ich drehte mich gerade noch rechtzeitig um, um zu sehen, wie ein Junge ungefähr in Precious Alter, mit einer Steinschleuder ausholte. Ich ließ mich zusammen mit den Snacks zu Boden fallen. Ein Stein groß, wie meine Faust traf mit einem lauten Klang den Ampelmast über mir und landete direkt neben meinem Kopf.

Entsetzt hob ich den Kopf und sah wie der Junge auf mich zu rannte, die dunkelblonden Haare verfilzt und in alle Richtungen abstehend. Seine dunklen Augen funkelten hasserfüllt.

Schnell rappelte ich mich auf und hielt meine Hände vor mich in einer friedvollen Geste. „Hey, ich will dir nichts tun", rief ich ihm beschwichtigend zu.

„Verdammt, hau ab!" Mila war hinter dem Jungen aufgetaucht. Jetzt erkannte ich auch, dass sie mich vor dem ersten Angriff gewarnt hatte.

Der Junge zog ein Messer und sprang den letzten Meter, der uns trennte. Nur dank Alans nervigem Reflex Training, bei dem er mich mit Steinen bewarf, die ich mit Wasser abwehren sollte, schaffte ich es mich schnell genug zur Seite zu werfen, so dass er an mir vorbeiflog und auf der Straße landete.

Sofort stand er wieder auf den Füßen. Sein hasserfüllter Blick brannte glühend heiß auf mir. Wie konnte ein Kind nur so zornig sein? Wie eine Furie verfolgte er mich mit dem Messer, während ich versuchte vor ihm wegzukriechen, als auf einmal Mila zur Stelle war und den Jungen von hinten umfasste.

Sie packte die Hand mit dem Messer und in dem Moment veränderte sich die Umgebung. Wir befanden uns in einem kleinen schmutzigen Zimmer, in dem es nur ein rostiges Bettgestell mit einer löchrigen Matratze gab. Auf dem Boden hockte der Junge, etwas jünger als er jetzt war und ihm gegenüber saß eine hagere Frau mit ebenso dunklen Augen.

Augen, die ich schon mal gesehen hatte. Kurz bevor sich Alans Klinge in ihr Herz gebohrt hatte. Die ogri betrachtete den kleinen Jungen liebevoll, während dieser ihr aufgeregt etwas erzählte.

Die Vision verschwand und ich hörte die Schreie des Jungen wieder. Er hatte aufgehört sich gegen Mila zu wehren, stattdessen weinte er jetzt hemmungslos und schrie immer wieder: „Mommy! Mommy!"

Mila ließ ihn los, das Messer hatte sie ihm entwunden. Der Kleine brach auf dem Boden zusammen und schluchzte, die Schreie versiegten.

Wie erstarrt stand ich da und dachte an den angsterfüllten Blick der Frau. Sie hatte also tatsächlich nicht Angst um sich selbst gehabt. Sie hatte Angst gehabt ihr Kind allein zu lassen.

Mila strich dem Jungen sanft über die Schulter, sorgfältig darauf bedacht ihn nicht direkt zu berühren. „Ich bringe ihn zu Soraya", sagte sie leise und sah mir in die Augen.

Ich verstand den Wink, sammelte mit mechanischen Bewegungen meine Sacks auf und ging über die Straße. Die Ampel war längst wieder rot, rot wie das Blut einer Mutter, das an jenem Abend in alle Richtungen gespritzt war und noch immer an mir klebte. 

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top