Kapitel 2

Drei Tage.

Ganze drei Tage saß ich nun schon auf dem harten Bett, umgeben von strahlendem Weiß, wo immer ich auch hinsah. Der einzige Farbtupfer in diesem Raum kam von dem blauen Kugelschreiber auf dem farblosen Tisch.

Ein richtiges Bad hatte ich nicht, bloß eine Toilette in der hinteren linken Ecke, die mit einer Wand vom Rest der kleinen Zelle abgetrennt war. Ich stank wie die Pest, meine braunen Haare hingen mir in Strähnen herunter. In diesem Moment wünschte ich mir nichts sehnlicher als eine heiße Dusche, um mich wieder lebendig zu fühlen.

Außerdem war mir langweilig. Die paar Blätter, die neben dem Kugelschreiber lagen und zur Unterhaltung dienen sollten, halfen nicht dagegen an. Ich war weder eine große Malerin noch Schreiberin, aber wenn ich noch länger hier eingesperrt blieb, würde sich das eventuell ändern.

Die letzten drei Tage waren mir vorgekommen wie ein halbes Leben.

Aufwachen, essen, schlafen.
Aufwachen, essen, schlafen.
Aufwachen, essen, schlafen.

Das musste wohl schon die erste Strafe sein. Unwillkürlich wanderten meine Gedanken zu Nic. Ich wusste nicht, ob mich der Fakt, dass er das alles ebenfalls durchgemacht hatte, beruhigte oder verängstigte.

Dieses verdammte Gesetz kannte keine Gnade. Nicht alle, die ein Verbrechen begingen, gehörten automatisch eingesperrt. Ares sollte nicht hinter Gittern, weil er mich vor einem Schwein gerettet hatte. Und Nic hatte das ganze schon gar nicht verdient.

In den letzten Tagen hatte ich öfter an ihn gedacht als sonst, seitdem sie ihn gefangen genommen und daraufhin versklavt hatten. An Nic zu denken hatte mir immer schon wehgetan, seitdem er nicht mehr da war, aber ich hatte immer einen Weg gefunden, um mich abzulenken.

Jetzt jedoch war ich mit mir und dem Wirbel an Erinnerungen komplett alleine, in einer Situation, in der Nic vor zwei Jahren selbst gesteckt hatte. Ich fragte mich, ob er genauso viel Angst gehabt hatte wie ich oder ob er mutiger gewesen war. Wenn ich wetten müsste, würde ich auf letzteres tippen.

Meine Gedanken wurden von gedämpften Stimmen vor der Tür unterbrochen. Die weiße Eisentür flog auf und herein stürmte zuallererst meine aufgelöste Mutter. Eigentlich war Mom immer perfekt gestylt. Keine Strähne würde es je wagen, sich aus ihrem streng gebundenen Pferdeschwanz lösen, das Make-Up saß immer mehr als perfekt.

Doch jetzt flossen aus ihren geröteten Augen unaufhaltsam Tränen, während sich die offenen Haare darin verfingen und an ihrem Gesicht haften blieben. Mom scherte sich ausnahmsweise nicht darum, wie ungepflegt ich war. Ich hörte, wie die Tür wieder ins Schloss fiel, als sie sich zu mir auf das Bett setzte und mich in ihre Arme zog. Sobald mir ihr vertraute Duft in die Nase stieg, weinte ich los.

"Ich will heim", schluchzte ich in ihre Halsbeuge. Mir war es egal, wie kindlich und erbärmlich ich in diesem Moment rüber kam, doch ich besaß nicht mehr genug Kraft, um mich zusammenzureißen. Bei der Vorstellung, dass ich nie wieder nach Hause kommen könnte, zog sich mein Herz so sehr zusammen, dass ich dachte, es würde gleich aufhören zu schlagen.

Ich vermisste mein Zimmer.
Ich vermisste das Schnurren meiner rothaarigen Maine Coon Katze Charly, wenn ich ihr vor dem Schlafengehen durch die halblangen Haare strich.
Ich vermisste es, mich morgens mit Ares darüber zu streiten, wer zuerst ins Bad durfte.
Ich vermisste Moms morgendliche Rühreier mit Speck und ich vermisste es, über Dad zu lachen, der Mom beim Kochen so sehr nervte, dass sie für ein Gericht doppelt so lange brauchte wie sonst.

Etwas, das ich für so selbstverständlich gehalten hatte, wurde mir nun genommen. Innerlich hatte ich bereits akzeptiert, dass ich mein Leben niemals zurückbekommen würde, und selbst wenn; es würde nie wieder so sein wie früher, dafür prägte mich dieser Abschnitt in meinem Leben viel zu sehr.

Ich blickte auf, während meine Tränen auf das hellgraue Shirt tropften und dunkle Flecken hinterließen. An der Tür standen ein Gefängniswärter, der in die Ferne sah und keine einzige Emotion zeigte, mein Vater und Ares. Dads schmerzverzerrtes Gesicht zerriss mich nur noch mehr und Ares fühlte sich so schuldig, dass er mich nicht einmal ansehen konnte. Seine Augen standen unter Wasser.

"Ich weiß, mein Schatz, ich weiß. Ich werde dich hier rausholen."

Mom ließ mich los, stellte sich aufrecht hin und wurde zur Geschäftsfrau - als Besitzerin eines Immobilienunternehmens wusste sie, wie man Stärke zeigte und Angst und Schrecken verbreitete. Wütend funkelte sie den Gefängniswärter an.

"Ich verlange, dass meine Tochter bis zur Anhörung, an der ihre Unschuld bewiesen wird, mit uns nach Hause kommt!" Die Autorität in ihrer Stimme peitschte wütend durch die Luft. Selbst der Gefängniswärter zuckte zusammen, sobald sie das Wort an ihn richtete.

"Es tut mir leid, Mrs Cornwell, aber das geht nicht." Ich glaubte nicht, dass er so lange dabei war, denn er schien noch recht jung zu sein, vielleicht ein paar Jahre älter als ich. Sein honigblondes Haar war nach hinten gegeelt und seine grünen Augen erwiderten ängstlich den harten Blick meiner Mutter. 

Nun mischte sich auch noch Dad ein. "Ein Nein akzeptieren wir nicht. Wir übernehmen die volle Verantwortung für unsere Tochter in der Zeit bis zur Anhörung."

"Es tut mir leid", wiederholte er. "Das ist nicht möglich. Und wenn Sie weitere Umstände machen, muss ich Sie leider bitten, zu gehen." Nein. Sie sollten noch nicht gehen.

"Lass gut sein, Mom." In Ares' Stimme lag eine Dringlichkeit, die Mom dazu zwang, ihn anzusehen.

"Wenn du so weiter machst, werden wir rausgeschmissen und Athena ist wieder alleine." Ein kurzer Blick zu mir genügte, um Moms Vorhaben über Bord zu werfen. Sie nickte kurz und setzte sich wieder zu mir, doch sie ließ es sich nicht nehmen, dem Beamten einen bösen Blick zuzuwerfen.

"Kann man ihr wenigstens eine weichere Matratze geben und ihr eine warme Dusche anbieten? Sie können ihre Insassen doch nicht so minderwertig behandeln! Das sind Menschen."

Der Beamte warf ihr einen Blick zu, der keinen Widerspruch duldete. "Das ist meine letzte Warnung an Sie, Ma'am."

"Hör jetzt auf, Kate", sagte Dad sanft aber bestimmt, als er sich an meine andere Seite setzte. Ich lehnte mich an ihn und sah Mom an. Ich beobachtete sie, solange ich nur konnte, denn ich wusste nicht, wie lange ich noch Gelegenheit dazu haben würde.

"Glaubt ihr, ich werde mich an euch erinnern, wenn sie mir einen Chip ins Gehirn pflanzen?", rutschte es mir heraus. Eigentlich hatte ich die Frage nicht stellen wollen, nicht vor Ares, der sich sowieso schon schuldig genug fühlte. Meine größte Angst war es jedoch, die vier Menschen zu vergessen, die mir am meisten bedeuteten. Meine Eltern, meinen Bruder und meinen besten Freund. Ich würde lieber sterben, als ohne Erinnerungen zu existieren und ich brauchte jemanden, der mir versicherte, dass ich mir darüber keine Sorgen machen musste, auch wenn ich davon vermutlich kein Wort glauben würde.

Für einige Sekunden war es so still im Raum, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören. Mom erbleichte und Dad hielt für einige Sekunden die Luft an. Was Ares tat, wusste ich nicht. Auch ich wagte es nicht, ihn anzusehen. Ich gab ihm keine Schuld an dieser Situation. Ich hätte einfach nicht in der alten Fabrik auftauchen sollen. Dann würde ich jetzt in der Universität hocken und für mein Medizinstudium büffeln, anstatt im Gefängnis Löcher in die Luft zu starren.

"Athena", hauchte Mom. Sie rutschte näher heran und nahm mein Gesicht in die Hände. Ihr selbstsicherer Blick bohrte sich in meine Augen. "Du darfst nicht eine Sekunde daran denken, dass du gechippt werden könntest. Ich würde mein Leben für dich aufgeben, Athena. Ich hole dich hier raus. Okay?"

Schon wieder traten mir die Tränen in die Augen. Moms aufmunternden Worte, ihre bedingungslose Liebe zu ihrer Familie und ihre endlose Unterstützung fehlten mir jetzt schon. Ohne sie würde ich doch keine Sekunde überleben.

Es bestand vielleicht eine klitzekleine Chance, dass ich frei aus der Sache herauskam, aber sie war so schwindend gering, dass ich sie nicht als Möglichkeit wahrnehmen wollte. Doch dieses kleine Fünkchen Hoffnung war das einzige, das mich zum Weiterkämpfen anregte.
Es war aber auch das einzige, das mich nach einer Verurteilung zerschmettern würde. 

Da ich wusste, dass diese Sache Mom genauso mitnahm wie mich, wollte ich ihr aber geben, was sie brauchte; die Hoffnung, die mir fehlte.

Ich nickte. "Okay."

"Gut. Deine Anhörung wurde vorgeschoben. Die Ärzte sind sich nicht sicher, ob Dean überlebt. Zur Anhörung kommt er aber definitiv nicht."  Mom senkte den Blick und ihre Stimme brach zum Ende des Satzes. Von dem Moment an, an dem Deans Kopf auf den Boden geschellt war, hatte ich das grausame Gefühl gehabt, dass er die Augen nicht mehr öffnen würde. Vielleicht sogar für immer.

Erst jetzt wurde mir richtig bewusst, dass ich für Totschlag schuldig gesprochen werden könnte - wenn nicht sogar für Mord. Bei diesem Gedanken schnürte sich mir die Kehle zu.

"Auf wann wurde sie verschoben?", brachte ich hervor.

"Übermorgen", antwortete Dad, während Mom mir über den Arm strich. Diese Geste sollte mich beruhigen, doch nichts, was sie tat, konnte mir dabei helfen, mich besser zu fühlen. Im Gefängnis zu sitzen und bestraft zu werden, um einen Menschen zu retten, den man liebte, war jedoch etwas, das ich ohne Frage wieder tun würde. Selbst, wenn ich mich damit selbst zerstörte.

"Am Tag der Anhörung werde ich morgens zu dir kommen und dir frische Kleidung für die Anhörung bringen. Du darfst an dem Tag duschen. Dann wirst du freigesprochen und kommst mit nach Hause."

Mom lächelte zuversichtlich und ich versuchte, das Lächeln auf die gleiche Art und Weise zu erwidern. Ich konnte an ihrem Blick erkennen, dass ich kläglich daran scheiterte.

Der Gefängniswärter machte mit einem erneuten Räuspern auf sich aufmerksam und erntete dabei verärgerte Blicke von meiner ganzen Familie. "Tut mir leid, aber die Besuchszeit ist bald vorbei. Sie sollten sich schon mal verabschieden."

"Ich glaube, das ist kein Beamter, sondern ein Lappen, der sich als einer verkleidet hat, so oft wie der sich entschuldigt", brummte Ares augenverdrehend und verschränkte die Arme. Das war heute der erste Kommentar, der richtig nach ihm klang und es brachte mich unwillkürlich zum Grinsen. Ich liebte jede Seite an Ares, aber die sarkastische? Die konnte gar nichts übertreffen.

"Ares!", entfuhr es Mom. Ihrem entsetzten Gesichtsausdruck zufolge, sah sie schon, wie der Gefängniswärter Ares packte und ihn wegen Beamtenbeleidigung in die nächste Zelle warf, doch der schüttelte bloß den Kopf.

"Was ich auf jeden Fall bin, ist das kleinere Übel. Wenn es dir lieber ist, kann ich Michael holen, damit er euch beaufsichtigt. Er ist das größte Arschloch in diesem Gefängnis. So lernst du ja vielleicht, deine große Klappe zu halten, du Mistkerl." Das Grinsen des Gefängniswärters, das daraufhin folgte, war weder böse noch hinterlistig, im Gegenteil. Es hatte etwas Freundliches an sich. Und es war schön.

Ich entschied, dass mir dieser Beamte sympathisch war. Er konnte schließlich nichts für seinen Job. Er wusste nicht, dass er eine Gefangene bewachte, die unschuldig hinter Gittern saß.

"Jetzt müssen Sie sich aber verabschieden. Sonst kommt Michael wirklich und glauben Sie mir: Sie wollen nicht, dass er kommt."

Der erste, der auf Wiedersehen sagte, war Dad. Wir standen gemeinsam auf und er schloss mich fest in seine Arme. "Pass auf dich auf, Süße. Noch zwei Tage, dann bist du wieder Zuhause."

Ich zeigte ihm nicht, dass ich das bezweifelte, und spielte mit. "Ich freue mich schon. Passt du gut auf Charly auf, bis ich wieder Zuhause bin?"

Aus der ganzen Familie war Dad, abgesehen von mir, der einzige, der Charly liebte. Ares mochte keine Katzen und Charly mochte Mom nicht. Sie fauchte sie immer an, wenn sie sie sah.

"Mach ich. Versprochen."

Als nächstes war Ares an der Reihe. Er hob den Blick und sah mich heute zum ersten Mal richtig an. Mein Herz schmerzte, als ich die Arme um meinen Bruder schlang und ihm ins Ohr flüsterte: "Was auch immer passiert, du hältst die Klappe. Ich komme klar."

"Das sehe ich, wie du klarkommst. Ich hätte das nie zulassen dürfen", murmelte er leise, sodass niemand unser Gespräch belauschen konnte.

Ich strich ihm über den Rücken. "Ehe du dich versiehst, bin ich wieder Zuhause. Versprochen."

Ares löste sich aus meiner Umarmung. Seine Augen verrieten jedem in diesem Raum, dass er mir mein Versprechen nicht abkaufte. Ihm war genauso klar wie mir, dass wir uns nach der Anhörung womöglich nie wieder begegnen würden. Für den Fall prägte ich mir sein Gesicht ein. Seine wilden Augenbrauen, die haselnussbraunen Augen, in denen gerade ein gewaltiger Sturm tobte, und die hellen Haare, die ihm wie goldene Seide ins Gesicht fielen. Mein großer Bruder ...

Ich schluckte den Kloß in meinem Hals hinunter und machte mich bereit für den letzten und schwersten Abschied.

Ich warf meine Arme um Moms Hals und atmete ein letztes Mal ihr Lieblingsparfüm ein, das stark nach Lilien roch. Eigentlich fand ich es schrecklich, ins Bad zu spazieren und in einer Wolke aus Lilienduft zu ersticken, doch jetzt würde ich alles dafür geben und alles dafür tun, um wieder Zuhause bei meiner Familie zu sein.

"Ich liebe dich, Schätzchen. Bis bald." Der Gefängniswärter öffnete die schwere Eisentür. Jetzt musste ich meine Mom loslassen. Ich zwang mich dazu, die Arme fallen zu lassen und versuchte, nicht die Beherrschung zu verlieren und in Tränen auszubrechen. Dazu hatte ich genug Zeit, wenn meine Familie weg war.

"Bis bald", krächzte ich. Ohne sich noch einmal umzudrehen, quetschte sich Ares an den Beamten vorbei, gefolgt von Mom und Dad, die mir noch ein letztes Lächeln schenkten, dass wohl aufmunternd sein sollte. Ich schaffte es nicht, das Lächeln zu erwidern, doch das war auch nicht nötig, denn im nächsten Moment schloss sich die Tür und ich war wieder alleine.

Ich legte mich auf den Bauch in das harte weiße Bett, drückte mein Gesicht ins Kissen und schrie die Verzweiflung und die Angst hinein, die sich in mir aufgestaut hatte.

Wie viele Menschen hatten wohl schon unschuldig ihr Leben aufgeben müssen, weil das Gesetz sie ungerechterweise für schuldig erklärt hatten? Allein die Vorstellung reichte aus, um mich im Innersten zu erschüttern. Ich wollte mir nicht ausmalen, wie viele Kinder wegen des verdammten Gesetzes ohne Vater oder ohne Mutter hatten aufwachsen müssen oder wie viele Familienangehörige keine Chance bekamen, um sich ein letztes Mal zu verabschieden, bevor man gechippt wurde. Entweder man wurde freigesprochen - und das kam höchst selten vor - oder man bekam direkt nach der Anhörung einen Chip in den Nacken gepflanzt, ohne die geringste Möglichkeit, auf Wiedersehen zu sagen. So und nicht anders lief es hier. 

Bevor ich mich in einen unruhigen Schlaf weinte, schwor ich mir eins: Wenn ich aus diesem Schlamassel heil herauskam, würde ich dafür sorgen, dass sich die Gesetze änderten - und wenn es das letzte war, das ich tat.

< Hallöchen ihr Lieben <3 nach langer Zeit geht es hier auch mal weiter! Ich hoffe, dass euch dieses Kapitel gefällt. Was sind eure Vermutungen? Wird Athena freigesprochen? Wird sie verurteilt und dann gerettet? Votet und kommentiert (gerne auch konstruktive Kritik!) für eine Widmung im nächsten Kapitel <3 >

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