Kapitel 1
„Entschuldigung", murmelte ich, als ich jemanden anrempelte, weil ich zu tief in Gedanken versunken war. Doch die Person schien es gar nicht zu bemerken und als ich genauer hinschaute, wusste ich auch, warum. Es war eine Straffällige. Der schwere Stoff ihres fliederfarbenen Kleides bewegte sich leicht mit dem Wind, aber es flatterte nicht. Es sah genauso leblos aus wie ihre braunen Augen, die auf mich gerichtet waren. Obwohl sie wegen mir ihre Einkäufe fallengelassen hatte und sie sich jetzt über den ganzen Gehweg verteilten, war die Frau kein bisschen sauer auf mich. Wie auch? Sie hatte schließlich keine Gefühle. Trotzdem bückte ich mich vor und hob zwei Äpfel auf, kurz bevor sie auf die Straße rollen konnten.
„Du musst mir nicht helfen", sagte die Frau tonlos und räumte die restlichen Einkäufe in die Baumwolltasche. Sie klang weder freundlich noch gemein. Einfach nur leer. Ihr braunes, verfilztes Haar erinnerte an eine Pferdemähne, die zu lange nicht gepflegt wurde.
Ein kalter Schauer lief mir den Rücken hinunter, wie jedes Mal, wenn ich daran dachte, dass mir das auch passieren könnte. Statistiken zufolge war die Zahl der Straftaten nach dem 3. Weltkrieg zwar gesunken, trotzdem verstand ich nicht, wie die Regierung das Menschen antun konnte. Gefühlt jede Nacht schlief ich mit einem Geschichtsbuch auf der Brust ein und träumte davon, wie es sich wohl anfühlen musste, nach dem alten Rechtssystem zu leben. In einer Welt, in der man nach einem Fehler noch eine Chance auf das Leben hatte. Ich beneidete die Rebellen, eine Gruppe, die mit dem Gesetz nicht einverstanden war und die Flucht ergriffen hatte. Wäre ich nur ein paar Jahre früher geboren, hätte ich mich ihnen angeschlossen und wäre mit ihnen abgehauen. Die Behörden suchten schon seit Jahren nach ihnen, doch die Rebellen waren unauffindbar. Und in der letzten, tiefsten Ecke meines Herzens war ich stolz darauf. Denn es gab eine Seite in mir, die niemand kannte. Innerlich war ich selbst eine von ihnen.
Ich ließ die Äpfel in ihre Tasche fallen. „Ich weiß. Aber ich will es."
Straffälligen zu helfen war zwar nicht gegen das Gesetz, aber es wurde nicht gern gesehen. Ein Grund mehr, um ihnen zur Hand zu gehen.
„Hey, was ist da los?" Ich hatte gar nicht bemerkt, dass sich eine Beamtin zu uns gesellt hatte. Ihre Hand wanderte zu ihrer Waffe, was mich beinahe dazu brachte, die Augen zu verdrehen. Keiner wusste besser als diese Frau, die ihnen das antat, dass Gechippte keinem gefährlich werden konnten.
„Schon gut!", beeilte ich mich zu sagen und hob die Hände. „Ich habe sie angerempelt und dabei ihre Einkäufe umgeschmissen. Ich wollte nur helfen."
„Oh." Nachdem sie feststellte, dass hier keine Gefahr bestand, schien sich die Beamtin zu beruhigen. „Aber du weißt, dass du das nicht machen musst. Dafür sind die Straffälligen schließlich da."
Und sie lächelte, als wäre es toll, Menschen derart zu entwürdigen! Ich presste die Lippen aufeinander und versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr mich das alles anwiderte, sonst konnte es nämlich gut sein, dass ich die nächste war. Manchmal schaffte ich es ohne Probleme, die angestaute Wut zu unterdrücken, aber in provokanten Momenten wie diesen würde ich das Gesetz am liebsten lauthals verfluchen, in dem Strafzentrum eindringen und jeden einzelnen Chip zerstören, der darauf wartete, in ein menschliches Gehirn gepflanzt zu werden.
„Und du, hast du dich schon bedankt?", richtete sich die Beamtin nun an die Straffällige.
„Nein, ich bin noch nicht dazu gekommen." Die gechippte Frau ließ eine Tube Zahnpasta in die Tasche gleiten, richtete sich auf und sah mich dann an, ohne eine Miene zu verziehen. „Danke."
Ich musste hier weg. Ich musste hier weg, bevor ich die Fassung verlor und mir eventuell etwas entschlüpfte, was besser verborgen geblieben wäre.
„Kein Problem." Ich brachte ein Lächeln zustande und huschte schließlich an der Beamtin vorbei, wobei ich mich anstrengen musste, sie nicht absichtlich anzurempeln und vor ein Auto zu schubsen.
Geschafft, dachte ich ein paar Meter später. Doch als ich gerade erleichtert aufatmete, hörte ich, wie sich Schritte näherten. Kurze Zeit später wurde ich grob am Oberarm gepackt und herumgedreht. Jetzt stand ich so nah an der Beamtin, dass mir ihre dicke Warze unter dem rechten Nasenflügel regelrecht ins Gesicht sprang. Angewidert verzog ich den Mund. Ihre bedrohlichen Augen bohrten sich in meine und ich hoffte, dass sie mir nicht ansehen konnte, wie viel Angst mir das einflößte.
„Du solltest lernen, deine Gefühle besser unter Kontrolle zu bekommen. Ich sehe dir an, dass du schlau genug bist, um dich zurückzuhalten, aber deine schauspielerischen Fähigkeiten sind furchtbar. Wenn du alles richtig machst, könnte aus dir etwas ganz Großes werden, deshalb will ich dich warnen. Kümmere dich um dein Leben oder wir kümmern uns um deins."
Ich verengte die Augen und blickte weg, damit ihr nicht auffiel, wie gerne ich sie anbrüllen wollte. Stattdessen entzog ich ihr meinen Arm, murmelte ein „Die Warnung ist angekommen" vor mich hin und lief weiter. Dieses Mal ließ sie mich gehen.
Die Regierung dachte, sie hätte alles unter Kontrolle. Die Verurteilten wurden gechippt, damit sie niemals mehr Schaden anrichten konnten und das war's. Was sie jedoch übersahen, war einen Haufen ungechippter Straffälliger, die sie niemals in die Finger bekommen würden.
Es gab viele leerstehende Gebäude, die nach dem Krieg nicht wieder aufgebaut wurden. Es war einfach zu teuer und Amerika musste sich immer noch von dem Krieg erholen. Der Krieg hatte wichtige Forschungen zerstört, die die technologische Entwicklung der Welt deutlich verlangsamt hatte. Die Welt hätte zu dieser Zeit eigentlich viel moderner sein sollen.
Die Menschen auf der Erde hätten sich ihre Heimat mit echten Robotern teilen müssen, während die ganz reichen auf dem Mars von ihnen verwöhnt würden. Ihre Lebensspanne hätte sich deutlich erhöht und alle tödlichen Krankheiten wären beseitigt worden. Aber alles, was dazu geführt hätte, war in Flammen aufgegangen und hatte nur noch Asche hinterlassen.
Diese Gebäude waren die Orte, in denen sich nachts Leute aller Altersklassen trafen, um illegale Geschäfte abzuschließen oder in denen kleine Rebellen wie mich, die nicht den Mumm hatten, Gesetze zu brechen, sich zurückzogen, um Straffällige zu bewundern, die ihr ganzes Dasein für Geld, Spaß oder einen Adrenalinkick riskierten, der ihnen wie reines Feuer durch die Venen schoss. Auch vorhin, als ich auf die Straffällige traf, war ich auf dem Weg in eine alte Fabrik, die früher mal Kinderspielzeuge hergestellt hatte.
Als ich kurz nach Sonnenuntergang dort ankam, fragte ich mich, ob ich heute meinen großen Bruder Ares antreffen würde. Ja, Ares gehörte zu den Menschen, die Straftaten begangen und noch nicht dabei erwischt wurden. Ich hoffte, dabei blieb es auch. Er vertickte Pillen, die so krasse Halluzinationen hervorriefen, dass man glaubte, seine Träume kontrollieren zu können.
Mein Herz fing Feuer, als ich an den Tag zurückdachte, an dem ich Ares zum ersten Mal beim Dealen erwischt hatte. Ich war nicht enttäuscht gewesen, ganz im Gegenteil. Ich war stolz und vielleicht sogar ein bisschen eifersüchtig, weil er es schaffte, gegen die Gesetze zu verstoßen und ich nicht den Mumm hatte, mir etwas von ihm abzuschauen. Nicht, dass er es zulassen würde.
Doch es war mein damaliger bester Freund, der mein Herz zum Brennen brachte.
Nic, der mich zum ersten Mal zu einem solchen Treffen mitgebracht hatte. Nic, der von Gefahr angezogen wurde wie Motten vom Licht und Nic, der mir alles bedeutet hatte und den mir das Gesetz dann entrissen hatte, weil er versucht hatte, seiner Mutter das Leben zu retten.
Nic, der in mir den rebellischen Funken entzündet hatte, Nic, der jetzt wie ein menschlicher Roboter durch die Straßen lief und von seinem Arbeitgeber gesagt bekam, wann er essen, trinken und schlafen durfte.
Nic, nur ohne Seele und Gefühle.
Mein Nic, nur, dass er nicht mehr mein Nic war.
Ich schluckte, ignorierte den dicken Kloß, der sich in meinem Hals gebildet hatte und ging weiter. In der heruntergekommenen Halle, die den deckenhohen Regalen zufolge mal das Lager gewesen sein musste, wimmelte es nur so von Menschen. Es gab mehr fehlerhafte Menschen, als man dachte.
Hier zu verhandeln, war sogar ganz praktisch, denn die Regale schirmten die Gruppen teilweise voneinander ab und boten ein wenig Privatsphäre.
Ich ging an den Regalen vorbei und warf immer wieder einen kurzen Blick auf die Grüppchen, die heimlich kleine Päckchen und Dollarscheine austauschten.
Ares dealte immer ganz hinten, zwischen der verdreckten Mauerwand und dem letzten Regal, worauf ich zielstrebig zulief. Doch dann schob sich eine lange Gestalt vor mich und versperrte mir den Weg. Ich seufzte innerlich. Dean.
„Also irgendwie kann ich nicht glauben, dass so ein hübsches, schlaues Ding wie du nur herkommt, um zuzusehen. Ich frag mich, wie lange es wohl dauern wird, bis du uns die Beamten auf den Hals hetzt."
„Sagt ausgerechnet der Bruder eines Beamten", gab ich bissig zurück. Er pustete sich eine blonde Locke aus dem Gesicht und verdrehte gelangweilt die Augen. Dean war hier, um seine Bedürfnisse zu stillen und damit war nicht nur seine Drogensucht gemeint. Schon seit Monaten versuchte er es bei mir, aber ich ließ ihn immer wieder abblitzen. Arrogante Männer, die dachten, ihnen würden die Frauen zu Füßen liegen, waren nicht so mein Ding. Außerdem stand ich nicht auf blond.
Mittlerweile hatte er es kapiert, aber trotzdem schaffte er es nicht, sich von mir fernzuhalten, denn er stand auf Herausforderungen. Jedes Mal, wenn wir aufeinandertrafen, versuchte er mich zu provozieren. Mir persönlich machte es Spaß, denn am Ende war es meistens ich, die mit erhobenem Haupt davonging. Aggressivität flackerte in seinen Augen auf, als er meine Bemerkung vernahm.
„Wenn ich wollte, könnte ich euch alle verpfeifen und dafür sorgen, dass ihr gechippt werdet. Jeder einzelne von euch. Du und dein vermaledeiter Bruder wärt die ersten." Wut durchströmte mich, als er meinen Bruder beleidigte. Meine Finger formten sich zu Fäusten und begangen zu zittern. Wenn ich eins nicht abkonnte, dann waren es Menschen, die über meine Familie herzogen.
„Armer, kleiner Mistkerl. Ist da jemand sauer, weil er keine Drogen bekommen hat? Tut mir leid, aber mein Bruder verkauft nicht an Minderjährige, die so wenig auf die Reihe kriegen, dass sie ununterbrochen high sein müssen, um ihre kindischen Probleme zu vergessen."
Um die Sache mit Ares zu erklären: Er liebte seinen Job. Das Drogengeschäft war heutzutage nicht mehr annähernd so gefährlich wie damals und seine Pillen waren komplett unschädlich für den Körper. Trotzdem verkaufte er nichts an Leute unter zwanzig Jahren, weil er fand, dass man in dem jungen Alter noch nicht wusste, auf was man sich da einließ und wenn er ihnen so wenigstens ein bisschen Zeit verschaffen konnte, um darüber nachzudenken, beruhigte es sein Gewissen. Ares war ein Engel unter den Straffälligen.
Wenn ich mich nicht irrte, war Dean nun schon einundzwanzig und stocksauer, weil Ares ihm damals nichts verkauft hatte. Im Großen und Ganzen hatte er es also ziemlich auf meine Familie abgesehen. Der einzige Grund, wieso er Ares noch nicht verpfiffen hatte, war wahrscheinlich der, dass er nun die langersehnten Pillen bekam.
Plötzlich veränderte sich der Ausdruck in Deans Gesicht. Die wutsprühenden Augen zu Schlitzen geformt, packte er mich an meinem Sweatshirt und drückte mich fest gegen die Wand.
„Pass auf, wie du mit mir redest, du kleines Miststück. Dich loszuwerden ist ein Kinderspiel für mich und wenn du nicht aufpasst, erlebst du noch dein blaues Wunder."
„An deiner Stelle würde ich sie loslassen. Und zwar sofort." Die tiefe Stimme meines Bruders war unverwechselbar. Ich blickte an Deans Schulter vorbei und erkannte Ares. In seinen Augen loderte Zorn und wüsste ich nicht, dass er mir nichts tun würde, wäre ich jetzt um mein Leben gerannt. Ares strahlte Gefährlichkeit aus, von Kopf bis Fuß, auch wenn er wahrscheinlich keiner Fliege was zu Leide tun würde. Außer sie griff seine kleine Schwester an.
Dean presste die Lippen aufeinander und fuhr herum.
„Und ich würde mich an deiner Stelle aus Sachen raushalten, die nichts mit dir zu tun haben."
„Vielleicht ist dir der Begriff Familienzusammenhalt unbekannt. Aber das heißt, dass alles, was mit meiner Schwester zu tun hat, auch mich etwas angeht." Ich sah Dean zwar nur von hinten, aber er reagierte nicht. Eine ganze Weile. Ich dachte schon, er würde die Sache einfach auf sich beruhen lassen und verschwinden, aber dann geschah etwas Grausames, das unser aller Leben für immer verändern würde.
Dean stürzte sich auf Ares, und zwar so fest, dass dieser mit dem Rücken gegen ein Regal krachte. Das, was als kleine Auseinandersetzung begonnen hatte, entfachte sich nun zu einer riesigen Prügelei. Und Prügeleien waren strikt verboten. Denn wer sich schlug, gefährdete den Letzten Frieden und wurde mit dem Chippen gestraft.
„Ares, nein!", rief ich, doch es war vergeblich. Sowohl Ares als auch Dean waren so darauf konzentriert, ihre Fäuste schwingen zu lassen, dass sie von der Außenwelt nichts mitbekamen.
Mittlerweile lugten die anderen Gruppen aus den Regalen hervor, um herauszufinden, was – oder wer – da so einen Krach veranstaltete.
„Fuck, eine Schlägerei! Alle weg hier!", rief einer. Ich konnte ihn verstehen und am liebsten würde ich ihm hinterherlaufen und mich vor dem Gesetz in Sicherheit bringen. Aber ich würde Ares unter keinen Umständen zurücklassen und zulassen, dass er wegen mir gechippt wurde, schon dreimal nicht. Während die Gruppen nach und nach verschwanden und Ares und Dean nun auf dem Boden aufeinander einschlugen, überlegte ich fieberhaft, wie ich eingreifen konnte, bevor ihre Taten fatale Folgen nach sich zogen. Doch dafür war es längst zu spät, denn von einer Sekunde auf die andere war der Kampf vorbei. Ares hatte es geschafft, sich auf Dean zu setzen. Kurzerhand packte er ihn am Kragen und ließ seinen Kopf so fest auf den Boden zufliegen, dass nur noch ein dumpfer Knall ertönte, bevor Deans Körper erschlaffte und leblos zu Boden fiel. Ares ließ ihn sofort los.
Was hatte er bloß getan? Ich ließ mich neben Dean fallen, während mir die Tränen übers Gesicht liefen und Bilder von Ares' Zukunft in meinem Kopf umherwirbelten wie ein Orkan. Die gleichen Bilder, die mich jede Nacht von Nic heimsuchten, nur dass es diesmal das Gesicht meines Bruders war.
Ich legte meine Hand auf das klaffende Loch in Deans Hinterkopf, als würde es die Blutung stoppen, doch es war vergeblich. Dean atmete kaum noch.
Ich schob die schrecklichen Gedanken an die Zukunft beiseite und atmete tief ein. An einen Tod wollte ich nicht schuld sein, selbst, wenn es Deans war. Und um das zu verhindern, mussten wir etwas unternehmen, bevor er verblutete. Besser gesagt, ich musste etwas unternehmen. Als ich zu Ares hinaufsah, stand er unter Schock.
Nicht die Nerven verlieren, nicht die Nerven verlieren, sprach ich mir in Gedanken immer wieder zu, als ich mir die blutigen Hände zitternd an der dunklen Jeans abwischte und mein Smartphone herausholte.
„Ich rufe jetzt einen Krankenwagen. Bis er mit den Beamten kommt, hast du Zeit, abzuhauen. Ich werde nicht zulassen, dass du wegen mir gechippt wirst." Ares' Augen klärten sich und langsam realisierte er, was hier vor sich ging. Was er getan hatte, um mich zu beschützen und was uns für immer und unwiderruflich voneinander trennen würde.
„Nein, das kannst du nicht tun", nuschelte er so leise, dass ich es fast nicht hörte. Aber seine Worte kamen an und die Qual, die mit ihnen verbunden war, tat mir so weh, dass sich mein Herz zusammenzog und sich die Tränen ihren Weg nach oben bahnten.
Unterdrücken. Stark sein.
„Ares. Dean hat mich zuerst angegriffen. Ich werde so nah an der Wahrheit bleiben wie möglich und sagen, dass er mich gepackt und gegen die Wand gedrückt hat, weil er mir wehtun wollte. Außerdem wird Dean vermutlich eh nicht wach sein, um mir zu wiedersprechen." Ich konnten nicht glauben, dass ich die letzten Worte tatsächlich aussprechen musste und schluckte.
„Wenn du ihnen die Wahrheit erzählst, werden sie dich verurteilen und chippen. Das lasse ich nicht zu", wiederholte ich. „Außerdem bin ich ein Mädchen. Selbst, wenn Dean der Bruder eines Beamten ist, mit mir werden sie sanfter umgehen, bevor sie ihre Entscheidung treffen." Das war erstunken und erlogen. Ich hatte genug gelesen, um zu wissen, dass die Richter alle gleich behandelten, unabhängig von Geschlecht, Alter und Herkunft. Aber Ares konnte ich noch die Hoffnung lassen, und wer wusste, vielleicht schaffte ich es tatsächlich unschuldig da raus. Ich war kein schlechter Mensch. Vielleicht würden die Richter es sehen.
Ich blickte in Ares' schmerzverzerrtes Gesicht. Er rang mit sich. Aber letztendlich hatten wir eh nur eine Möglichkeit. Ihn würden sie einsperren ohne zu zögern, also mussten wir meine Idee versuchen, um die Chance zu haben, beide frei zu sein. Und er wusste es. Ein knappes Nicken gab mir zu verstehen, dass er mir zustimmte.
„Es tut mir leid, Athena. Es tut mir so leid." Ich stand auf und warf ein letztes Mal die Arme um meinen großen Bruder, der mich mein Leben lang so sehr unterstützt hatte, dass er seine eigenen Bedürfnisse zur Seite gestellt hatte, wenn ich ihn brauchte. Er umarmte mich doppelt so fest und ich spürte, wie seine Tränen meine Kopfhaut benetzten.
Ich verdrängte den Gedanken, dass ich ihn womöglich nie wiedersehen würde, denn er rief eine so schreckliche Angst in mir hervor, dass ich wahrscheinlich durchdrehte und versagen würde, wenn ich ihn zuließ.
„Okay, und jetzt verschwinde." Unwillig riss ich mich von ihm los und kniete mich wieder zu Dean, der nur noch ganz schwach atmete. Innerlich betete ich, dass er durchkommen würde. Denn wenn nicht, wäre das Chippen die Erlösung von meinen Schuldgefühlen. Ich schaffte es nicht, Ares noch ein letztes anzusehen, denn es tat zu sehr weh. Auch, wenn ich es in ein paar Minuten bereuen würde, wenn ich tatsächlich akzeptierte, dass mein Urteil gefällt war.
„Danke. Für alles. Irgendwie werde ich dich aus diesem Schlamassel wieder rausholen, versprochen." Ein gehauchter Kuss auf die Stirn und dann verschwand Ares so schnell, dass außer der Erinnerung an ihn nichts mehr übriggeblieben war.
Also rief ich einen Krankenwagen und während ich auf den schrillen Ton der Sirenen wartete, zog ich die Beine an, machte mich klein und ließ meinen Tränen freien Lauf. Jetzt war ich wohl oder übel ganz auf mich alleingestellt.
< first chapter! comment and vote for a dedication ❤ >
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