𝐸𝑟𝑠𝑡𝑒𝑠 𝐾𝑎𝑝𝑖𝑡𝑒𝑙: ɪᴄʜ ʜᴇɪssᴇ ʜᴀʀʀʏ!
Mit einem mulmigen Gefühl starre ich auf das fast leere Formular vor mir. Ich balanciere das grüne Klemmbrett nun schon seit exakt 8 Minuten auf meinen Knien. Bis jetzt habe ich nur meinen Namen eingetragen. Und selbst der ist nicht korrekt.
Bucky Barnes.
Ich hoffe der Arzt bemerkt es nicht und wenn doch, dann hat er wenigstens einen Sinn für Humor.
Ich tippe mit dem Kugelschreiber gegen meine geschwollene Unterlippe und überlege dabei, ob ich diese Untersuchung wirklich machen will.
Will ich wirklich wissen, was passiert ist?
Ich könnte jetzt ganz einfach aufstehen und gehen. Bisher habe ich nur mit der jungen Frau gesprochen, die hier als Sprechstundenhilfe arbeitet. Sie hat mir nur angenervt, mit dem Telefon unter dem Kinn festgeklemmt, zugenickt und mir das Formular gegeben.
Wenn ich jetzt gehen würde, dann könnte ich immer noch so tun, als wäre gar nichts geschehen. Als hätte es diese Nacht gar nicht gegeben. Ich kann mich sowieso an nichts erinnern. Aber,... das Foto. Dieses eine Foto auf meinem Handy sorgt dafür, dass mein Puls rasant in die Höhe steigt und ich keine Luft mehr bekomme, wenn ich nur daran denke.
Auch wenn Instagram es bereits runtergenommen hat- Ich kann es nicht einfach löschen und so tuen, als hätte es nie auch nur existiert. Es wird sowieso nicht mehr lange dauern, bis die nächste Nachricht auf meinem Smartphone eintrifft und mich daran erinnert, was der Grund ist, warum ich alle meine Benachrichtigungen ausgestellt habe. Mit verschwitzen Finger ziehe ich dieses aus der Tasche meiner Hose und entsperre den Bildschirm. Ich reibe meine Handflächen an dem Stoff meiner dunklen Jeans trocken, bevor ich meinen Zeigefinger über dem Logo von Instagram schweben lasse.
Nein! Ich will nicht sehen wie viele DM's ich von irgendwelchen Arschlöchern bekommen habe, die sich hinter einem falschen Namen verstecken. Und ich will auch nicht sehen, wie oft sie alle versucht haben, mich zu markieren. Beim letzten Nachsehen, vor einer Viertelstunde, waren es mehr als 50 Anfragen. Ich lösche diese verdammte App, ohne sie auch nur noch einmal zu öffnen und rufe den Internetbrowser auf.
Hallo, harrystyles!
Wir bedauern, dass du dein Konto löschen möchtest! Wenn du eine Pause einlegen möchtest, kannst du stattdessen jederzeit dein Instagram-Konto vorübergehend deaktivieren.
Vorübergehend. Mein Magen zeiht sich unangenehm zusammen, weil sich das hier ganz und gar nicht nach einer vorübergehenden Sache anfühlt. Nichts geht vorüber.
Warum möchtest du dein Konto löschen?
· Datenschutzbedenken
· Anfängliche Schwierigkeiten
· möchte etwas löschen
· zu beschäftigt/ zu viel Ablenkung
· zu viele Werbeanzeigen
· zweites Konto erstellt
· Ich finde keine Personen, denen ich folgen kann
Instagram bietet mir nur diese Möglichkeiten an. Die, die auf mich zutrifft, ist nicht dabei: Weil ich nicht mehr existieren will.
Nicht auf Instagram und auch nicht am Heart of Worcestershire College. Ich wünschte, dass ich meine gesamte Identität genauso leicht löschen könnte wie mein Instagram-Account.
Ich atme tief ein und Sätze mein Häkchen bei: ein andrer Grund, und gebe mein Passwort ein, bevor ich das Gerät wieder wegstecke. Aber dennoch spüre ich keine Erleichterung. Ich weiß, dass sich nicht ändern wird, nur weil ich nicht mehr erreichbar bin. Sie werden trotzdem alle über mich reden. Ich bin trotzdem vom College geflogen. Meine Mum wird es trotzdem erfahren.
Der Kuli zittert in meiner verschwitzten Hand. Ich setzte ihn erneut auf dem Papier ab und kreuze beide allen Krankheiten nein an, obwohl ich mir gar nicht sicher seien kann. Das Feld mit den Kontaktdaten, ließ ich bis auf eine ausgedachte E-Mail-Adresse frei und stehe von meinem Stuhl auf.
Als ich wieder an die Theke trete, sieht die Frau dahinter nicht einmal auf.
„Haben sie irgendwelche sexuelle Vorerkrankungen?"
„Nein", krächzte ich. „Ich weiß es nicht!"
Oh Gott, dass wäre- oh Gott, bitte nicht!
„Dann nehmen sie bitte noch einen Augenblick platz! Sie werden aufgerufen."
Ich setzte mich wieder auf den Metallstuhl im Wartezimmer. Ich könnte immer noch gehen... Wenn der Arzt mich nicht in den nächsten 28 Minuten aufruft, dann sehe ich das als Zeichen und verschwinde von hier. 28 ist die Seite in meinem Tagebuch, die ich zuletzt beschrieben habe. 28 ist eine gute Zahl. Aber das Wartezimmer ist so gut wie leer, deshalb dauert es auch nur 17 Minuten, bis ich aufgerufen werde und ich schlucke, weil es jetzt kein zurück mehr gibt. Die Praxis ist klein und nicht gerade besonders modern, was daran liegen muss, dass der Arzt noch sehr jung ist und erst einmal andere Sorgen hat, als neue Möbel. Im Internet habe ich eine Google-Bewertung über ihn gelesen, die mich glauben lässt, dass er genau der richtige Arzt für mich ist.
Ich lese eigentlich immer nur die negativen, um sicher zu gehen.
Dr. Brown hat einen Mann ewig im Wartezimmer sitzen lassen, weil ein junger Latino mit unklaren Unterleibbeschwerden in seine Praxis gekommen ist. Er hat ihn vorgezogen, obwohl er nicht krankenversichert war. Der wartende Mann hat seine Praxis deshalb mit nur einem Stern bewertet. Da war mir klar, dass ich zu ihm gehen würde. Außerdem liegt seine Praxis in Milton Keynes, auf halber Strecke zwischen Redditch und London, wo Liam inzwischen studiert. Ich konnte nicht in Redditch bleiben, weshalb ich jetzt auf den Weg zu ihm bin. Hier in Milton Keynes zum Arzt zu gehen hat den Vorteil, dass ich weder ihm noch seinen Angestellten wieder über den Weg laufen werde.
„Mister...Barnes?"
Mit wackligen Beinen richtige ich mich auf und folge dem Arzt, der eine hellblaue Tür mich mich aufhält.
„Setzten sie sich!"
Er deutet auf einen mit Filz bezogenen Stuhl, der eindeutig schon bessere Zeiten gesehen hat.
Dr. Brown hat seinen Abschluss erst vor 2 Jahren in London gemacht. Das sehe ich in an seinem Diplom, welches schief an der vergilbten Wand hängt. Ich schiebe meine Hände zwischen die Oberschenkel und Presse meine Knie zusammen.
„Bevor ich sie frage, warum sie zu mir gekommen sind, muss ich noch eine Sache klären! Sie haben Selbstzahler auf dem Dokument angegeben."
Er sieht auf das Klemmbrett hinab und runzelt verwirrt die Stirn.
„Wir haben besondere Sprechzeiten für Männer die nicht über ihre Arbeitgeber versichert sind. Jeden Donnerstag ab 1 Uhr mittags bis in die Abendstunden. Es gibt einen Verein, der uns dabei finanziell unterstützt. Wenn es also kein Notfall ist- ich könnte sie am Donnerstag über die Leute vom Verein abrechnen!"
Er hebt den Blick und lächelt mich vorsichtig an.
„Danke, aber ich möchte lieber selber bezahlen!"
„Ich hab das Geld! Hier!", füge ich hinzu und klopfe mit meiner Handfläche auf meinen orangenen Totebag, dessen Stoffhenkel ich über die Stuhllehne gehängt habe.
„Der Verein ist wirklich vertrauenswürdig! Sie nehmen keine Personalien auf, wenn das ihr Problem sein sollte-"
Seine wachen Augen huschen über das Formular.
„Bucky."
Ich kann fast schon sehen wie es hinter seiner Stirn arbeitet und dann wie es um seinen Mundwinkel zuckt.
„James Buchanan Barnes. Der Wintersoldier aus den Marvel-Comics, richtig?"
Ich hätte mir denken können, dass er zu jung ist, um damit durchzukommen. Wenigstens ist er nicht sauer auf mich.
„Ich möchte selbst bezahlen!", wiederhole ich schnell . „Sie müssen doch trotzdem nicht wie ich heiße, oder?" Ich rutsche auf dem Stuhl hin und her.
Dr. Ward sieht nett aus. Sein mittelbraunes Haar hat er heute morgen bestimmt ordentlich gekämmt. Jetzt ist es jedoch zerzaust und fällt ihm in Strähnen ins Gesicht, welches von Sommersprossen übersät ist.
„Worum geht es denn? Was haben sie für Beschwerden?"
Er lenkt den Blick zurück auf die dünne Akte mit meinen spärlichen Angaben und hält den Stift darüber in der Schwebe. Ich bin zwar froh nicht in sein Gesicht sehen zu müssen, aber einfacher macht es das auch nicht.
„Also,... vor ein paar Tagen, ich-, also da hat mir eigentlich alles weh getan." Und mit alles meine ich wirklich alles. „Ich bin aufgewacht und hatte das Gefühl in der Nacht mehr mal überfahren worden zu sein. Jeder Knochen in meinem Körper musste sich anscheinend erstmal wieder an die richtige Stelle schieben und mir war so schlecht, dass ich mich mehrmals übergeben musste. Ich hatte schlimme Muskelkrämpfe und wegen dem Schwindel konnte ich kaum gerade gehen. Es hat viele Stunden gedauert, bis ich wenigstens ein paar Schlucke Kamillentee drin behalten konnte. „Können sie mich bitte untersuchen?"
Er kritzelt etwas in die Akte.
„Was ist denn passiert?"
Ich hole tief Luft. „Das weiß ich nicht!"
Oh man, dass klingt wirklich erbärmlich!
„Ich weiß nicht was passiert ist, weil- ich kann mich an nichts erinnern!"
Das ist das schlimmste: ich habe überhaupt keine Ahnung, was in der Nacht passiert ist. Ich weiß nur noch, dass ich mit Nick und ein paar Kommilitonen zu dieser Party gegangen bin. Die Erinnerung an die Vorfreude darauf, ist noch da. Ich weiß noch, wie wir uns bei ihm im Zimmer zurecht gemacht haben. Wir haben laut zu Rocket Man von Elton John gegrölt und haben einem Senior zwei Flaschen Bier abgeschwatzt. Auf dem Weg zur Party habe ich meinem besten Freund Liam noch eine Nachricht aufgesprochen. Danach weiß ich nichts mehr. Aber ein einziges Bild sagt sowieso mehr als tausend Worte. Ich hole mein Handy heraus und öffne den Ordner mit den Fotos. Als ich das leicht verschwommene Bild anklicke, wende ich sofort den Blick ab, weil ich es auf keinen Fall noch einmal sehen will. Dann lege ich das Smartphone auf den Tisch und schiebe es zu Dr. Brown herüber.
„Das ist auf Instagram aufgetaucht"
Der Arzt nimmt es in die Hand.
„Okay", sagt er gedehnt. „Ich glaube ich verstehe!"
Er schiebt das Gerät zu mir zurück.
„Und sie können sich nicht daran erinnern, wie dieses Foto überhaupt entstanden ist?"
Ich schüttele den Kopf. In seinem Gesicht kann ich nicht ablesen, ob ihn das schockiert. Was muss er jetzt von mir denken? Nervös zähle ich alleine acht Sommersprossen über seiner rechten Augenbraue und beiße mir auf die Unterlippe.
„Haben sie Drogen konsumiert?"
Über der anderen Braue sind es bloß sechs.
Okay, jetzt kann ich mir ungefähr vorstellen, was er von mir denkt!
„Nein, noch nie! Zumindest weiß ich nichts davon!"
Und ich weiß auch nicht wer die andere Person auf dem Foto ist. Man kann auch nicht wirklich viel von ihm erkennen Nur die eine Hand auf meinem nackten Oberkörper und die andere in meiner Jeans.
Es sind Männerhände. Mein Magen rebelliert, weshalb ich das Smartphone schnell wieder in meine Tasche stecke.
„Haben sie die Polizei informiert?"
Ich schüttele langsam den Kopf.
„Ich würde ihnen dringend raten den Vorfall zu melden. Nur so kann die Polizei ermitteln. Wenn sie keinerlei Erinnerungen daran haben, was in dieser Nacht passiert ist, dann muss wahrscheinlich mehr im Spiel gewesen sein als Alkohol."
Das was er dort andeutet ist mir nach dem ersten Blick auf dieses Foto schon klar gewesen. Aber ich kann es auf keinen Fall melden! Wegen meiner Mum.
„Ich möchte das alles einfach nur vergessen!"
„Das kann ich verstehen, aber sie sollten das wirklich für sich tuen. Auch wenn sie damit vielleicht nicht verhindern, dass dieses Bild weiter im Netzt kursiert, ist eine Anzeige die Voraussetzung für eine Bestrafung des Täters!"
„Ich denke darüber nach!"
Nicht! In Gedanken füge ich das noch hinzu. Ich will nie wieder darüber nachdenken.
„Haben sie sich selbst untersucht, nachdem es passierte?"
„Ich- ich wusste ja nicht! Gestern, als ich jemand auf das Foto angesprochen und an mich weitergeleitet hat, wurde mir klar, dass sich an diesem Abend wohl mehr abgespielt haben muss, als ich vorher dachte. Ich habe mich gewaschen und dabei- ich weiß auch nicht!"
„Sie trauen ihrem eigenen Körpergefühl nicht mehr", beendet Dr. Brown meinen Satz. „Ich verstehe"
Er steht auf.
„Dann gehen wir nach nebenan in den Behandlungsraum, damit ich sie untersuchen kann!"
Er öffnet eine Tür zu einem Nebenraum und lässt mir den Vortritt.
„Legen sie sich bitte auf die Liege!", wies er mich an und holte dabei einige Sachen aus einem Schrank an der Wand.
„Ich werde ihnen etwas Blut abnehmen müsse, um sicher zu gehen, dass sie keine Geschlechtskrankheiten bekommen haben"
Ich nickte vorsichtig und legte mich hin.
Dr. Brown legt meinen linken Arm auf eine Erhöhung und sticht dann mit der dünnen Nadel in meine Ellenbeuge.
Es zieht kurz, doch dann gewöhne ich mich an den Schmerz. Ich gucke trotzdem weg, da ich nur schwer Blut sehen kann und atme einmal hörbar aus.
„Ist gleich geschafft, Bucky!"
„Harry", sage ich und Dr. ward zieht die Nadel wieder aus meinen Arm heraus. „Ich heiße Harry!"
„Okay, Harry"
Nachdem er die Ampulle gut verschlossen hat, zog er sich seine Gummihandschuhe aus und nickt mir aufmunternd zu.
„Ich kann ihnen nicht sagen, ob sie gestern Geschlechtsverkehr hatten", sagt er und fährt mit dem Rollhocker zurück. „Aber in einigen Tagen habe ich die Ergebnisse für ihren Test und dann wissen sie wenigstens, ob sie sich eine Krankheit eingefangen haben, oder nicht!"
Vor Dankbarkeit könnte ich gerade heulen. Aber ich heule nicht. Ich schlucke alles hinunter und starre auf einen Punkt an der Wand vor mir, wo seltsame grüne Linien über die Tapete laufen, als hätte sich ein kleines Kind dort mit Wachsmalstiften ausgetobt.
„Es ist gut, dass sie hergekommen sind, Harry!"
Er dreht sich von mir weg, und trägt etwas in die Akte ein.
„Mit der Blutprobe können wir sicher gehen, dass sie keine Geschlechtskrankheiten haben, aber zur Sicherheit lasse ich ihnen von meiner Kollegin noch einen Becher geben und würde sie bitte eine Urinprobe und ein Haar abzugeben. Mit ein bisschen Glück können wir noch nachweisen, welches Mittel ihnen verabreicht wurde"
„Sie denken also auch, dass man mir irgendwelche Drogen gegeben hat?"
„Diese Art Blackouts bekommt man nicht allein von einem Alkoholrausch. Das erreicht man nur mit einem Betäubungsmittel. Benzodiazepine, Barbiturate, Liquid Ecstasy oder andere Mittel. Und es ist sehr wichtig, dass zu dokumentieren, falls sie sich das mit der Anzeige noch einmal überlegen sollten! Dann würden auch die Kosten für die Tests übernommen. Die Polizei benötigt objektive Beweismittel! Das Foto alleine reicht nicht aus, weil es auch mit ihrer Einwilligung entstanden sein könnte!"
Mit meiner Einwilligung, klar!
Ich presse meine Lippen fest zusammen, rutsche von der Liege herunter und ziehe meinen Ärmel des pinken Oversized-Hoodies wieder nach unten.
„Kann man sie unter diesem Mail-Account erreichen, oder ist der genauso fake, wie ihr Name?"
Mein Gesicht wird heiß und ich drehe mich weg.
„Ich- hab sie mir ausgedacht!"
„Dann tuen sie mir bitte einen gefallen und geben sie uns eine richtige Adresse, Harry! Ich schicke ihnen dann die Ergebnisse in der nächsten Tagen per Mail zu"
Dr. Brown reicht mir das Klemmbrett und ich korrigiere meine Daten auf dem Anmeldeformular in der Patientenakte.
Als der Arzt mir zum Abschied die Hand hinstreckt, sieht er mich eindringlich an.
„Lassen sie sich niemals von irgendjemandem einreden, dass etwas von dem, was passiert ist, ihre Schuld ist, Harry! K.O.-Tropfen werden immer unbemerkt verabreicht, um jemanden wehrlos zu machen! Das ist ein Verbrechen! Haben sei mich verstanden? Sie können nichts dafür, so fühlen sie sich bitte nicht schuldig!"
Ich nicke und fühle mich schuldig. Hätte ich dort nichts getrunken, dann hätte man mir auch nichts von diesem Zeug unterjubeln können. Wäre ich nicht auf diese verdammte Party gegangen- Wäre ich nicht so vertrauensselig gewesen-
„Es ist ganz egal, was bei diesen Tests herauskommt! Selbst wenn es nur der Alkohol gewesen wäre, sie haben zu nichts ja gesagt! Nur weil sie sich nicht wehren konnten, haben sie das nicht erlaubt! Schweigen ist keine Zustimmung, Harry! Niemals!"
„Ja"
„Wenn irgendetwas seien sollte, dann kommen sie unbedingt wieder!"
„Danke, Dr. Brown!"
Ich bin erleichtert, als er mit seiner Rede endlich fertig ist und ich das Untersuchungszimmer endlich verlassen kann. Die Sprechstundenhilfe wirft einen kurzen Blick auf die Unterlagen, die ihr Dr. Ward hingelegt hat, bevor er den nächsten Patienten aufgerufen hat. Dann öffnet sie eine Maske auf ihrem Bildschirm und tippt in ihre Tastatur.
Als ich zu ihr an die Theke trete, beschriftet sie gerade zwei Plastikbecher und reicht mir einen davon.
„Ein oder Zwei Haare reichen", meint sie knapp und beugt sich mit einer Pinzette über den schmalen Tresen und im nächsten Moment ziept es auch schon an meinem Kopf.
„Die Toilette finden sie links neben dem Behandlungsraum! Stellen sie den Becher nachher einfach auf den kleinen Tisch im Flur"
„Danke"
Nachdem ich vom Klo zurückkomme, bezahle ich bei ihr meine Behandlung für die Tests. Sponsored by Mum. Auch wenn meine Mum das nicht weiß und denken wird, dass ich mit dem Geld Bücher für meine Kurse kaufe. Aber die werde ich jetzt sowieso nicht mehr brauchen! Weil ich nicht mehr brauche, was mit Redditch zu tuen hat! Es beschert mir ein sehr schlechtes Gewissen und lässt Blut in meinen Kopf schießen.
Ich muss meine Mum anlügen, damit sie sich keine Vorwürfe macht! Sie fühlt sich schon seit Jahren schuldig, weil sie zu wenig Zeit für mich hat und denkt, dass ihr neuer Freund mir Schwierigkeiten bereitet. Ich kann ihr unmöglich sagen wie richtig sie mit dieser Vermutung liegt, aber ich schäme mich nicht nur dafür sie anzulügen, sondern auch weil ich Grund dazu habe. Weil ich in diesem Zustand gewesen bin. Und Gott weiß, wie viele Menschen nun dieses Foto gesehen haben! Ich schäme mich, weil ich nicht weiß, was die Hände auf diesem Bild mit mir angestellt haben und wo sie mich überall angefasst haben! Ich schäme mich, weil ich mich nicht gewehrt habe. Aber das ist etwas, was ich mit mir alleine klären muss und es ist ganz egal, ob Dr. Ward oder irgendjemand anderes dafür verurteilt oder nicht. Ich verurteile mich selbst!
Ich trete nach draußen, wo mir ein frischer Herbstwind ins Gesicht weht, der mich etwas beruhigt und schließe die Tür des alten VW's auf, den ich mir für 360 Pfund gekauft habe und der seinen Aufgabe erfüllt haben wird sobald ich in London ankomme. Die Tür ist so verrostet, dass man sie nur mit Gewalt aufbekommt. Die Mühe ihn abzuschließen, hätte ich mir gar nicht machen müssen. Niemand wäre so verrückt, diese Schrottkiste zu klauen!
Allein schon weil der Innenraum riecht, als wäre auf dem Rücksitz mindestens ein Tier verwest.
Meinen Stoffbeutel werfe ich zum Rucksack auf den Beifahrersitz und schließe den Gurt, obwohl dieser sich sowieso spätestens nach fünf Minuten wieder von alleine öffnet, weil der Verschluss total ausgeleiert ist.
Die Heizung funktioniert auch nicht mehr, was heute morgen, bei nur sechs Grad, schmerzlich deutlich wurde. Ich öffne GoogleMaps, klemme es in die Plastikhalterung und drehe das Radio auf. Doch der Billy-Ray-Cyrus-Song, welcher aus der Box kommt, ruft mir in Erinnerung, dass der Knopf für die Sendereinstellung kaputt ist, weshalb ich die letzten eineinhalb Stunden ausschließlich Country-Musik hören musste. Und ich hasse Country! Ich stehe eher auf Rockmusik, oder von mir aus auch Pop.
Ich schalte das Radio wieder aus, lehne mich zurück und presse meine Hände vors Gesicht.
Ich werde bald wissen, ob ich irgendwelche Geschlechtskrankheiten bekommen habe, aber trotzdem ändert dies nichts an dem Ekel, den ich empfinde. Vor diesen Händen auf dem Foto. Vor dem Gefühl fremder Finger auf meinem Körper, was wie ein Phantomschmerz ist.
Mit einem schaudern richte ich mich auf und ziehe mein Tagebuch aus dem Handschuhfach heraus. Auf Seite 28 habe ich mir meine To-Do-Liste für den heutigen Tag aufgeschrieben. Ich habe insgesamt vier Punkte aufgeschrieben, von denen ich den ersten jetzt abhaken kann:
· von einem Arzt untersucht werden
· Liam's Zimmerschlüssel abholen
· Mum anrufen und ihr beichten, dass ich vom College geflogen bin
· NICHT DURCHDREHEN!
Mein Herz rast. Die beiden letzten Punkte muss ich auf wann anders verschieben, denn ich spüre, wie meine Hände anfangen zu zittern, wenn ich nur daran denke. Ich stöpsle meinen schwarzen Stift auf, streiche Punkt Drei und Vier mit langen Strichen durch und betrachte das Zitat, welches ich heute morgen auf die Seite davor geschrieben habe. I'm going to deal with this problem by yelling.
Und genau das ist es, was ich gleich tuen werde.
Ich starte den Motor und fahre los, doch erst als ich auf dem Highway bin und der Tacho über 40 Meilen anzeigt, schrei ich die Windschutzscheibe an. So lange und so laut, bis ich keinen einzigen Gedanken mehr in meinem Kopf hören kann.
♡︎♡︎♡︎
Ich hoff, dass es irgendwem gefällt!
All the fookin love
J
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