3: ATEEZ

11.562

Der Himmel war in ein tiefes Grau getaucht, als die ersten Tropfen Regen auf den ausgetrockneten Boden fielen. Es war einer dieser Tage, an denen die Welt stillzustehen schien, und doch lag eine unbestimmte Spannung in der Luft. Auf einem schmalen Pfad, der durch ein dunstiges Waldstück führte, war ein einsamer Wanderer unterwegs. Die Schritte hallten leise auf dem feuchten Laub wider, und der Mantel flatterte im Wind, der durch die Bäume pfiff.

In der Hand hielt der Wanderer eine alte, mit Leder gebundene Karte, die an den Rändern bereits abgegriffen war. Seltsame Symbole waren darauf zu erkennen, Kreise und Linien, die kein gewöhnlicher Wegweiser sein konnten. Doch für den Wanderer war die Karte alles andere als kryptisch – sie führte zu einem Ort, von dem nur in Legenden gesprochen wurde.

Plötzlich blieb er stehen. Ein Geräusch hinter ihm – ein Knacken von Zweigen.

Misstrauisch drehte sich San um. Schon seit einer ganzen Weile hatte er das Gefühl, verfolgt zu werden, doch nie hatte er was gesehen oder gehört. Er dachte schon, er wäre paranoid geworden, doch jetzt endlich hatte er die Bestätigung, dass irgendjemand oder irgendetwas hinter ihm war.

„Ein Wildschwein. Wieso auch nicht.", zuckte der junge Wanderer mit seinen Schultern, als er langsam rückwärts ging, das Wildschwein, das ihn fokussiert hatte, jedoch nicht aus den Augen ließ. Dann rannte er schnell auf einen Baum zu und erklomm diesen mit geschickten Bewegungen, um sich in Sicherheit zu bringen.

Seufzend ließ er sich auf einem stabilen Ast nieder und lehnte sich an den Stamm.

„Tja, das habe ich davon, dass ich mitten in der Nacht durch den Wald latsche.", nuschelte er.

Dennoch hatte er im Gefühl, dass dieses Wildschwein nicht das Einzige war, was ihn verfolgte. Aus diesem Grund nutzte er die Zeit, die er nun ohnehin auf dem Baum fest saß und ließ seinen Blick durch die Dunkelheit des regnerischen Waldes gleiten.

Tatsächlich sah er eine menschliche Gestalt durch den Wald schleichen.

San hielt den Atem an, die Muskeln angespannt wie eine gespannte Feder. Die Gestalt war kaum mehr als ein Schatten, umgeben vom Schleier des Regens. Doch sie bewegte sich gezielt, fast lautlos – nichts, was einem gewöhnlichen Wanderer oder Jäger ähnelte.

Die Gestalt schien etwas zu suchen. Immer wieder blieb sie stehen, hob den Kopf und lauschte, als würde sie auf ein Zeichen warten. San drückte sich dichter an den Baumstamm, sein nasser Mantel klebte an der Rinde. Die Gestalt war jetzt nah genug, dass er den schwachen Glanz eines Messers in ihrer Hand erkennen konnte.

„Großartig", murmelte er kaum hörbar. „Ein bewaffneter Stalker. Genau das, was mir noch gefehlt hat."

Das Wildschwein hatte längst das Weite gesucht, doch San war nicht sicher, ob er den Baum verlassen konnte. Er überlegte fieberhaft, ob er die Gestalt ansprechen oder unbemerkt bleiben sollte. Doch bevor er eine Entscheidung treffen konnte, geschah etwas, das seinen Puls in die Höhe trieb.

Die Gestalt drehte sich plötzlich zu ihm um – direkt in seine Richtung. „Komm runter, ich weiß, dass du da bist", rief eine Stimme, ruhig, fast sanft, aber mit einem Ton, der keine Widersprüche duldete.

Sofort kroch eine eisige Kälte Sans Rücken hinunter. Wer auch immer das war, er hatte ihn schon die ganze Zeit gewusst, dass er hier war.

„Und was wenn nicht?", fragte San, versuchte ruhig zu bleiben. „Dann komm ich zu dir hoch und zerre dich mit Gewalt da runter." „Nun, ich denke das wäre besser, als dass ich mich freiwillig meinem möglichen Tod hingebe.", zuckte San mit seinen Schultern, auch wenn er wusste, dass der Unbekannte das nicht sehen konnte.

„Was? Tod? Niemand will dich umbringen.", lachte die Gestalt. Und dieses Lachen kam ihm augenblicklich bekannt vor.

„Mensch, Yunho!", beschwerte sich San, als er den Baum wieder herunter kletterte. „Was sollte die Aufmachung? Du hast mir voll den Schrecken eingejagt! Warum verfolgst du mich mit einem verdammten Messer?"

„Weil ich dich ganz sicher nicht alleine und unbewaffnet auf die gefährliche Suche nach diesem magischen Ort gehen lassen kann. Hier. Ich habe dir auch einen Dolch mitgebracht. Glaub mir, mein Freund, du fühlst dich sicherer, wenn du unterwegs bist und wenigstens irgendetwas hast, mit dem du dich im Notfall wehren kannst."

„Danke, Hyung.", bedankte sich San bei seinem Freund und nahm den Dolch entgegen, verstaute ihn sicher in der Innentasche seines Mantels. „Hast du Wooyoung und Jongho jetzt alleine bei Seonghwa und Hongjoong gelassen?"

„Ja, natürlich habe ich das. Die beiden werden schon klarkommen", antwortete Yunho mit einem verschmitzten Grinsen und zuckte mit den Schultern. „Wooyoung hat Jongho, und Jongho hat... na ja, seine endlose Geduld mit Wooyoung. Außerdem war Seonghwa schon dabei, irgendwas von Schutzritualen zu faseln, als ich gegangen bin. Die machen sich nützlich."

San schnaubte. „Klar, nützlich. Wenn du die Definition von ‚nützlich' auf ‚ständig streiten und albern sein' ausdehnst."

Yunho winkte ab. „Egal, die können auf sich aufpassen. Aber du... du bist dabei, irgendeinem Mythos nachzujagen, mitten in der Nacht, und hast nicht mal ein anständiges Frühstück gegessen. Da musste ich einfach mitkommen. Stell dir vor, ich komme zurück und muss den anderen erklären, dass du von einem Wildschwein plattgemacht wurdest."

San verdrehte die Augen, konnte aber nicht verhindern, dass ein kleines Lächeln seine Lippen umspielte. „Schon gut, schon gut. Aber nächstes Mal vielleicht weniger Drama, ja? Du weißt, dass ich für sowas keine Nerven habe."

Yunho lachte leise und klopfte San freundschaftlich auf die Schulter. „Komm schon, kleiner Bruder. Lass uns weitermachen. Der Regen wird stärker, und ich will nicht auf diesem Weg von einem Fluss überrascht werden."

San nickte, zog seinen Mantel fester um sich und blickte auf die Karte in seiner Hand. Der seltsame Kreis, der ihr Ziel markierte, war nicht mehr weit. Doch irgendetwas an diesem Moment, an Yunhos plötzlichem Auftauchen, ließ ein ungutes Gefühl in ihm zurück. Fast, als ob die Nacht ihnen mehr zu bieten hätte als Regen und Wildschweine.

„Hör zu", begann San zögerlich, während sie sich durch den schlammigen Pfad weiterbewegten. „Ich weiß, das klingt komisch, aber... hast du auch das Gefühl, dass wir beobachtet werden?"

Yunho blieb stehen, sein Blick wanderte in die Dunkelheit des Waldes. „Jetzt, wo du's sagst..." Seine Hand glitt instinktiv zum Messer an seiner Seite. „Da ist tatsächlich was. Ich kann's nicht erklären, aber—"

Ein Knacken, lauter diesmal. Es kam von vorne.

Dann ertönte eine laute Stimme: „San! Yunho! Kommt gefälligst zurück ins Haus, sonst werdet ihr noch krank! Jagt keinem verdammten Mythos nach!"

„Oje, es ist noch schlimmer als wir dachten. Das ist Seonghwa!", meinte Yunho. „Was...Was machen wir jetzt? Wann hat er uns eigentlich überholt? Wollen wir einfach an ihm vorbei rennen?!", fragte San mit einer leichten Panik in seiner Stimme.

Es war nicht so, dass Seonghwa gefährlich sein würde. Obwohl er nur ein Jahr älter war als Yunho und San, verhielt er sich ihnen gegenüber wie eine Mutter.

Aber jeder hat doch mehr Angst vor der Mutter, als vor irgendetwas anderem.

„Genau. Ich dachte, du willst dich nicht freiwillig deinem Tod hingeben, du Pabo!", beantwortete Yunho sarkastisch die Frage seines Freundes. „Was sollen wir dann machen?" „Lass uns zurück auf den Baum!", entgegnete Yunho und kletterte schon eilig auf den Baum und direkt folgte San ihm.

„Wo seid ihr, ihr ungehorsamen Bengel?!", schrie Seonghwa empört und lief unter dem Baum — auf welchem sich San und Yunho so eng wie nur irgend möglich an den Baumstamm drückten und ihren Atem anhielten, damit Seonghwa sie nicht bemerken konnte — vorbei.

Eine ganze Weile warteten sie noch, bis sie sich wieder trauten, zu atmen.

„Ui, wenigstens hat Seonghwa-Hyung mit seiner lauten Stimme bestimmt alle Wildtiere verscheucht.", lachte Yunho leise.
„Los, lass uns schnell weg gehen, bevor Hongjoong auch noch kommt.", entgegnete San, woraufhin die Freunde wirklich den Wald verließen und ihr gemeinsames Abenteuer fortsetzten.

„Ich kann es immer noch nicht glauben", murmelte San, als sie den Rand des Waldes erreichten und sich endlich sicher fühlten. Der Regen hatte mittlerweile nachgelassen, und die Luft war frisch und kühl, durchzogen von dem Duft feuchter Erde. „Seonghwa wird uns noch lange mit dieser Nummer aufziehen."

Yunho lachte und schüttelte den Kopf. „Es war zu erwarten. Wenn wir nicht aufpassen, bekommt er noch eine geheime Kamera und filmt unser Versagen."

„Gott, bitte nicht", antwortete San und zog das Gesicht. „Aber ernsthaft, jetzt, wo wir hier sind... was genau erhoffen wir uns von diesem mystischen Ort?"

Yunho zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Aber irgendwas muss dran sein, oder? Schließlich ist die Karte nicht von irgendwoher. Und hast du das Gefühl, dass diese Symbole einfach nur so existieren?"

San starrte auf die Karte, die er immer noch in seiner Hand hielt. Die Linien und Kreise darauf wirkten fast lebendig, als ob sie sich im Rhythmus seines Herzens bewegten. „Ich... weiß nicht, Yunho. Aber ich fühle mich, als ob wir auf etwas Großes zusteuern. Etwas, das unsere Erwartungen bei weitem übertreffen wird."

Die beiden gingen weiter, der Pfad führte sie in eine noch unberührte, beinahe geheimnisvolle Landschaft. Der Wald machte Platz für ein offenes Feld, das sich weit vor ihnen erstreckte. Und dort, am Horizont, sahen sie es – ein hoher, zerfallener Turm, der sich gegen den grauen Himmel erhob.

„Das muss es sein", flüsterte San.

Yunho nickte, seine Hand am Dolch fest umklammert. „Das wird nicht einfach, das weißt du, oder?"

San nickte langsam. „Ja, aber es wird der Anfang von etwas Großem sein. Und wir sind hier, weil wir es herausfinden müssen."

Sie machten sich auf den Weg zum Turm, die Stille des Feldes lastete schwer auf ihren Schultern. Doch irgendetwas in der Luft schien sie zu begleiten – eine leise Ahnung, dass ihre Reise gerade erst begonnen hatte.

Doch als sie sich dem Turm näherten, blieb San plötzlich stehen. Etwas war nicht richtig. Etwas stimmte nicht mit diesem Ort. Er konnte es nicht erklären, aber es gab eine dunkle Präsenz in der Luft, die ihn frösteln ließ.

„Hast du das auch gespürt?" fragte San, seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern.

„Ja", antwortete Yunho, und in seinen Augen lag plötzlich eine Ernsthaftigkeit, die San sofort bemerkte. „Es ist, als ob der Turm uns erwartet... oder uns testet."

Ein leises Knarren ertönte plötzlich aus der Richtung des Turms, als ob sich die Tore öffneten – doch niemand war zu sehen.

„Haben sich die Tore gerade tatsächlich von selbst geöffnet?", fragte Yunho überrascht und San nickte diese Worte langsam und ungläubig ab. „Vielleicht hätten wir doch auf Seonghwa und Hongjoong hören sollen...", nuschelte San, den die Angst packte.

Plötzlich spürte er, wie sein Freund ihm einen kleinen Klaps auf den Hinterkopf gab. „Au! Hey, was soll das?", fragte er den Älteren und zog dabei einen Schmollmund.

„Siehst du? Genau das ist ein weiterer Grund, warum ich mitgekommen bin. Du bist der größte Angsthase von uns und willst ALLEINE auf so eine Suche gehen? War klar, dass du das nicht schaffst. Nun los. Wir wissen erst, was uns erwartet, wenn wir uns hinein wagen.", lächelte Yunho sanft und lief bereits auf den Turm zu. Versuchte sein eigenes Unbehagen dabei zu überdecken.

Irgendwas an diesem Turm strahlte eine gefährliche Aura aus, doch Yunho wusste nicht, was genau es war.

Während Yunho bereits vor den Toren stand, atmete San nochmal tief durch, um seinen ganzen Mut zu sammeln, ehe er zu seinem Freund aufschloss.

„Wir bleiben auf jeden Fall zusammen. Klar, Hyung?" „Aber natürlich. Was denkst du denn? Wenn sich Leute in Filmen aufteilen, werden sie alle nacheinander abgemurkst.", lachte Yunho nervös, ehe er seine Hand entgegen San hielt, welcher sie auch ohne zu zögern griff.

Nochmals atmeten beide durch, ehe sie den Turm betraten.

Kaum hatten sie den ersten Schritt in den Turm gesetzt, schloss sich das schwere Tor hinter ihnen mit einem lauten Knall. Das Geräusch hallte in den leeren Hallen wider, und für einen Moment war es, als ob die Zeit selbst stillstand. Der Turm schien in dieser einen Sekunde lebendig zu werden, als ob er sie begrüßte – oder sie in eine Falle lockte.

„Das klingt nicht gut", murmelte San, seine Hand um den Dolch in seiner Manteltasche geklammert. „Würden sie uns wirklich einfach so reinlassen?"

„Wahrscheinlich ist es eine Art Prüfung", antwortete Yunho und ging weiter, seine Schritte hallten auf dem Steinboden. „Du kannst doch nicht ernsthaft glauben, dass so ein Ort einfach so einladend ist. Ich bin sicher, irgendwas wird passieren. Irgendwann."

Der Gang vor ihnen war dunkel und der Boden bedeckt mit einer dicken Schicht aus Staub, der jeden Schritt verstärkte. Die Wände des Turms waren mit verblassten Gemälden und unleserlichen Inschriften bedeckt. Es war ein Ort, der längst von der Zeit vergessen worden war, und doch schien er immer noch etwas zu verbergen.

„Schau dir diese Symbole an", sagte San und zeigte auf eine Wand. „Ich habe das Gefühl, dass wir hier auf etwas stoßen werden, das... uns mehr sagen kann. Vielleicht sind das keine zufälligen Zeichnungen."

Yunho trat näher, seine Augen verengten sich. „Hmm. Ich kann es nicht genau sagen, aber es sieht aus wie ein altes Schutzsymbol. Vielleicht schützt es den Ort vor Eindringlingen. Oder es warnt vor etwas."

„Großartig. Genau das, was wir brauchen – noch mehr Rätsel.", murmelte San, aber sein Tonfall zeigte, dass er die Bedeutung dieser Entdeckung ernst nahm.

Sie gingen weiter, und die Stille des Turms war drückend. Dann, plötzlich, erklang ein leises Knistern aus der Dunkelheit vor ihnen. Es war fast so, als ob sich der Turm selbst zu regen begann.

„Was war das?", flüsterte San.

„Hörst du das auch?", fragte Yunho, seine Hand wieder am Dolch. „Es kommt von oben."

Langsam blickten sie nach oben, wo die Dunkelheit wie ein schwarzes Loch zu gähnen schien. Irgendetwas rührte sich in den Schatten dort.

„Das... das ist nicht normal", flüsterte San, als er die Bewegung in den Schatten deutlicher erkennen konnte. „Wir sind nicht allein."

Ein leises Geräusch, das an das Knarren von Holz erinnerte, ließ die Wände erbeben. Plötzlich blitzte ein schwaches Licht auf, und eine unsichtbare Präsenz schien den Raum zu füllen. „Vorsicht", flüsterte Yunho, „es ist hier."

Und dann, aus der Dunkelheit, ertönte eine tiefe, fast unverständliche Stimme:

„Ihr habt den Turm betreten... doch was sucht ihr wirklich?"

Verwirrt sahen sich Yunho und San, die noch immer fest die Hand des anderen hielten, kurz an, ehe San langsam zu sprechen begann: „Nun...G-Genau genommen wissen wir es auch nicht wirklich. Wer seid Ihr?"

„Wie, ihr wisst nicht, was ihr sucht? Es wird doch wohl einen Grund haben, warum ihr diesen Turm betreten habt. Er sieht schließlich alles andere als einladend aus.", entgegnete die unbekannte Stimme, die sich langsam die Treppen hinunter bewegte, aber noch immer im Schutz der Dunkelheit versteckte.

„Wir haben eine Karte gefunden, die zu einem mystischen Ort voller fantastischer Lebewesen und Gegenstände führen soll. Wir waren neugierig und machten uns auf die Suche. Der Weg hat uns hierher geführt.", erklärte Yunho, der San's Hand bei seinen Worten noch etwas fester drückte, um sicher sein zu können, dass dieser noch an seiner Seite war, während er die andere Hand jedoch noch immer an seinem Dolch hatte.

Auch wenn er hoffte, diesen niemals ziehen zu müssen, gab es ihm eine gewisse Sicherheit, das Metall einfach in seinen Händen spüren zu können.

Die Dunkelheit schien sich für einen Moment zu verdichten, als die Stimme der unbekannten Präsenz wieder erklang. Sie klang nun fast amüsiert, doch gleichzeitig war da eine tiefe, unmissverständliche Warnung in ihr.

„Ah, die Suche nach fantastischen Dingen, die eure Welt übersteigen...", sagte die Stimme langsam, als ob sie über jedes Wort nachdachte. „Ihr glaubt also, ihr habt das Richtige gefunden. Aber nur, weil ihr die Karte habt, bedeutet das nicht, dass ihr berechtigt seid, den wahren Weg zu gehen."

San spürte, wie sich ein unangenehmes Kribbeln über seinen Rücken legte. „Was heißt das?", fragte er zögerlich, aber seine Stimme verriet mehr Angst, als er zugeben wollte. „Wer sind Sie, und was wissen Sie über diese Karte?"

„Ich bin der Hüter dieses Turms. Derjenige, der darüber wacht, dass die, die hierher kommen, auch wirklich wissen, was sie tun", erklärte die Stimme mit einer Selbstverständlichkeit, die es schwer machte, sie zu hinterfragen. „Die Karte ist nur ein Schlüssel, aber der wahre Test kommt jetzt. Und du, Junge... du bist der erste, der erkennen muss, ob du bereit bist."

„Test?", fragte Yunho misstrauisch und trat einen Schritt nach vorne. „Was für ein Test? Wir sind nur hier, weil wir herausfinden wollen, was der Turm uns zeigt. Wir haben keinen Hintergedanken, außer zu entdecken, was hier verborgen liegt."

Ein leises Lachen erklang, jedoch war es kein freudiges Lachen, sondern ein düsteres, fast melancholisches Kichern. „Erkennen. Entdecken. Glaube mir, du wirst Dinge sehen, die ihr nicht erwartet habt. Dinge, die sich tief in euch verbergen und euch herausfordern werden."

Plötzlich begann der Boden unter ihren Füßen zu vibrieren, und ein sanftes, goldenes Licht flimmerte durch die Dunkelheit. Langsam, fast feierlich, wurde ein Pfad aus Licht vor ihnen sichtbar, der sich tief in das Innere des Turms erstreckte.

„Das ist der Weg. Ihr habt die Wahl", fuhr die Stimme fort. „Geht weiter und stellt euch dem Test. Oder dreht um, bevor ihr noch tiefer in das Geheimnis des Turms eindringt. Aber denkt daran: Was ihr hier entdeckt, wird euch verändern. Nicht jeder ist für diese Wahrheit bereit."

San spürte, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat. „Was, wenn wir scheitern? Was passiert, wenn wir den Test nicht bestehen?"

„Scheitern ist nur ein Schritt zum Verständnis. Doch die Frage ist: Was seid ihr bereit zu verlieren, um zu erfahren, was wirklich hinter diesem Turm liegt?"

Yunho blickte zu San, und in seinen Augen lag ein entschlossener Funken. „Ich weiß nicht, was uns erwartet, aber wir sind hier, um es herauszufinden. Und ich werde nicht einfach umdrehen."

San atmete tief ein, das leichte Zittern in seinen Händen war kaum zu übersehen. Doch er konnte Yunho ansehen, dass der Moment gekommen war. Sie waren hierher gekommen, um eine Antwort zu finden, und jetzt gab es kein Zurück mehr.

„Okay", flüsterte er. „Wir gehen weiter."

Mit einem letzten Blick auf den schimmernden Pfad, der sich vor ihnen ausbreitete, machten sie einen Schritt nach dem anderen, und der Turm schien sie zu verschlingen, als sie tiefer in das Dunkel vordrangen.

„Was ist jetzt passiert? Wann ist denn Tag geworden? Warum haben wir den Turm allgemein plötzlich verlassen?", fragte Yunho, als er seine Augen vor dem hellen, ihm entgegen schlagenden Sonnenlicht abschirmte.

Doch er erhielt keine Antwort.

Angst und Sorge machten sich in ihm breit, als er realisierte, dass er San's Hand plötzlich nicht mehr in seiner spürte. Als er sich auch umdrehte, um neben sich zu schauen, wo eigentlich San stehen sollte, sah er nichts als eine grüne Wiese und helles Sonnenlicht.

„San-ah?!", rief er fragend nach seinem Freund, doch erhielt er keine Antwort.

Obwohl sie beide ganz eindeutig gleichzeitig ins Tiefere des Turmes traten, waren sie nun plötzlich getrennt. Denn während Yunho sich scheinbar auf einer Wiese befand, wo hellstes Sonnenlicht auf die Erde hinabfiel, war San in einem seltsamen, engen und dunklen Raum gelandet.

„Yunho-Hyung?", fragte er, seine Stimme zitterte vor Angst.

Je länger San bewegungslos in diesem Raum stand und immer weiter nach seinem Freund rief, schien der Raum dunkler und dunkler zu werden. So dunkel, dass er fast schon beengend wirkte.

Der Test hatte begonnen.

San konnte das Gefühl der Enge fast körperlich spüren, als die Dunkelheit um ihn herum immer dichter wurde. Seine Füße schienen auf dem Boden zu kleben, der sich unter ihm zu verflüssigen schien, und die Wände des Raums rangen mit ihm um seine Bewegungsfreiheit. Jeder Atemzug fiel ihm schwerer, als wäre die Luft selbst gegen ihn.

„Yunho-Hyung! Wo bist du?!", rief er erneut, doch die Antwort blieb aus. Stattdessen hörte er ein leises Kratzen, das von den Wänden zu kommen schien, als ob sie selbst lebendig waren. Die Geräusche wurden immer lauter, fast wie Flüstern, doch er konnte nicht verstehen, was sie ihm sagen wollten.

Plötzlich blitzte etwas auf, ein schwaches, bläuliches Licht, das aus einer Ecke des Raumes schien. Es war so schwach, dass es eher ein Schein als ein echtes Licht war, aber es zog San magisch an. Er kämpfte gegen die Dunkelheit an und machte vorsichtige Schritte in die Richtung des Lichts.

Doch mit jedem Schritt schien der Raum sich zu verändern. Der Boden, der vorher fest unter seinen Füßen gestanden hatte, wurde jetzt weich und unbeständig, als ob er auf einem Ozean aus Nebel ging. San stolperte fast, als sich unter ihm der Boden verschob. In seiner Brust pochte ein Gefühl der Panik. „Was ist hier los?!"

Das Licht zog ihn weiter, und plötzlich stand er vor einer alten, verrosteten Tür. Sie war mit seltsamen Symbolen bedeckt, die sich in dem schwachen Licht verschoben. Es war eine Tür, die ihm bekannt vorkam, doch er wusste nicht wieso.

„Du bist also derjenige, der sich dieser Prüfung stellen will...", sagte eine Stimme aus dem Nichts, und diesmal konnte San sie klar und deutlich hören. Sie klang wie ein Echo aus der Vergangenheit, irgendwie vertraut und gleichzeitig bedrohlich.

„Was für eine Prüfung?", fragte San, seine Stimme zitterte. „Wo ist Yunho? Was ist mit ihm?"

„Eure Reise hat euch hierher geführt", antwortete die Stimme ruhig. „Und jetzt müsst ihr entscheiden, wer ihr wirklich seid. Ihr wollt etwas finden, aber was, wenn ihr das, was ihr entdeckt, nicht ertragen könnt?"

„Ich...", San schluckte schwer, doch er wusste, dass es kein Zurück gab. „Ich will wissen, was hinter diesem Turm liegt. Ich will wissen, was uns erwartet."

„Und bist du bereit, das zu opfern, was du für selbstverständlich hältst?"

San zögerte. „Opfern? Was meinst du damit?"

„Die Dunkelheit in dir ist wie der Raum, in dem du jetzt stehst. Du bist nicht allein in deinem Inneren. Es gibt Dinge, die du tief versteckt hast. Und jetzt ist der Moment gekommen, dich diesen zu stellen."

Bevor San weiter nachfragen konnte, öffnete sich die Tür vor ihm mit einem schrillen Geräusch, und er trat hindurch. Sofort wurde er von einem kalten Wind erfasst, der ihn auf eine weite, schier endlose Ebene führte. Die Sonne brannte vom Himmel, doch der Wind brachte eine Kälte mit sich, die sich tief in seine Knochen bohrte.

„San-ah?"

Die vertraute Stimme, die aus der Ferne zu ihm rief, ließ ihn erschrecken.

„Yunho?!", rief er aus, und der Raum um ihn herum verzerrte sich plötzlich. Doch als er sich umdrehte, stand Yunho nicht mehr neben ihm. Stattdessen war er selbst in einer anderen Welt gefangen – einer, in der nichts war, wie es schien.

Und da, in der endlosen, goldenen Landschaft, fühlte San plötzlich ein Dröhnen tief in seinem Inneren. Etwas war aufgestanden – etwas, das er längst vergessen hatte. Die wahre Prüfung hatte begonnen.

Yunho hatte ihn doch gerade noch gesehen. Seinen Freund. Er stand genau vor ihm. Noch vor einer Sekunde hätte er einfach nur ein paar Meter auf ihn zugehen müssen und ihn berühren können. Doch jetzt war er auf einmal weg. Spurlos verschwunden.

„Was passiert hier? Wo ist mein Freund?", fragte Yunho sorgvoll in die Leere der Wiese hinein, in der Hoffnung eine Antwort zu bekommen. Doch alles blieb still. Nur der Wind war zu hören.

Eine Wiese beheimatete so viele Lebewesen, doch hier gab es nichts. Keine Bäume, keine Blumen, keine Vögel, ja nicht mal Spinnen oder Insekten. Nur die grüne Wiese und die helle Sonne.

Es war, als wäre all das Leben erloschen. Einfach verschwunden.

Genau wie sein Freund.

Yunho fühlte sich, als ob der Boden unter ihm plötzlich unsicher geworden wäre, als ob die Welt um ihn herum immer leerer wurde. Die Weite der Wiese, die sich endlos erstreckte, fühlte sich erdrückend an, als ob sie ihn in ihrer Unendlichkeit erdrücken wollte. Es war, als ob der Raum um ihn herum ihn aussperrte, als ob er in einer blassen, leeren Version der Realität gefangen war.

„San!", rief er erneut, seine Stimme zitterte vor Sorge. „Wo bist du?"

Doch wieder kam keine Antwort. Nur das sanfte Rauschen des Windes, der durch das hohe Gras strich. Kein Rascheln, kein Geräusch von Leben. Es war, als ob er in einer anderen Dimension stand – einer, in der er der einzige lebende Mensch war, der noch übrig war.

Seine Schritte wurden langsamer, als er sich weiter über die Wiese bewegte, auf der Suche nach einem Zeichen. Doch egal wohin er ging, alles blieb unverändert. Die Sonne brannte heiß auf seinen Nacken, und doch war es ihm, als ob der ganze Ort nicht wirklich existierte. Als ob die Wiese sich nur einbildete und die Welt um ihn herum in eine Illusion getaucht war.

„Was ist das für ein Ort?", fragte er sich, während sein Herz immer schneller schlug. Er konnte die Dunkelheit, die ihn übermannte, nicht abschütteln. Irgendetwas war hier falsch, und er wusste, dass er sich beeilen musste, um herauszufinden, was mit San geschehen war.

Plötzlich hörte er ein Geräusch – ein leises, fast unmerkliches Flüstern. Es kam aus dem hohen Gras, und es klang wie eine Stimme, die seinen Namen rief. „Yunho..."

„San?", flüsterte Yunho, seine Stimme war ein Mischung aus Hoffnung und Angst. „Bist du es?"

Doch die Antwort war unklar, und als er in die Richtung des Flüsterns eilte, sah er nur eine weitere Leere. Die Stimme hatte ihn getäuscht.

„Verdammt!" Er schlug mit der Faust in den leeren Raum, seine Wut mischte sich mit der verzweifelten Sorge um seinen Freund. „Was ist hier los? Was passiert mit uns?"

Wieder war es still. Doch diesmal fühlte er etwas anderes – ein Ziehen, ein Drängen, als ob der Boden sich unter seinen Füßen bewegte. Die Wiese, die eben noch ruhig war, schien sich nun zu verändern.

Langsam drehte sich Yunho um. Und als er wieder nach vorne blickte, sah er eine dunkle, schattenhafte Silhouette, die sich am Rand der Wiese abzeichnete. Zuerst nur ein Schatten, dann eine Gestalt, die sich langsam zu ihm bewegte. Sie war von einer gespenstischen Aura umgeben, die ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ.

„Was willst du von mir?" Yunho konnte den Kloß in seinem Hals kaum herunterwürgen, als er die Gestalt betrachtete. „Wo ist San?"

Die dunkle Gestalt blieb stehen, und in dem Moment, als sie aus der Schattenwelt hervortreten konnte, hörte Yunho die Antwort in seinem Kopf, noch bevor die Gestalt den Mund öffnete: „Du hast die Grenze überschritten, Yunho. Und jetzt musst du lernen, was es bedeutet, das zu verlieren, was du für selbstverständlich gehalten hast."

„Nein", flüsterte Yunho, als er versuchte, die Gestalt zu ignorieren und nach einem Ausweg zu suchen. „Ich werde nicht aufgeben. Ich werde ihn finden."

Doch das Wesen trat näher. „Bist du bereit, alles zu verlieren?" fragte es mit einer Stimme, die zugleich alt und neu klang. „Denn was du suchst, könnte mehr verlangen, als du dir je hättest vorstellen können."

Yunho zögerte. In diesem Moment wusste er, dass er eine Entscheidung treffen musste – eine, die ihn für immer verändern würde.

Die Gestalt vollzog mit seinen Armen und Händen für Yunho willkürlich scheinende Bewegungen, als plötzlich eine Art Vision vor seinem inneren Auge aufblitzte.

Er sah San, wie dieser seine Beine eng an seinen Körper gezogen hatte und in einer Ecke eines dunklen Raumes kauerte. Er hielt sich die Ohren zu, hatte seine Augen zusammengekniffen und sprach zu sich selbst: „Das ist nicht real. Das ist alles nur eine Illusion. Du musst stark bleiben. Nur so kannst du zu deiner Familie zurückkehren. Yunho wartet auf dich. Seonghwa und Hongjoong machen sich Sorgen um euch beide und werden euch definitiv zusammenstauchen, bis ihr nicht mehr wisst, wie euch geschieht. Du musst noch herausfinden, ob Wooyoung und Jongho jemals erwachsen werden, oder ob sie sich bis zu ihrem Tod Beleidigungen und Beschimpfungen an den Kopf hauen, obwohl sie sich eigentlich lieben."

„Dein Freund hat sich der Prüfung gestellt und muss sich nun Höllenqualen stellen, um sich selbst und dich aus diesem Turm zu befreien. Denn von nun an heißt es: Besteht ihr die Prüfung, könnt ihr unseren mystischen Ort besuchen und mitnehmen, was auch immer euer Herz begehrt. Besteht ihr die Prüfung nicht, werdet ihr das verlieren, was euch am meisten bedeutet.", belehrte die Stimme Yunho. „Eure Familie."

Yunho spürte, wie sich seine Kehle zuschnürte. Die Vision von San, der allein in der Dunkelheit kauerte, brannte sich in sein Bewusstsein ein, wie ein unauslöschliches Bild. Das Zittern in San's Stimme, die Worte, die er sich immer wieder vorsagte, um sich Mut zu machen – all das riss Yunho beinahe den Boden unter den Füßen weg.

„Das ist nicht fair!", schrie Yunho die Gestalt an, die ruhig und regungslos vor ihm stand. „Warum tut ihr uns das an? Wir haben euch nichts getan! Wir haben einfach nur nach Antworten gesucht!"

Die Gestalt schien unbeeindruckt von seiner Wut. Statt einer Antwort hob sie langsam eine Hand und deutete auf Yunho. In diesem Moment fühlte er sich, als würde die Zeit stillstehen.

„Es geht nicht um Fairness", sagte die Stimme kalt. „Es geht darum, was ihr bereit seid zu opfern, um zu bekommen, was ihr begehrt. Euer Freund hat sich entschieden, sich seiner tiefsten Angst zu stellen. Nun bist du an der Reihe. Wenn du ihn retten willst, musst du beweisen, dass du bereit bist, dasselbe zu tun."

Yunho schüttelte den Kopf, Angst und Wut kämpften in ihm um die Oberhand. „San ist mein Freund, mein Bruder! Natürlich werde ich alles tun, um ihn zu retten! Aber warum muss er leiden, während ich hier feststecke?"

„Das ist die Prüfung", sagte die Stimme ruhig. „Er kämpft mit seinen Dämonen. Und du wirst mit deinen konfrontiert werden."

Noch bevor Yunho protestieren konnte, verdunkelte sich die Welt um ihn. Das helle Sonnenlicht verschwand, die grüne Wiese löste sich auf, und er fand sich plötzlich in einem Raum wieder, der San's dunklem Verlies unheimlich ähnelte.

Doch hier war es anders. Der Raum war leer, aber nicht still. Flüsternde Stimmen umgaben ihn, zu leise, um sie zu verstehen, und doch so eindringlich, dass sie ihm unter die Haut gingen. Sie kamen von überall und nirgends, zogen ihn in eine immer größere Verzweiflung.

„Was ist das?", flüsterte Yunho, sein Herz raste.

„Das sind deine Ängste", erklang die Stimme der Gestalt wieder, diesmal direkt in seinem Kopf. „Alles, was du verdrängt hast. Alles, was du fürchtest, steht dir jetzt gegenüber."

Plötzlich materialisierten sich Schatten an den Wänden des Raums. Es waren keine festen Formen, sondern verschwommene Gestalten, die immer wieder zwischen bekannten und unbekannten Gesichtern wechselten. Yunho sah seinen Vater, der ihn streng ansah, seine Freunde, die ihn mit enttäuschten Blicken anstarrten, und schließlich sich selbst – zerbrochen, schwach und allein.

„Ich...", begann Yunho, doch seine Stimme brach ab. Die Schatten kamen näher, und die Flüstern wurden lauter, bis sie zu einem schreienden Crescendo anschwollen.

„Du kannst nicht beschützen, was dir wichtig ist."
„Du bist zu schwach."
„Du wirst scheitern, und San wird allein sterben."

„Nein!", schrie Yunho, die Hände auf die Ohren gepresst. Doch die Stimmen verstummten nicht. Sie schienen direkt in seinen Geist einzudringen, als wollten sie ihn brechen.

Inmitten dieses Chaos tauchte ein weiteres Bild vor seinem inneren Auge auf. San, immer noch in dem dunklen Raum, doch diesmal sah er aus, als hätte er aufgegeben. Er saß regungslos da, seine Augen leer, seine Haltung kraftlos.

„Nein", flüsterte Yunho erneut, diesmal jedoch mit einer anderen Entschlossenheit in der Stimme. „Das wird nicht passieren."

Er richtete sich auf, ballte die Fäuste und schrie in die Dunkelheit: „San! Ich lasse dich nicht allein! Hörst du? Egal, was ihr mir zeigt, ich werde nicht aufgeben! Ich werde dich finden, und wir gehen hier zusammen raus!"

Die Schatten zögerten, als ob sie von Yunho's Entschlossenheit beeindruckt wären. Das Crescendo der Stimmen begann zu schwinden, und plötzlich spürte Yunho eine Wärme in seiner Brust. Eine Erinnerung: San, der ihn immer wieder aufmunterte, der nie aufgab, egal wie schwierig es war.

„Ich bin nicht allein", sagte Yunho, seine Stimme fester. „Wir sind ein Team. Und ich werde dich niemals im Stich lassen."

Die Dunkelheit begann zu weichen, die Schatten verschwanden, und Yunho spürte, wie er zurück in die Realität gezogen wurde. Als er blinzelte, sah er wieder die Wiese, doch diesmal war sie anders. In der Ferne konnte er eine Silhouette sehen – San.

„San!", rief Yunho, Tränen der Erleichterung liefen über sein Gesicht. Er rannte los, bereit, alles zu tun, um seinen Freund zu erreichen.

Er rannte auf ihn zu und wollte ihn fest in seine Arme nehmen. Ihm den Halt und die Wärme geben, die er sich verdient hatte und nach der sich Yunho selbst sehnte.

Als er nah genug an dem Jüngeren war, streckte er seine Arme aus, doch griff ins Leere. Erneut verschwand er direkt vor Yunho's Augen, was ihm den Rest gab. Tränen bildeten sich in seinen Augen, als er realisierte, dass dies wieder nur eine Illsuion war. Ein gemeiner Trick, um ihn zu brechen.

Weinend fiel er auf den Boden und murmelte: „Warum tust du uns das an? Ich habe mich meinen Dämonen gestellt und sie besiegt. Bitte gib mir meinen Freund zurück."

Die Wiese schien für einen Moment zu erstarren, als ob selbst die Welt den Schmerz in Yunho's Stimme spürte. Der Wind, der eben noch sanft durch das Gras gestrichen war, legte sich, und eine unheimliche Stille breitete sich aus.

Yunho kniete dort, erschöpft und gebrochen, die Tränen liefen ihm unaufhörlich über die Wangen. Es war nicht nur die Verzweiflung, die ihn niederdrückte, sondern auch die unerbittliche Frage in seinem Herzen: Was, wenn er San wirklich verloren hatte? Was, wenn all das nur dazu diente, ihn endgültig zu zerstören?

„Bitte...", flüsterte er kaum hörbar, sein Gesicht in den Händen vergraben. „Ich werde alles tun. Alles, was nötig ist. Nur bringt San zurück."

In diesem Moment veränderte sich etwas. Ein tiefes, hallendes Geräusch durchzog die Luft, als ob der Boden unter ihm lebendig wurde. Yunho hob langsam den Kopf, Tränen schimmernd in seinen Augen, und blickte auf. Vor ihm formte sich die Gestalt wieder, dieselbe, die ihn durch diese Prüfung geführt hatte. Doch diesmal schien sie weniger bedrohlich, fast... nachdenklich.

„Du hast Stärke gezeigt", sprach die Gestalt, ihre Stimme war leiser, weniger kalt als zuvor. „Und dennoch suchst du immer noch nach dem, was dir am meisten bedeutet. Warum? Nach allem, was du gesehen hast, nach all dem Schmerz, den du erlebt hast, warum gibst du nicht einfach auf?"

Yunho schluckte schwer, seine Stimme war brüchig, aber ehrlich. „Weil San nicht nur mein Freund ist. Er ist meine Familie. Er hat nie aufgegeben, nicht bei mir, nicht bei irgendjemandem. Und ich werde ihn nicht aufgeben. Nicht jetzt, nicht jemals."

Die Gestalt schwieg eine Weile, als ob sie über seine Worte nachdachte. Dann, mit einer Bewegung ihrer Hand, begann die Wiese sich erneut zu verändern. Das Gras wich zurück, und vor Yunho öffnete sich ein Durchgang, eine Art Portal, das von einem sanften, goldenen Licht erfüllt war.

„Das ist deine letzte Chance", sagte die Gestalt. „Gehe hindurch, und du wirst ihn finden. Aber sei gewarnt: Dies ist kein einfacher Weg. Es wird alles fordern, was du noch übrig hast."

Yunho stand auf, seine Beine zitterten vor Erschöpfung, doch in seinen Augen lag Entschlossenheit. „Ich gehe. Egal, was kommt."

Mit einem letzten Blick auf die Gestalt trat er in das Portal und wurde vom goldenen Licht verschluckt.

Als Yunho die Augen öffnete, fand er sich in einem Raum wieder, ähnlich dem, den er in der Vision gesehen hatte. Dunkel, bedrückend, doch diesmal fühlte er eine vertraute Präsenz.

„San?" Seine Stimme hallte in der Stille wider.

Ein schwaches Geräusch – ein Schluchzen. Yunho wirbelte herum und sah ihn: San, zusammengerollt in einer Ecke, die Hände über den Kopf gelegt.

„San!", rief Yunho, rannte zu ihm und kniete sich neben ihn. „Ich bin hier! Es ist vorbei, ich habe dich gefunden!"

San hob langsam den Kopf, seine Augen rot und voller Tränen. Als er Yunho erkannte, begann sein Körper vor Erleichterung zu zittern. „Hyung... Du bist echt? Das ist keine Täuschung?"

„Ich bin echt", sagte Yunho mit einem sanften Lächeln, obwohl auch ihm Tränen über das Gesicht liefen. „Und ich lasse dich nie wieder allein."

Er zog San in eine feste Umarmung, beide zitterten vor Erschöpfung, aber in diesem Moment war alles andere egal. Sie hatten einander gefunden, und das war alles, was zählte.

In der Dunkelheit des Raums begann ein schwaches Licht zu leuchten, und für einen Moment schien es, als ob der Turm selbst ihre Verbindung anerkannt hatte. Doch sie wussten, dass die Prüfung noch nicht vollständig vorüber war. Der wahre Weg lag noch vor ihnen – aber sie würden ihn gemeinsam gehen.

„Was erwartet uns wohl, wenn wir uns diesem Licht nähern?", fragte San mit noch immer vom Weinen zitternder Stimme, als Yunho ihm auf die Beine half. „Das werden wir erst wissen, wenn wir uns ihm stellen.", entgegnete Yunho, der sich schniefend die letzten Tränen von den Wangen wischte. „Ich habe Angst.", fügte er noch hinzu.

Er hatte Angst, dass er nochmal durch diesen Schmerz gehen musste, eine ihm geliebte Person leiden sehen zu müssen und ihr nicht beistehen zu können.

San zwang sich trotz der noch immer über seine Wangen laufenden Tränen zu einem aufmunternden Lächelnd, als er sprach: „Ich habe auch Angst. Aber sieh dir an, wie weit wir es alleine geschafft haben. Zusammen werden wir es noch weiter schaffen."

Zustimmend nickte Yunho.

Gemeinsam gingen sie auf das Licht zu, die Hand des Anderen dieses Mal noch fester in der Eigenen, als zu dem Zeitpunkt, in dem sie sich der ersten Prüfung gestellt hatten.

Das Licht wurde intensiver, je näher sie kamen, bis es fast blendend war. Doch weder San noch Yunho hielten inne. Sie hatten zu viel durchgemacht, um jetzt zurückzuweichen. Ihre Schritte hallten in der Stille, und die Dunkelheit hinter ihnen schien von der Helligkeit verschlungen zu werden.

„Bist du bereit?", fragte Yunho leise, kurz bevor sie das Licht erreichten.

San drückte seine Hand fester. „Nein. Aber wir gehen trotzdem."

Als sie die Schwelle überschritten, spürten sie einen kurzen Moment der Schwerelosigkeit, wie ein Fall in eine andere Welt. Als das Licht nachließ, fanden sie sich in einem völlig neuen Raum wieder.

Er war gewaltig, wie eine riesige Halle, deren Wände und Decke in einem sanften, schimmernden Blau leuchteten. Überall um sie herum schwebten leuchtende Fragmente – Erinnerungen, Bilder von Leben, die sie nicht kannten. Es war, als würde der Raum die Geschichten aller Menschen bewahren, die jemals den Turm betreten hatten.

„Das ist... unglaublich", flüsterte San ehrfürchtig, als er einen der schwebenden Fragmente betrachtete. Darin sah er eine Szene von zwei Menschen, die sich lachend in den Armen lagen.

„Es sieht so friedlich aus", murmelte Yunho. Doch bevor sie sich weiter umsehen konnten, ertönte wieder eine Stimme. Diesmal war sie jedoch anders – weicher, weniger bedrohlich.

„Ihr habt euch den Prüfungen gestellt und einander nicht aufgegeben. Doch eure Reise ist noch nicht beendet."

Die Stimme schien aus der Luft selbst zu kommen. Vor ihnen formte sich eine neue Gestalt, dieses Mal in einem reinen, strahlenden Weiß. Es war weder bedrohlich noch einladend, sondern schlicht – neutral.

„Wer bist du?", fragte Yunho vorsichtig, während San einen Schritt zurückwich, aber seine Hand nicht losließ.

„Ich bin der Hüter dieses Ortes", antwortete die Gestalt. „Die Prüfungen, denen ihr euch gestellt habt, waren nur der Anfang. Sie dienten dazu, eure Entschlossenheit und euer Band zu testen. Doch die wichtigste Entscheidung steht euch noch bevor."

„Welche Entscheidung?", fragte San, seine Stimme schwach, aber neugierig.

„Ihr dürft wählen", erklärte der Hüter. „Ihr könnt eure Reise hier beenden. Der Turm wird euch nach Hause bringen, sicher und unversehrt, doch ohne die Antworten, die ihr sucht. Oder..."

„Oder?", drängte Yunho.

„Oder ihr tretet die letzte Prüfung an. Sie wird euch das offenbaren, was ihr gesucht habt, und mehr. Doch sie birgt das größte Risiko. Sie wird alles von euch fordern."

San sah zu Yunho hinüber, und ihre Blicke trafen sich. Beide wussten, was das bedeutete. Eine Wahl zwischen Sicherheit und dem Ungewissen – zwischen Rückzug und Mut.

Yunho sprach zuerst. „Ich habe nicht all das durchgemacht, um jetzt umzukehren. Ich will wissen, was dieser Ort ist. Warum er uns getestet hat."

San zögerte, doch schließlich nickte er. „Zusammen, egal was kommt."

Die Gestalt schwieg einen Moment, dann öffnete sich hinter ihr eine neue Tür, umgeben von goldenem Licht.

„Dann tretet ein. Möge euer Wille euch führen."

Die Freunde traten langsam auf die Tür zu und warfen sich noch einen letzten, mutmachenden und zuversichtlichen Blick zu, ehe sie gemeinsam über die Schwelle treten und plötzlich in einem ihm bekannten Ort landeten.

Ihr Zuhause. Eine kleine Hütte am Waldrand, in welcher sie wohnten.

Alles, was sie kannten, war da. Ihre Betten, ihre Küche, ihr Wohnzimmer und ihr Garten. Doch das Wichtigste: Alle Menschen, die ihnen etwas bedeuteten und die diese Hütte überhaupt erst zu einem Zuhause machten, ihre Familie, war auch da.

So, wie Yunho und San es gewohnt waren, nervte Wooyoung Jongho, welcher alles, was Wooyoung tat, mit sich machen ließ. Mit einem Gesichtsausdruck, der deutlich machte, dass Jongho zwar genervt, aber es für ihn auch normal war. Alltag eben. Bis ihm der Geduldsfaden dann doch riss und er begann Wooyung zu beschimpfen und sich über ihn beschwerte. Sie sahen Seonghwa und Hongjoong, die diese Szene einfach mit einem genervten aber auch zufriedenen Lächeln beobachteten. Sie sahen, wie Mingi und Yeosang, ihre Nachbarn und Freunde, sie besuchten und sie alle acht gemeinsam zu Abend aßen.

„Was soll das bloß für eine Prüfung werden?"

San und Yunho sahen sich um, ihre Verwirrung wuchs mit jedem Detail, das sie erkannten. Es war perfekt. Zu perfekt. Alles schien so friedlich, so vertraut, doch tief in ihrem Inneren wussten sie, dass dies keine einfache Rückkehr war.

„Das kann nicht echt sein", flüsterte San, während er sich langsam umdrehte, die vertrauten Möbel betrachtete und die Stimmen ihrer Freunde hörte. „Es fühlt sich so real an, aber... wir waren doch gerade noch im Turm."

Yunho nickte, seine Augen waren auf die fröhliche Szene gerichtet, die sich vor ihnen abspielte. „Es ist eine Illusion", sagte er leise. „Es muss eine Prüfung sein. Der Hüter hat gesagt, dass es die letzte sein wird. Vielleicht will er testen, ob wir erkennen können, was real ist und was nicht."

In diesem Moment trat Seonghwa zu ihnen heran, ein sanftes Lächeln auf seinen Lippen. „Ihr zwei. Wo wart ihr so lange? Ihr habt uns Sorgen gemacht."

Yunho öffnete den Mund, doch bevor er etwas sagen konnte, umarmte Seonghwa sie beide fest. „Aber jetzt seid ihr hier. Das ist alles, was zählt."

Die Umarmung fühlte sich so echt an, so warm, dass Yunho für einen Moment den Zweifel spürte. Was, wenn es wirklich vorbei war? Was, wenn sie es geschafft hatten und dies der Lohn für ihre Prüfungen war?

Doch San zog ihn leicht am Ärmel. „Hyung", flüsterte er. „Das stimmt alles nicht."

„Woher weißt du das?", fragte Yunho, obwohl er tief in seinem Inneren bereits die Antwort kannte.

San deutete auf Wooyoung und Jongho, die sich immer noch zankten. „Schau sie dir an. Wooyoung hat nie so lange die Oberhand, ohne dass Jongho irgendwann ausrastet. Und Mingi und Yeosang? Die würden nie zu Besuch kommen, ohne dass Mingi zuerst über das Essen meckert."

Yunho lächelte leicht, trotz der Anspannung. „Klingt nach Mingi."

„Genau", fuhr San fort, seine Stimme fester. „Das hier ist ein schöner Traum, aber es ist nicht unser Zuhause. Es fühlt sich nicht... lebendig an."

Die Worte hallten in Yunho nach, und langsam löste er sich von Seonghwa, der sie immer noch ansah, als ob er wüsste, dass sie etwas erkannt hatten.

„Das ist nicht echt", sagte Yunho schließlich laut und entschlossen.

In dem Moment, als er diese Worte sprach, begann die Umgebung zu flackern. Die Hütte, ihre Freunde, sogar die vertrauten Geräusche des Waldes draußen – alles begann zu verblassen.

„Ihr habt gut erkannt, was Wahrheit ist und was Illusion", erklang die Stimme des Hüters erneut, als die Szene endgültig zerfiel und sie sich wieder in der schimmernden Halle des Turms befanden.

San und Yunho atmeten schwer, ihre Hände immer noch fest ineinander verschlungen. „Das war unfair", murmelte San. „Das war... grausam."

„Vielleicht", antwortete der Hüter, seine Gestalt wieder vor ihnen auftauchend. „Doch die größte Stärke liegt oft darin, der Illusion von Perfektion zu widerstehen. Ihr habt erkannt, dass das, was ihr liebt, nicht ohne Fehler ist – und dass es gerade diese Fehler sind, die es real machen. Das war eure letzte Prüfung."

„Haben wir... bestanden?", fragte Yunho zögernd.

Die Gestalt lächelte – oder zumindest glaubten sie das. „Ja. Willkommen in der Welt, die ihr gesucht habt."

Mit einer letzten Bewegung der Hand öffnete der Hüter eine neue Tür, strahlender als alle zuvor. Dahinter lag etwas, das sie beide sprachlos machte: eine endlose, lebendige Welt voller fantastischer Wesen, strahlender Farben und leuchtender Sterne am Himmel.

Es war keine Illusion. Es war echt. Und sie hatten es zusammen erreicht.

„Willkommen in Myosotis.", vernahmen die Freunde noch die Stimme des Hüters, als sie durch die Tür traten.

„Sind das da oben Pegasi?", fragte San ungläubig, als er in dem blauen Himmel die fliegenden Pferde ausmachen konnte. „Ja, sind es. Und sieh nur. Da vorne sind Einhörner.", wies Yunho auf die pferdähnlichen Fabelwesen, welche nur wenige Meter von ihnen entfernt waren und grasten.

Immer weiter trauten sie sich in die Welt hinein und konnten ihren Augen nicht trauen. Immer mehr Fabelwesen begegneten ihnen. Feen, Elfen, Trolle, Meerjungfrauen und und und.

„Ist diese Welt nicht ein bisschen zu perfekt?", fragte San skeptisch.

Yunho blieb stehen und betrachtete die schillernde Umgebung. „Vielleicht", sagte er nachdenklich. „Aber wir haben uns diesen Ort verdient, oder? Wir haben die Prüfungen bestanden. Der Hüter hat uns hierher geführt."

San nickte langsam, doch sein skeptischer Ausdruck blieb. „Ich weiß nicht. Es ist alles so... friedlich. Keine Konflikte, keine Spuren von Gefahr. Das ist doch nicht realistisch, oder? Jede Welt hat doch auch ihre Schattenseiten."

Yunho legte ihm eine Hand auf die Schulter. „San-ah, wir sind gerade erst angekommen. Vielleicht gibt es hier Herausforderungen, die wir noch nicht sehen können. Aber nach allem, was wir durchgemacht haben, finde ich, wir sollten uns erlauben, das hier einfach mal zu genießen."

San wollte etwas erwidern, als plötzlich ein kräftiger Windstoß durch die Luft fegte. Die Pegasi kreisten unruhig, die Einhörner hoben ihre Köpfe, und die Feen, die zuvor fröhlich tanzten, flogen hektisch davon.

„Was war das?", fragte Yunho, als sich der Himmel in der Ferne verdunkelte.

Eine tiefe, raue Stimme erklang plötzlich, so laut, dass sie die Luft selbst zum Vibrieren brachte: „Ihr seid die Ersten seit Jahrhunderten, die es hierher geschafft haben. Doch Perfektion fordert ihren Preis."

San und Yunho drehten sich hektisch um, suchten nach der Quelle der Stimme, doch sie sahen nichts außer den sanft schwingenden Gräsern der Wiese.

„Was... was meint er mit ‚Preis'?", fragte San, die Angst in seiner Stimme deutlich hörbar.

Yunho schüttelte den Kopf, griff instinktiv nach dem Dolch in seiner Tasche. „Ich weiß es nicht. Aber ich glaube, diese ‚perfekte' Welt hat gerade ihre erste Schattenseite gezeigt."

Die Dunkelheit am Horizont wurde dichter, und ein dumpfes Grollen drang zu ihnen herüber. Es klang wie Donner – oder wie das Knurren eines gigantischen, hungrigen Wesens.

„Los, wir müssen einen sicheren Ort finden!", rief Yunho und packte San am Handgelenk. Zusammen rannten sie in Richtung eines Waldes, der am Rand der Wiese lag.

Die friedliche Illusion von Myosotis begann zu zerbröckeln, und die Freunde wussten, dass sie noch längst nicht alles gesehen hatten, was diese Welt zu bieten hatte – weder das Gute noch das Böse.

Das Grollen wurde immer lauter, während die Freunde versuchten sich unter den Wipfeln der Bäume des Waldes in Sicherheit vor dem — was auch immer der Grund für die Störung dieser friedlichen Welt war — zu bringen.

Plötzlich vernahm San ein leises Knurren, weshalb er Yunho am Handgelenk festhielt und leise sprach: „Warte. Ich habe was gehört."

San kniff seine Augen etwas zusammen, um genauer einen Busch zu inspizieren, aus welchem er glaubte das Knurren vernommen zu haben.

Als auf einmal zwei orange-gelbe Augen durch den Busch aufglühten.

„Ein Wolf.", flüsterte er leise. Augenblicklich riss Yunho seine Augen auf und sah seinen Freund ungläubig an. „Ein was?", fragte er. „Gehe langsam rückwärts auf den Baum zu und klettere so weit nach oben, wie du nur kannst.", sprach San in einer ruhigen Tonlage, um den Wolf im Glauben zu lassen, sie hätten ihn nicht bemerkt.

Yunho tat, was sein Freund ihm sagte und ging langsam rückwärts auf den Baum zu. Als Yunho am Baum angekommen bereits auf den ersten Ast geklettert war, machte der Wolf einen Satz nach vorne und rannte auf San, der noch immer auf dem Boden stand, zu.

„Gib mir deine Hand!", schrie Yunho, was sich sein Freund nicht zwei Mal sagen ließ. Im letzten Moment konnte Yunho San mit auf den Baum ziehen. Gemeinsam kletterten sie so schnell und so weit wie nur möglich nach oben. Auch der Wolf versuchte ihnen mithilfe seiner Krallen auf den Baum zu folgen, doch gab es irgendwann auf. Eine Weile schlich er noch um den Baumstamm herum, bis er sich dann doch lieber eine andere Beute suchte.

„Tja, da wären wir wieder auf einem Baum.", versuchte San mit einem schiefen Lächeln die Atmosphäre etwas aufzulockern, was auch klappte.

Sie hatten sich zwar nun vor dem Wolf in Sicherheit gebracht, aber das Grollen war noch immer zu hören und noch immer wussten sie nicht, warum es grollte und wovor genau die ganzen Tiere überhaupt Angst hatten.

„Wenn wir schon einmal hier oben sind, lass uns noch etwas höher klettern. Vielleicht können wir von der Baumspitze aus sehen, was der Grund für diesen Lärm ist.", schlug Yunho lächelnd vor, was sein Freund abnickte.

Gemeinsam kletterten sie nun also im Schutz der Baumkrone, Ast für Ast weiter nach oben, bis sie einen relativ guten Überblick hatten.

In der Ferne war der Himmel nun so dunkel, als würde es jeden Moment einen Regenschauer oder Hagelsturm geben. Yunho und San Kniffen ihre Augen zusammen, um so weit wie möglich schauen zu können.

„Siehst du da hinten diese Felsformation? Ist das ein Turm aus Felsen?", fragte San nachdenklich. „Ich weiß es nicht. Aber es scheint fast so, als würde diese dunkle, kahle Stelle der Grund für dieses Grollen sein."

Yunho ließ seinen Blick weiter über die Landschaft schweifen, während das Grollen in der Ferne unaufhörlich anhielt. „Es ist fast so, als wäre die Dunkelheit eine Art... Wunde in dieser Welt", sagte er leise, seine Stirn gerunzelt.

San nickte, seine Augen immer noch auf die Felsformation gerichtet. „Und sie wird größer. Siehst du das? Die Dunkelheit breitet sich aus, als würde sie alles Leben verschlingen."

Die beiden schwiegen, während sie das unheimliche Schauspiel beobachteten. Vögel, die zuvor noch in der Nähe der dunklen Zone flogen, wichen jetzt hastig zurück. Die Pegasi, die sie vor Kurzem noch bewundert hatten, flogen in die entgegengesetzte Richtung, weit weg von der bedrohlichen Dunkelheit.

„Wenn diese Welt wirklich perfekt sein soll, warum gibt es dann so etwas wie... das?", fragte San.

„Vielleicht ist das der Preis, von dem der Hüter gesprochen hat", mutmaßte Yunho. „Nichts kann perfekt bleiben. Vielleicht kämpft diese Welt gegen etwas, das wir nicht verstehen."

San seufzte und lehnte sich gegen den Baumstamm. „Und was sollen wir tun? Wir sind keine Helden, Yunho. Wir wollten doch nur... sehen, ob der Mythos wahr ist."

Yunho legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Vielleicht sind wir keine Helden. Aber wir sind hier. Und wenn wir nichts tun, könnte diese Dunkelheit auch den Rest von Myosotis erreichen – und alles zerstören."

San schaute seinen Freund an, seine Augen voller Unsicherheit, aber auch mit einem Funken Hoffnung. „Also... gehen wir dorthin? Zur Felsformation?"

Yunho lächelte schwach, auch wenn seine Nerven angespannt waren. „Wir haben es bis hierhin geschafft. Wenn wir zusammenhalten, können wir auch das schaffen."

San nickte, auch wenn er immer noch zögerte. „Na gut. Aber zuerst müssen wir irgendwie von diesem Baum runterkommen, ohne wieder von einem Wolf angefallen zu werden."

Yunho grinste. „Das kriegen wir hin. Und falls der Wolf wiederkommt, zeige ich ihm, dass wir keine leichte Beute sind."

Gemeinsam kletterten sie vorsichtig vom Baum, immer darauf bedacht, den Boden erst zu betreten, wenn sie sicher waren, dass der Wolf tatsächlich verschwunden war. Sobald sie wieder festen Boden unter den Füßen hatten, machten sie sich auf den Weg in Richtung der Felsformation.

Je näher sie der Dunkelheit kamen, desto schwerer wurde die Luft, fast so, als ob die Welt selbst den Atem anhielt. Das Grollen wurde lauter, durchdrang nun ihre Körper und ließ die Erde leicht vibrieren.

„Ich habe das Gefühl, dass wir hier etwas finden, was wir nicht finden wollten", murmelte San, als sie die ersten kahlen, verdorrten Pflanzen erreichten, die wie verkrüppelte Finger aus dem Boden ragten.

Yunho blieb kurz stehen, sah San an und nickte dann. „Vielleicht. Aber jetzt gibt es kein Zurück mehr."

Zusammen traten sie in die Zone der Dunkelheit, bereit, dem Ursprung dieses unheimlichen Phänomens entgegenzutreten – was auch immer das bedeuten würde.

Je näher sie der Felsformation kamen, desto mehr schien jedes Leben zu verschwinden. Das Gras wurde dunkler, abgestorbene Blumen wurden durch seltsame Dornen ersetzt und Tiere waren schon lange nicht mehr zu sehen.

„Das ist gruselig. Das ist kein gutes Zeichen, Hyung. Was wird uns wohl erwarten?", fragte San den Älteren, während sie sich immer weiter vor trauten, doch unter keinen Umständen auch nur einen Meter von der Seite des Anderen wichen.

„Ich weiß es nicht, San-ah. Pass auf die Dornen auf. Wenn du dich verletzt, wird Seonghwa mich umbringen." Ein Lachen entfällt dem Jüngeren nach den Worten seines Freundes. „Ernsthaft? Darüber machst du dir gerade Gedanken?", lachte San kopfschüttelnd. „Nichts ist beängstigender als ein wütender Seonghwa. Das weißt du genau so gut wie ich, San-ah."

Mit einem amüsierten Lächeln schüttelte San seinen Kopf, während sie weiter liefen, bis sie an der seltsamen Felsformation, die sie aus der Ferne sehen konnten, ankamen.

„Siehst du das, San? Es scheint ganz so, als würde eine Art grüner Nebel aus diesem Felsturm kommen, der für den dunklen Himmel sorgt."

San trat vorsichtig näher an die Felsformation heran, die bei jedem Schritt bedrohlicher wirkte. Der grüne Nebel schien aus kleinen Spalten und Rissen im Fels zu quellen, wie ein atmendes, lebendiges Wesen. Er zog in langsamen, unheilvollen Wellen durch die Luft und schien die Dunkelheit um sie herum zu nähren.

„Das... sieht nicht aus wie etwas, das natürlich entstanden ist", murmelte San und rückte näher an Yunho heran. „Dieser Nebel fühlt sich an, als würde er alles ersticken."

Yunho nickte ernst. „Vielleicht ist das der Ursprung der Dunkelheit. Wenn wir ihn stoppen können... könnte die Welt vielleicht wieder normal werden."

„Aber wie? Wir wissen nicht einmal, was dieser Nebel ist, geschweige denn, wie wir damit umgehen sollen", entgegnete San nervös und umklammerte unwillkürlich den Dolch in seiner Manteltasche.

Yunho blieb stehen und betrachtete den Felsturm genauer. „Siehst du die Risse? Es scheint, als würde der Nebel von innen herauskommen. Vielleicht gibt es etwas in diesem Turm, das die Dunkelheit verursacht."

San seufzte tief und ließ seinen Blick über die unheimliche Formation gleiten. „Natürlich. Wir müssen hinein, oder?"

Yunho lächelte schwach. „Haben wir jemals einen leichten Weg gewählt?"

San schüttelte den Kopf, ein halbes Lächeln auf den Lippen. „Nein, haben wir nicht."

Die Freunde näherten sich vorsichtig dem Turm und suchten nach einem Eingang. Nach einigen Minuten fanden sie einen schmalen Spalt, der groß genug war, dass sie sich hindurchzwängen konnten.

„Bereit?", fragte Yunho, als er einen letzten Blick zu seinem Freund warf.

„Nicht wirklich", antwortete San ehrlich, doch er nickte trotzdem entschlossen. „Aber wir machen das zusammen."

Yunho streckte seine Hand aus, und San griff sie ohne zu zögern. Gemeinsam traten sie durch den schmalen Spalt in die Dunkelheit des Turms, bereit, dem Ursprung des grünen Nebels und der Dunkelheit entgegenzutreten – was auch immer das bedeutete.

Im Inneren des Turms war die Luft schwer und kalt. Der grüne Nebel schien sich hier zu konzentrieren und erfüllte den Raum mit einem schwachen, unheimlichen Leuchten. An den Wänden schlängelten sich seltsame, pulsierende Ranken, die von einer unbekannten Energie durchzogen waren.

„Das ist definitiv kein normaler Ort", flüsterte San, während sie sich vorsichtig weiter in den Turm wagten.

Yunho nickte, seine Hand noch immer um den Griff seines Dolchs geklammert. „Bleib dicht bei mir, San-ah. Wir wissen nicht, was uns hier erwartet."

Ihre Schritte hallten in der Stille wider, während das Grollen, das sie draußen gehört hatten, jetzt wie ein leises Summen in ihren Köpfen widerhallte. Es war, als ob der Turm selbst lebendig wäre – und auf ihre Ankunft wartete.

„Kann es sein, dass dieser Nebel auch Auswirkungen auf uns hat? Ich weiß nicht, aber mir wird gerade irgendwie schlecht." „Mir geht es auch so. Halte am besten deinen Arm vor Mund und Nase, um so wenig wie möglich von diesem Nebel einzuatmen.", entgegnete Yunho, was San auch direkt tat.

Gemeinsam traten sie etwas näher.

„Schau, Hyung. Die Dornen. Sie scheinen alle hier zusammen zu führen."
„Du hast Recht. Ist das etwa eine Pflanze, die diesen seltsamen Nebel ausstößt?"

Als sie näher traten, bestätigte sich Yunho's Vermutung. In der Mitte des Turmes blühte eine riesige, rosa Blume, ähnlich einer Rose, die den Nebel auszustoßen schien.

„Der Nebel kommt von dieser Pflanze. Nur warum? Ist sie krank?", wunderte sich San, als er einmal um die Blume herum ging und tatsächlich etwas ausmachte.

„Schau mal, Yunho.", wies San auf eine an der Blume stark pulsierende Stelle.

Yunho trat näher heran, um die pulsierende Stelle genauer zu betrachten. Es war, als ob die Blume ein eigenes Herz hätte, das in unregelmäßigen, hektischen Schlägen pochte. Die Stelle schimmerte in einem unheimlichen Grün, stärker als der Nebel, und sah aus, als würde sich darunter etwas bewegen.

„Das sieht nicht natürlich aus", murmelte Yunho und kniete sich vor die Stelle, um sie genauer zu untersuchen. „Es ist fast so, als wäre die Pflanze... infiziert."

San hielt etwas Abstand und betrachtete die Ranken, die sich von der Pflanze aus über den gesamten Raum erstreckten. „Meinst du, das ist die Ursache für die Dunkelheit draußen? Wenn wir das beseitigen könnten..."

„Vielleicht...", antwortete Yunho zögerlich. „Aber was, wenn wir die falsche Entscheidung treffen? Wenn wir der Pflanze schaden, ohne zu wissen, ob sie wirklich verantwortlich ist?"

San biss sich auf die Lippe und trat einen Schritt näher. „Wir haben keine Wahl. Schau dich um. Alles hier stirbt. Diese Welt wird von dieser Dunkelheit erstickt, und wenn wir nichts tun, könnte sie uns auch verschlingen."

Yunho nickte langsam und griff nach seinem Dolch. „Ich glaube, ich muss diese pulsierende Stelle durchtrennen. Wenn wir Glück haben, befreien wir die Pflanze von dem, was sie quält."

„Und wenn wir Pech haben?", fragte San mit unsicherer Stimme.

Yunho sah ihn ernst an. „Dann hoffen wir, dass wir stark genug sind, uns dem zu stellen."

San holte tief Luft und stellte sich dicht hinter Yunho, bereit, ihm den Rücken freizuhalten. „Dann tu es, Hyung. Ich bin bei dir."

Mit einem entschlossenen Blick setzte Yunho die Klinge an die pulsierende Stelle und schnitt vorsichtig, aber fest zu. Die Stelle platzte auf, und aus ihr entwich ein Schwall dichten, giftgrünen Nebels. Ein markerschütterndes Geräusch, halb Knurren, halb Schrei, hallte durch den Turm.

Yunho stolperte zurück, während sich die Blume heftig zu winden begann. „Was zur Hölle ist das?!"

Aus der offenen Stelle krochen schwarze, zähe Ranken, die sich wie Schlangen in die Luft erhoben. Sie zischten und griffen nach Yunho und San, die reflexartig zurückwichen.

„San! Lauf!", rief Yunho, doch San schüttelte den Kopf.

„Wir haben sie geweckt, Hyung! Jetzt müssen wir sie stoppen!"

Die beiden zogen ihre Waffen und stellten sich dem, was die Blume zu verteidigen schien – eine Kreatur, die mit jedem Moment deutlicher zu erkennen war, als sie sich aus den dunklen Ranken zu formen begann. Es war ein Schattenwesen, das wie eine groteske Mischung aus Tier und Pflanze aussah, mit leuchtenden, grünen Augen, die sie fixierten.

„Das muss die Quelle der Dunkelheit sein", murmelte Yunho und stellte sich schützend vor San. „Wir beenden das – zusammen."

Das Schattenwesen war, so seltsam es auch klingen mochte, eine Mischung aus Seerose, Drachen und Vogel.

Der Körper hatte die Form einer Seerose, an der links und rechts Flügel gewachsen waren und der Kopf hatte die Form eines Drachen, wie man ihn aus Fantasyfilmen kannte.

„Und wie beenden wir das? Müssen wir es töten?", fragte San etwas überfordert, als das seltsame Wesen plötzlich mit einem seiner Flügel ausholte und die Freunde damit treffen wollte, welche zum Glück jedoch noch rechtzeitig ausweichen konnten, indem sie zur Seite sprangen und sich gekonnt abrollten, um sich nicht zu verletzen.

„Das sollte unser letzter Ausweg sein. Vielleicht hat es irgendwelche Schwachstellen oder wird auch von irgendwas gequält, das es dazu zwingt, sich so zu verhalten. Kein Lebewesen auf dieser Welt verdient den Tod."

Yunho hielt seinen Dolch fest in der Hand und versuchte, ruhig zu bleiben, während er das Wesen genauer beobachtete. Es war unberechenbar, seine Flügel schlugen heftig, und der drakonische Kopf stieß ein tiefes, bedrohliches Knurren aus. Doch in seinen leuchtenden grünen Augen flackerte etwas anderes: Schmerz.

„San, schau mal! Seine Augen... da ist etwas. Es wirkt, als würde es leiden", rief Yunho, während er sich langsam bewegte, um die Aufmerksamkeit des Wesens auf sich zu lenken.

San, der bereits ebenfalls mit seinem Schwert in Kampfhaltung war, blieb kurz stehen und betrachtete das Wesen genauer. „Du hast recht. Vielleicht... vielleicht wird es von etwas kontrolliert, genau wie die Pflanze."

Das Wesen holte erneut mit seinen Flügeln aus und ließ eine starke Windböe entstehen, die die Freunde beinahe von den Füßen riss. Yunho klammerte sich an einen Felsen, während San verzweifelt nach Halt suchte.

„Wenn wir es nicht stoppen, wird es uns nicht die Zeit geben, das herauszufinden!", rief San gegen den tosenden Wind.

Yunho überlegte fieberhaft. „Es gibt immer eine Schwachstelle! Wir müssen es ablenken, damit wir herausfinden können, was es quält."

San nickte entschlossen. „Ich werde es ablenken. Du findest heraus, wie wir es retten können."

„Was?! Nein, San, das ist viel zu gefährlich!"

Doch San hatte sich bereits in Bewegung gesetzt. Mit einem waghalsigen Sprung kletterte er auf einen der umliegenden Felsen und begann, laut zu rufen und zu winken, um die Aufmerksamkeit des Wesens auf sich zu ziehen. „Hey, du hässliche Seerosending! Hier bin ich! Willst du mich haben? Dann komm her!"

Das Wesen drehte seinen Kopf und richtete seinen Blick auf San. Mit einem wütenden Schrei stürzte es sich auf ihn, während Yunho die Gelegenheit nutzte, näher an die Pflanze und die pulsierende, offene Stelle heranzukommen.

Als er genau hinsah, bemerkte er etwas Merkwürdiges: In der offenen Stelle der Pflanze lag ein kleiner, glühender Kristall, umgeben von den schwarzen Ranken. Der Kristall pulsierte im gleichen Rhythmus wie das Wesen und sendete Wellen des grünen Nebels aus.

„Das ist es!", rief Yunho, während er den Dolch zückte. „Dieser Kristall kontrolliert es!"

„Na dann mach hin!", schrie San, während er gerade so einem weiteren Schlag des Wesens auswich.

Mit einem tiefen Atemzug stach Yunho in die pulsierende Stelle und zerschmetterte den Kristall mit einem gezielten Schlag. Ein gleißendes Licht erfüllte den Turm, und das Wesen schrie auf, ein markerschütternder Laut, der sowohl Schmerz als auch Erleichterung ausdrückte.

Dann wurde es still.

Die dunklen Ranken zogen sich zurück, der Nebel begann sich zu lichten, und das Wesen sackte schwer atmend zu Boden. Seine grünen Augen, die zuvor von Schmerz erfüllt waren, wirkten nun sanft und klar.

San trat vorsichtig näher, während Yunho zu ihm stieß. Das Wesen sah die beiden an, und in seinen Augen lag etwas, das fast wie Dankbarkeit aussah. Es erhob sich mühsam, breitete seine Flügel aus und hob sich langsam in die Luft. Mit einem letzten, friedlichen Blick flog es davon, hinaus in die nun wieder klare und friedliche Welt.

„Ich glaube... wir haben es geschafft", flüsterte San und ließ sich erschöpft auf den Boden sinken.

Yunho setzte sich neben ihn und nickte. „Ja. Und wir haben ein Leben gerettet, statt es zu nehmen."

Die beiden schwiegen einen Moment, während die Sonne langsam wieder heller wurde und das Leben in die zuvor düstere Umgebung zurückkehrte. Vögel zwitscherten, und ein sanfter Wind trug den Duft von frisch erwachtem Gras mit sich.

„Das war knapp", murmelte Yunho schließlich und klopfte San auf die Schulter. „Aber hey, wir sind ein gutes Team."

San grinste schwach. „Das waren wir schon immer, Hyung."

Sie nahmen sich fest in die Arme, ehe sich plötzlich ein paar Meter von ihnen entfernt die Steine des Turmes wie von Geisterhand zusammenfügten und somit eine Treppe bildeten, die eine weitere Etage nach oben führte. Jedoch sah es von außen nicht so aus, als würde dieser Turm eine weitere Etage bilden können.

„Was ist das?", fragte Yunho, als er aufstand und auch San wieder auf die Beine half. „Finden wir es heraus.", entgegnete der Jüngere, ehe er auch schon die Stufen hinauf ging. Sein Freund folgte ihm.

Ein paar Stufen gingen sie bereits nach oben, als sie dann auch erkannten, wohin diese Stufen führten: auf das Dach.

„Sieh nur, Yunho. Alles, was zuvor kahl und kalt wirkte, erweckt wieder zum Leben.", sprach San lächelnd, der glücklich dabei zusah, wie das Gras wieder grünte, Blumen dort blühten, wo zuvor die Dornen waren und die Pegasi, Einhörner, Feen und die ganzen anderen Fabeltiere wieder zurückfanden. Selbst die Ruine, in der sie sich befanden und die von der Ferne wie eine ungewöhnliche Felsformation aussah, baute sich auf magische Weise selbst wieder zusammen, wie die Freunde bemerkten. Der Boden vibrierte unter ihren Füßen und an der Stelle, an der ein baufälliger Felsturm stand, thronte nun ein wunderschöner Märchenturm.

Ein paar Meter von ihnen entfernt baute sich sogar ein neuer Raum.

„Schau mal, San-ah.", machte Yunho den Jüngeren darauf aufmerksam. Die Tür öffnete sich einladend wie von selbst, weshalb die Freund gemeinsam auf diese zusteuerten und den Raum betraten.

Dieser war unglaublich groß und voll gestellt mit all möglichem fantastischen Kram. Von Zauberstab, über Zauberspiegel bis hin zur Wunderlampe war alles dabei.

„Hat der Hüter hiervon gesprochen? Von diesen Sachen? Von denen wir uns nehmen können, was unser Herz begehrt?", überlegte Yunho fasziniert von alledem.

San ließ seinen Blick über die unzähligen magischen Gegenstände schweifen, die in Regalen, auf Tischen und in Vitrinen ausgestellt waren. Jeder einzelne schien eine eigene Geschichte zu erzählen, und das Funkeln und Leuchten, das von ihnen ausging, war hypnotisierend.

„Es sieht ganz danach aus", sagte er schließlich, immer noch sprachlos angesichts der schieren Menge und Vielfalt der Schätze. Er hob vorsichtig einen schimmernden Zauberstab an, dessen Oberfläche mit feinen goldenen Runen verziert war, und betrachtete ihn nachdenklich. „Aber... was, wenn das ein weiterer Test ist? Was, wenn wir uns zu sehr von unserem Wunsch, etwas zu besitzen, leiten lassen?"

Yunho schien bei diesen Worten innezuhalten. Er hatte bereits seine Hand ausgestreckt, um einen mit Edelsteinen besetzten Spiegel zu berühren, zog sie aber sofort zurück. „Du könntest recht haben", sagte er leise. „Der Hüter hat nie gesagt, dass es so einfach sein würde. Vielleicht will er sehen, ob wir der Versuchung widerstehen können."

San stellte den Zauberstab zurück und seufzte. „Wenn das stimmt, dann sollten wir vorsichtig sein. Es fühlt sich nicht richtig an, einfach irgendetwas mitzunehmen, nur weil wir es können."

Plötzlich erhellte ein sanftes Licht den Raum, und die vertraute Stimme des Hüters erklang. „Ihr habt gut beobachtet", sagte er. „Das hier ist kein Test, sondern ein Geschenk für eure Tapferkeit und euer Mitgefühl. Aber die Wahl, was ihr mitnehmt – oder ob ihr überhaupt etwas mitnehmt – wird euch allein überlassen. Wählt mit Bedacht, denn jede Entscheidung hat Konsequenzen."

Yunho und San sahen einander an. Es war keine einfache Wahl.

„Was denkst du, Hyung?", fragte San schließlich.

Yunho schwieg einen Moment, bevor er antwortete. „Ich denke, wir sollten etwas wählen, das nicht nur uns, sondern auch unserer Familie und den Menschen, die uns wichtig sind, helfen kann. Etwas, das Gutes bewirken kann."

San nickte zustimmend und begann, die Gegenstände erneut zu betrachten, diesmal mit einem klareren Ziel. Schließlich blieb sein Blick an einem schlichten, aber schön gearbeiteten Buch hängen, das auf einem Podest in der Mitte des Raumes lag. Es war in schwarzes Leder gebunden, und auf dem Cover prangte ein goldenes Symbol, das wie eine Sonne mit unzähligen Strahlen aussah.

„Was ist mit dem da?", fragte er und deutete auf das Buch.

Yunho trat näher und betrachtete es ebenfalls. „Ein Buch... denkst du, es ist ein Zauberbuch? Oder vielleicht ein Buch, das Wissen und Weisheit enthält?"

„Nur eine Möglichkeit, es herauszufinden", sagte San und öffnete es vorsichtig. Die Seiten waren leer, doch als er seine Hand über sie gleiten ließ, begannen goldene Buchstaben zu erscheinen.

„Das Buch des Unendlichen Wissens", las Yunho laut vor. „Es enthält Antworten auf jede Frage, die ihr euch stellt, und weist euch den Weg zu Lösungen, die Frieden und Harmonie bringen können."

„Das ist perfekt", sagte San lächelnd. „Es ist kein Gegenstand, der Macht oder Reichtum bringt. Es ist ein Werkzeug, um zu helfen."

Yunho nickte. „Dann ist das unsere Wahl."

Das Licht des Raumes begann zu flackern, als der Hüter erneut sprach. „Eine weise Wahl. Dieses Buch wird euch und eurer Welt viel Gutes bringen, solange ihr es mit Reinheit im Herzen nutzt. Ihr habt die Prüfungen des Turmes bestanden. Ihr dürft nun diese Welt verlassen – mit dem Wissen, dass ihr sie eines Tages wieder betreten könnt."

Plötzlich begann sich die Welt um sie herum zu drehen, und ein gleißendes Licht hüllte sie ein.

Als es erlosch, standen sie wieder vor ihrer Hütte am Waldrand, das Buch sicher in Yunhos Händen.

San sah zu seinem Freund. „Denken wir, dass wir wirklich alles hinter uns gelassen haben?"

Yunho lächelte leicht. „Vielleicht nicht alles. Aber jetzt haben wir das Werkzeug, um es zu bewältigen."

Und mit diesen Worten kehrten sie nach Hause zurück, bereit, die neuen Herausforderungen, die auf sie warteten, mit Entschlossenheit und Mut zu meistern.

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