Kapitel 1: Hass ist ein starkes Wort

Seit den Ferien hatte eine furchtbare Schwermut von ihm Besitz ergriffen.
Mit hängenden Schultern zog Marcus seinen Koffer hinter sich her über den Bahnhof. Penelope, die kleine Eule, die dieses Jahr seine Begleitung sein würde, saß auf seiner Schulter und knabberte ab und zu an seinem Ohr. 

Man hätte ja meinen können, dass das ganze Gewusel und Durcheinander in Kings Cross so ein kleines Tier verschreckte, aber sie war besser erzogen als jede andere Eule und sowieso mehr neugierig, als ängstlich. Und Marcus mochte sie. Allein schon, weil Eulen fliegen konnten. Sie gehörte zu den wenigen lebenden Wesen, mit denen er seine Freude über das in der Luft sein teilen konnte. 

Der Bahnsteig war wie jedes Jahr völlig überfüllt von Schülern und Eltern, die versuchten, sich in dem bunten Treiben nicht zu verlieren. Es würde das letzte Mal sein, dass er sich durch die Menge einen Weg zum Zug bahnen musste, dessen rote Lock abfahrbereit im Licht glänzte. 

Die Vorstellung, all das hier nicht wieder zu sehen, löste in ihm ein seltsames Gefühl aus, das die Schwermut noch tiefer durch seinen Körper sickern ließ. Am Ende dieses Schuljahres erwartete ihn ein Leben, das sein Herz  mit Einsamkeit einfrieren würde. 

"Hey, Flint!" 

Penelope stieß ein leises Krächzen aus. Als Marcus sich umdrehte, sah er Terence, der sich mit Händen und Ellenbogen zu ihm durcharbeitete. Als der Blonde bei ihm ankam, schien er heftig zu schwitzen.
"Ich hab dich vorhin schon gesehen.", kreuchte er.
"Aber da hast du mich nicht rufen gehört." 

Marcus zuckte nur abwesend mit den Schultern.
"Ich war in Gedanken." 

Terence nickte, als wüsste er genau, was in seinem Kopf vorging.
"Mann, das ist schließlich unser letztes Jahr. Klar, dass man dar ein bisschen melancholisch wird."
Mit diesen Worten schlang der Sucher ihm den Arm um die Schulter, worauf sich Marcus Eule entrüstet bemerkbar machte, aber ihren Platz nicht räumte. 

Higgs schien davon keine Notiz zu nehmen, stattdessen plapperte er munter drauf los und berichtete von seinen Ferienerlebnissen.
Marcus hörte ihm kaum zu, aber irgendwie lenkte ihn das sinnfreie Geplänkel seines Freundes doch ab und so bekam er kaum mit, dass sie sich in den Zug quetschten und Terence ihn in ein leeres Abteil schob. 

Erst als er mit einem "Willst du nicht mal dein Zeug wegstellen?" wieder in die jetzige Welt zurückgebracht wurde, bemerkte Marcus, dass er noch immer wie ein Schrank in der Tür stand.
Leicht durcheinander brabbelte er eine Antwort, die aber weder Terence noch er selbst verstand, und verstaute seinen Koffer. 

Anschließend nahm er gegenüber des Suchers Platz und lehnte den Kopf gegen die kühle Fensterscheibe. Penelope hüpfte leise krächzend von seiner Schulter und auf das Sitzpolster neben ihm.
Schweigen legte sich über sie. 

Einige Minuten verstrichen, in denen keiner etwas sagte und nur die aufgeregten Stimmen anderer Schüler auf dem Gang zu hören waren. 

Schließlich erhob Terence als erster wieder das Wort.
"Geht es dir gut? Du wirkst irgendwie zerstreut. Und angespannt.", wollte er mit besorgter Stimme wissen. 

"Alles bestens.", antwortete Marcus knapp. 

Er wusste, dass der andere Junge es nur gut meinte, aber er wollte im Moment nicht reden. Erst recht nicht über das, was ihn beschäftigte. 

Higgs wollte wohl noch mehr sagen, aber da wurde die Tür des Abteils aufgerissen und Adrian stand breit grinsend vor ihnen, Graham Montague im Schlepptau. Jetzt war also schonmal ein Teil der Slytherin Quidditchmannschaft komplett. 

"Meine lieben Freunde!", verkündete Adrian laut, während er Graham mit sich ins Abteil zerrte, "Was habe ich euch vermisst!" 

Marcus stöhnte genervt auf.
"Halt doch die Klappe, Pucey."
Konnte man denn hier nicht irgendwo in Ruhe seinen trübseligen Gedanken nachhängen? 

"Hat dir Wood jetzt schon die Laune verdorben oder wie?", wollte Montague wissen.
Falsche Frage zum falschen Zeitpunkt. 

Marcus stand schneller auf als einer der Jungs 'Schnatz' sagen konnte und mit finsterer Mine stapfte er auf seinen Jäger zu.
"Fresse.", zischte er.
Dann drängte er sich an ihnen vorbei und aus dem Abteil. Penelope flatterte hinterher und Adrian fragte: "Was ist denn mit dem los?", dann fiel die Tür hinter ihm krachend ins Schloss. 

Genervt fuhr sich Marcus über das Gesicht.
Womit hatte er das nur verdient?
Dieses Jahr fing noch beschissener an, als das davor, und ausgerechnet seine Freunde brachten ihn auf einen neuen Tiefpunkt.
Sie waren noch nicht einmal in Hogwarts angekommen, verdammt nochmal! 

Ein Erstklässler, welcher eben angelaufen kam, beäugte ihn neugierig. Sofort wurde er mit einem mörderischen Blick dafür bestraft und ehe Marcus auch noch etwas Gemeines zu ihm sagen konnte, machte er verängstigt kehrt und verschwand in die entgegengesetzte Richtung.
Das war sein eigenes Glück, denn Marcus war sich nicht sicher, wozu er in seiner aktuellen Gefühlslage fähig war. Er konnte auf weitere Strafarbeiten in Sprouts dunklem, erdigen Gewächshaus verzichten.
Dieses Jahr sollte auf keinen Fall so laufen, wie das Vorherige, das hatten ihm seine Eltern deutlich gemacht. 

Er streckte den Arm geistesgegenwärtig in Richtung seiner Eule aus und sie flatterte flink darauf.
Kluges Steinkäuzchen.
Gemeinsam mit ihr lief er los, einfach den Gang entlang. 
Vielleicht auf der Suche nach etwas Ruhe.
Vielleicht auch auf der Suche nach etwas anderem, einer Antwort auf seine Fragen, eine Lösung für seine Probleme.

Natürlich wusste er, dass er nichts von all dem finden würde.
Kurz darauf verließ der Hogwarts Express den Bahnhof, verabschiedet von winkenden Eltern und Geschwistern, und aufgeregt rufenden Schülern, die ihre Köpfe aus den Fenstern lehnten. 

Kaum nachdem sich auch die letzten langsam einen Platz gesucht hatten, schien er der Einzige zu sein, der noch herumstromerte.
Mit Ausnahme von der freundlichen Hexe, die Snacks anbot.
Er lief  ihr über den Weg, während sie wie immer ihren kleinen Wagen mit allem möglichen Süßkram vor sich herschob, aber er hatte sein Geld bei den Jungs liegen gelassen und lehnte daher dankend ab, als sie fragte, ob er etwas haben wollte. 

Nur wenige Minuten später war er so gut wie am Ende des Zuges angekommen und beschloss, umzukehren.
Er hatte ein schlechtes Gewissen, weil er seine Freunde vorhin so angegangen war. 

Marcus gehörte nicht zu den Menschen, die sich entschuldigten, es musste reichen, wenn er einfach zurückkehrte und sich wie immer gab.
Bisher hatten sie ihm seine kleinen und großen Wutanfälle stets verziehen. 

"Sei doch nicht so ein Streber, Percy." 

Erschrocken über die plötzlich näher kommenden Stimmen sah Marcus auf. 

"Ich erledige hier lediglich meine Pflichten, das hat mit Verantwortungsbewusstsein zu tun, Oliver!"
Natürlich, dieses nasale Genuschel von Pflicht konnte ja nur zum Weasley gehören, der Woods unzertrennlicher Begleiter war. 

Scheiße, scheiße, scheiße!
Er wollte die beiden jetzt nicht sehen, noch weniger selbst von ihnen bemerkt werden. 

Eilig huschte er bis zum im Dunkeln liegendem letzten Abschnitt im Zug und hielt vorsorglich seiner von der Versteckaktion weniger begeisterten Eule den Schnabel zu.
Seinen größten Gryffindor Feinden zu erklären, warum er sich zu verstecken versuchte, war keine schöne Aussicht. 

"Es sind deine Brüder, du weißt doch wie sie sind.", erklärte Wood gerade rechtfertigend.
Dann trat er in Marcus Sichtfeld, direkt hinter ihm der Streber mit der furchtbaren Brille.
Er war, scheinbar vor Empörung, genauso rot angelaufen, wie sein Haar und umklammerte sein Vertrauensschülerabzeichen mit solch einer Bestimmtheit, dass er fast ein wenig einschüchternd wirkte. 

Wood wiederzusehen war hingegen wie, als hätte ihm jemand einen kräftigen Schlag in die Magengegend verpasst, und die Schnatze damit aufgeweckt. Marcus presste die Lippen fest zusammen und hoffte einfach inständig, dass sie ihn hier nicht bemerken würden. 

"Ich habe es satt, dass sie ihre Streiche immer an mir üben! Verstehst du das denn nicht?" 

Wood blieb stehen und drehte sich um, streckte beide Arme aus um den Weasley davon abzuhalten, stur an ihm vorbeizumarschieren.
"Das versteh ich sehr gut, Percy. Aber die lachen sich ins Fäustchen, wenn du dich darüber aufregst. Und außerdem habe ich nichts mehr von ihnen, wenn du sie zur Schnecke machst." 

Marcus runzelte die Stirn, Weasley schien es nicht anders zu gehen.
"Bitte was?", fragte er abgelenkt. 

"Ich brauch die zwei noch fürs Training, ich kann sie nicht deiner Wut aussetzten. Die Leute auf der Ersatzbank sind nicht die Besten." 

Weasley schnaubte, schien aber ein bisschen besänftigt worden zu sein. 

"Lass es gut sein und wieder zurückgehen, okay?", fragte Wood. 

"Ja. Ja, ist gut.", stimmte Weasley zähneknirschend zu. 

Wood nickte, ließ ihn los und lächelte. Marcus Magen drehte sich um.
Als die beiden Sechstklässler den Weg einschlugen, den sie gekommen waren, starrte er auf Woods Hinterkopf und versuchte, sein rasendes Herz irgendwie zu beruhigen.
Penelope saß still neben ihm auf dem Boden und wartete darauf, dass er sich wieder fasste. 

"Ich hasse dich.", wisperte Marcus plötzlich so leise, dass er es selbst kaum hörte.
"Ich hasse dich so dermaßen, Oliver Wood."
Und im gleichen Moment, als er diese Worte aussprach, wusste er, dass er es nicht ernst meinte.
Ganz und gar nicht ernst. 

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