Kapitel 9 | Archer

„Nicht so laut", flüstert Hunter, bevor er Mallory an den Schultern vom Wohnzimmer in den Flur schiebt.

Nach meinem Wiedersehen mit Tante Sue und der angespannten Stimmung beim Frühstück, ist es kein Wunder, dass sie Fragen hat. Nur kann ich Mallory nicht die Antworten liefern, die sie sucht.

Stattdessen verschmelze ich mit dem Schatten, den die Tür des Wäscheraums auf mich wirft. Gerade mal eine Handbreit ist sie geöffnet und doch erwische ich mich dabei, wie ich die Luft anhalte.

„Entschuldige, Hunt, ich wollte nicht ...", ertönt Mallorys Stimme von der anderen Seite der Tür.

Doch mein Bruder fällt ihr ins Wort: „Hör zu, es ist kompliziert, okay? Mom hat mir mal erzählt, dass Arch und sie sich früher richtig gut verstanden haben, als Tante Rosaria noch gelebt hat." Er seufzt. „Aber dann ist Mom nach dem Tod ihrer Schwester hier eingezogen, um Dad zu helfen. Na ja, und irgendwann haben sich die beiden verliebt. Ich glaube, das hat Arch nie so richtig verkraftet."

Mallory lässt die Schultern sinken.

„Und warum habt ihr dann so ein entspanntes Verhältnis, wenn Sue Ellen die Schweigebehandlung bekommt? Das verstehe ich nicht", sagt sie.

Hunter streicht sich eine dunkle Strähne aus dem Gesicht.

„Wie gesagt, die Beziehung der beiden ist kompliziert. Mom fragt mich regelmäßig, was es bei Arch neues gibt und umgedreht ist es ganz genau dasselbe. Aber kaum sind die beiden im selben Raum, wissen sie nichts miteinander anzufangen." Nach einer kurzen Atempause fügt er hinzu: „Glaub mir, wenn er sich ihr gegenüber jemals grausam oder respektlos verhalten hätte, hätte ich ihm längst den Arsch aufgerissen. Aber so muss ich es wohl einfach hinnehmen."

„Rosaria und Sue Ellen sehen sich aber auch unheimlich ähnlich. Das kann nicht einfach für Archer sein."

Hunter zuckt mit der Schulter.

„Schwer zu sagen. Ich meine, er hat nie ..." Mein Bruder hält inne und betrachtet Mallory einen Moment lang, bevor er eine Braue hochzieht und fragt: „Woher weißt du, dass sie sich ähnlich sehen?"

So wie sich ihre Augen weiten, bemerkt Mallory ihren Fehler gerade.

„Äh ..."

„Du hast Tante Rosarias Foto gesehen?", stellt Hunter mehr fest, als dass er es fragt. Sein scharfes Einatmen durchschneidet die Geräuschkulisse wie ein Samurai-Schwert. „Oh mein Gott, ich hab' recht, oder? Du warst in Archs Zimmer, böses Mädchen! Und ich dachte, das ganze Geknalle und Gegrunze kam von seinem Work-out."

Ein schmutziges Lachen entfährt Hunter, als er einmal in die Hände klatscht. Mallorys Gesicht nimmt die Färbung einer reifen Tomate an.

„Oh mein Gott", flüstert sie kichernd und lehnt sich vor, als würde sie ihm ein Geheimnis anvertrauen. „Du bist so ein Idiot. Niemand hat gegrunzt."

Hunter legt den Kopf schief, ohne das dümmliche Grinsen von seinem Gesicht zu wischen, während ich dem Drang widerstehe, ihm mit der flachen Hand eine überzuziehen.

„Ich will alles wissen. War's gut? Habt ihr die Liane schwingen lassen, die Schlange versteckt, die Palme gepflanzt und Häschen in der Grube gespielt?"

Ich schließe die Augen und schüttle stumm den Kopf. Mein Bruder ist so ein Dummkopf.

Mallory scheint sich daran nicht zu stören, denn ihr melodisches Lachen füllt den Flur. Auch Hunters Schultern werden von seiner Belustigung erschüttert - während ich meine Stirn ans kühle Holz der Tür lege.

„Darauf antworte ich nicht", sagt Mallory und dem Klang nach boxt sie meinen Bruder in die Schulter. Ich lasse den Blick wieder zu den beiden gleiten und bemerke, dass ihr Gesicht ernstere Züge annimmt. „Das mit Cynthia weiß er jetzt auch."

„Oh, oh. Und was hat er gesagt?", erkundigt sich Hunter vorsichtig.

„Er war auf jeden Fall nicht begeistert, dass wir damit nicht gleich zu ihm gekommen sind."

Hunters Körperhaltung versteift sich sichtbar.

„Und, hilft er uns?"

„Klar hilft er uns, warum fragst du mich das überhaupt?"

Mein Bruder schweigt für einen Moment.

„Es ist nur ..." Hunter fährt sich mit beiden Händen durch die Haare. „Irgendwas stimmt nicht mit Arch, aber er will mir fürs Verrecken nicht sagen, was es ist."

„Vielleicht weiß er nicht wie", erwidert Mallory.

Hunter lässt die Arme sinken.

„Hat er was zu dir gesagt?"

Ihr blondes Haar schwingt, als Mallory den Kopf schüttelt.

„Versuche es einfach weiter, Hunt. Vielleicht braucht er Zeit oder muss bestimmte Sachen erst mit sich ausmachen. Gib nicht auf, okay?" Sie tritt einen Schritt zurück und deutet über ihre Schulter in Richtung Küche. „Und jetzt lass uns die Vorräte einpacken. Es ist schon halb acht."

„Ja, gut", sagt Hunter. „Aber wie du in seinem Zimmer gelandet bist, will ich trotzdem wissen."

Die beiden verschwinden in die Küche. Ich gestatte es mir aber erst dann, tief durchzuatmen, als sie völlig außer Hörweite sind.

„Hier bist du, mein Junge", dringt von hinten Dads Stimme an mein Ohr und ich zucke zusammen - trotz des sonst so beruhigenden Gefühls seiner Hand auf meiner Schulter. „Können wir dann los?"

„Sobald die restliche Ausrüstung verstaut ist, kann's losgehen", stammle ich in der Hoffnung, dass er nicht mitbekommen hat, wie ich gelauscht habe und mache auf dem Absatz kehrt.

Mallory und Hunter stehen mit dem Rücken zu mir, als ich die Küche betrete. Ich kann aber sehen, dass sie kleine Frühstücksbeutel mit vorportionierten Nüssen und Haferflocken auf drei geruchsdichte Packsäcke verteilen.

„Seid ihr fertig?", höre ich mich fragen,

Hunter und Mallory wirbeln zu mir herum. Letztere legt sich dabei die Hand auf die Brust.

Mein Bruder keucht: „Fuck, Alter, du hast mich erschreckt."

„Sorry, war keine Absicht", sage ich. „Wir wollen dann los. Habt ihr alles?"

„Alles fertig", erwidert Hunter und wedelt mit dem letzten Beutel Haferflocken vor meinem Gesicht herum, bevor er diesen in seinem Vorratspacksack verschwinden lässt.

Mallory macht ebenfalls Anstalten, ihren Proviant im Rucksack zu verstauen. Da strecke ich auch schon die Hand danach aus.

„Das kannst du mir geben." Langsam blinzelnd mustert sie mich. „Dein Rucksack wiegt mit Trinkblase schon zwölf Kilo", erkläre ich ihr.

Mallory scheint das Gewicht des Vorratsbeutels zu prüfen, als sie ihn von einer auf die andere Hand rollen lässt.

„Wie viel wiegt deiner?"

Im Kopf gehe ich den Inhalt meines Rucksacks durch und sage: „Damit ...", ich deute auf den Packsack mit ihren Vorräten, „und mit deiner Wetterplane sind es ungefähr achtzehn Kilo, schätze ich."

Das ist viel, wenn man bedenkt, dass wir allein heute entweder zwölf oder vierzehn Kilometer vor uns haben. Je nachdem, ob wir die Nacht auf dem Zeltplatz in Michigan Creek oder weiter den Strand hinunter in Darling River verbringen werden. Wenn die Gezeiten mitspielen, können wir den ersten kleinen Abschnitt durch den Wald inklusive Leitern umgehen und stattdessen über den Strand abkürzen. Das Wandern auf Sand ist allerdings auch nicht ganz unproblematisch. Deshalb nehme ich den zusätzlichen Ballast für einen Wanderneuling wie Mallory gerne in Kauf, damit der erste Tag nicht gleich eine Tortur für sie wird.

Hunter wackelt mit den Augenbrauen.

„Wie wärs, wenn wir uns alle ein Zelt teilen? Dann können wir eins hierlassen."

Mallory reagiert, bevor ich es tue.

„Träum weiter."

Ihre Augen suchen meine und mir fällt erst jetzt die niedliche Rotfärbung ihrer Wangen auf.

„Du hast die schwere Plane von meinem in deinen Rucksack gepackt, um mir Gewicht abzunehmen?", fragt sie zaghaft.

Meine Mundwinkel zucken nach oben und ich nicke einmal.

„Arch, das ist ... süß von dir, Danke!"

„Ja, Arch, das ist super süß von dir", äfft Hunter Mallorys Stimme nach, bevor er sich seinen Rucksack schnappt und lachend die Küche verlässt.

Ich verdrehe die Augen und schwinge mir erst meinen eigenen Rucksack über die Schulter, bevor ich den von Mallory an den Tragegurten zu Dads Pick-up hinaustrage, wo Tante Sue und er bereits auf uns warten. Ihre verbundenen Hände fallen auseinander, als sie mich bemerken.

Tante Sue geht mit ihrer Vermeidungstaktik sogar so weit, dass sie seit meiner Ankunft bei ihren Eltern übernachtet. Angeblich, weil es Grandma June gerade nicht so gut geht.

Meine Großeltern und ich haben kein enges Verhältnis, eigentlich haben wir gar kein Verhältnis. Das bedeutet aber nicht, dass ich ein herzloses Arschloch bin, dem die Gesundheit der eigenen Großmutter vollkommen egal ist. Also habe ich Nachforschungen angestellt.

Okay, ich gebe zu, dass ich die volle Ermittlertour bei Hunter durchgezogen habe und die Wahrheit gewissermaßen aus ihm herausgekitzelt habe.

Nämlich, dass ich meine Tante aus ihren eigenen vier Wänden vertrieben habe und auch, wenn Hunter das so nicht formuliert hat, stand es doch zwischen den Zeilen.

Als würde ich eine Szene machen, wenn ich sehe, wie Dad uns sie sich küssen, in den Arm nehmen oder eine glückliche Beziehung führen.

Zugegeben, als Jugendlicher habe ich das des Öfteren getan, aber ich bin besser darin geworden, meine dunklen Gedanken zurückzudrängen.

Ich bin froh, dass sich die beiden gefunden haben, das Licht in all dem Dunkel gefunden haben. Es gäbe Hunter nicht, wenn es anders gekommen wäre. Und ich liebe die kleine Ratte.

„Kann's losgehen?", reißt mich Dad aus meinen Gedanken. In langen Schritten kommt er auf mich zu, um mir Mallorys Rucksack abzunehmen und in die Ladefläche zu befördern. Hunter tut es ihm gleich, nur um von seiner Mom in eine lange Umarmung gezogen zu werden. Als würde er in den Krieg ziehen.

„Hier", sagt sie anschließend und drückt ihm ein kleines Gerät in die Hand. Mit zusammengekniffenen Augen versuche ich, einen genaueren Blick darauf zu erhaschen.

Für einen GPS-Tracker ist es ziemlich groß, zumal mir Hunter gestern verraten hat, dass Shawn jedem Gruppenmitglied einen aushändigen wird.

Als hätte mein Bruder es geahnt, öffnet er seine Hand im nächsten Augenblick weit genug, dass ich erkenne, was es ist.

Tante Sues Augen schnippen zu meinen hoch und ich wette, mein Gesichtsausdruck verrät, dass auch ich mich an unser abendliches Walkie-Talkie-Ritual erinnere.

„Schmetterling an kleiner Seelöwe, bitte kommen, over!", geistert ihre jugendliche Stimme durch meine Erinnerung, die vereinzelt vom Krächzen in der Funkverbindung unterbrochen wurde. Damals war sie gerade mal ein Teenager, dabei um einiges älter als ich und trotzdem meine Komplizin.

Die ersten Tränen glitzern in ihren Augen. Dieselben, die auch hinter meinen Lidern prickeln.

Ich senke den Blick und murmle: „Tschüss Tante Sue", bevor ich auf der Rückband von Dads Pick-up verschwinde.

Es tut mir leid. Bitte glaub mir.

Als wir in Pachena Bay ankommen, werden wir bereits von Shawn und fünf weiteren Personen in voller Trekking-Montur erwartet.

„Archer Channing", flötet Shawn und zieht mich an der Hand, die ich ihm zur Begrüßung hinhalte, in eine kurze Männerumarmung. „Schön, dich mal wiederzusehen. Wie geht's dir, Mann? Gut siehst du aus."

„Danke dir. Ich hab' Urlaub, da sieht man immer frisch aus", lüge ich. „Und bei dir?"

Shawn fährt sich mit der Hand über den glattrasierten Kiefer. Früher hatte er lange dunkle Haare, wie ich, und einen Vollbart. Heute ist sein Haar kurz und es passt besser zu seinem sportlichen Erscheinungsbild.

„Na ja, alles ziemlich stressig gerade. Du hast ja bestimmt von der verschwundenen Backpackerin gehört." Er blickt sich um, vermutlich um sicherzugehen, dass uns keiner zuhört, und senkt die Lautstärke seiner Stimme noch mehr, als er sagt: „Sie war Teil meiner Gruppe, stand unter meiner Obhut. Ich hab' echt versagt, Mann."

„Cynthia Levisay - ja, ich hab' davon gehört." Ich deute über meine Schulter hinweg in Richtung Mallory. „Das ist ihre große Schwester."

So etwas wie Wiedererkennung huscht über Shawns Gesichtszüge und kurz kneift er die hellbraunen Augen zusammen, was ihm beinahe einen schmerzverzerrten Ausdruck verleiht.

„Also doch", murmelt er. „Das hab' ich befürchtet, als ich den Namen auf der Buchungsliste gesehen hab'." Er atmet lange aus. „Keine Ahnung, wie ich ihr entgegentreten soll. Ich fühle mich verantwortlich für das, was vorgefallen ist."

„Es ist nicht deine Schuld, Shawn. Keiner kann verlangen, dass du erwachsene Menschen von früh bis spät überwachst. Mallory ist auch nicht hier, um jemandem Vorwürfe zu machen. Sie will helfen. Das ist alles."

Shawn beugt sich noch weiter zu mir vor als ohnehin schon und flüstert: „Ihr werdet sie nicht finden, Mann. Die haben tagelang alles großräumig abgesucht. Außerdem sind wir hier am nördlichen Ende des Trails, Cynthias Tracker habe ich aber in der Nähe von Thrasher Cove gefunden. Das ist gerade mal fünf Kilometer vom südlichen Ende entfernt."

Ich lege ihm die Hand auf die Schulter.

„Ja, ich weiß und genau deswegen gehen wir anders die Sache ran. Wenn du nachher einen Moment Zeit für mich hast, erkläre ich dir alles in Ruhe."

„Ja, okay. Am Strand vielleicht, wenn die Zelte stehen. Da macht jeder sein eigenes Ding", antwortet er. „Aber jetzt muss ich erst mal die Vorstellungsrunde über die Bühne bringen, damit wir loskönnen."

Aus der Seitentasche seines Rucksacks zieht er eine kleine weiße Boje hervor und tritt vor die Gruppe.

„So, da wir jetzt vollzählig sind, würde ich sagen, wir stellen uns der Reihe nach vor und dann setzen wir uns in Bewegung." Er räuspert sich und hebt die Boje an. „Ich bin Shawn Fisher, achtundzwanzig Jahre alt und euer ACMG-zertifizierter Wanderführer. ACMG steht für Association of Canadian Mountain Guides. Ich werde euch also mit Rat und Tat zur Seite stehen. Wichtig ist mir, dass wir aufeinander achtgeben, möglichst immer zusammenbleiben und dass jeder Eigenverantwortung übernimmt. Wenn ihr euch mal nicht sicher seid, ob ein Wegabschnitt ungefährlich ist, dann kommt ihr bitte auf Hunter oder mich zu, bevor ihr weitergeht." Shawn klopft diesem auf die Schulter. „Hunter ist mein Assistent und ich würde sagen, er macht erst mal weiter."

Shawn wirft meinem Bruder die Boje zu, der sie, ohne richtig hinzusehen, mit einer Hand fängt.

„Hi Leute, ich bin Hunter, neunzehn Jahre alt und lebe schon mein ganzes Leben auf Vancouver Island. Ich kenne den West Coast Trail inzwischen relativ gut. Also scheut euch nicht, auf mich zuzukommen, wenn ihr Fragen oder Lust auf eine Runde Bojen-Weitwurf habt. Was noch? Ach ja: Diese Tour ist was Besonderes, weil mein großer Bruder Archer dabei sein wird. Fang, Arch!"

Die kleine weiße Boje landet in meinen Händen und geht anschließend die Runde herum, bis sich jedes einzelne Mitglied vorgestellt hat.

Wir haben Glück. Die Gruppe ist gut durchmischt und jeder Teilnehmer scheint zur Kategorie angenehmer Zeitgenosse zu gehören.

Mallory versteht sich auf Anhieb mit einer zwanzigjährigen Backpackerin aus Kopenhagen, die sich uns gerade als Astrid vorgestellt hat. Sie hat die blonden Haare zu einem hohen Dutt gebunden und ist mit gut einem Meter achtzig deutlich größer als jede andere Frau, die ich kenne.

Hunter hat in den professionellen Modus gewechselt und erklärt dem Ehepaar aus Arizona die Funktionsweise der Tracker, von denen tatsächlich jeder einen bekommen hat. Harlow und Emmabelle Bekele sind als Kinder gebürtiger Äthiopier in den USA zur Welt gekommen. Kennengelernt haben sie sich in Harlows äthiopischem Restaurant in Phoenix. Beide sind Anfang dreißig und wollen den West Coast Trail von ihrer Bucket List streichen, bevor sie mit der Familienplanung beginnen. Wenn man bedenkt, dass für die Wanderung ein Mindestalter von zwölf Jahren empfohlen wird und Kinder unter sechs gar nicht erlaubt sind, ist das sicher vernünftig.

„Beef Jerky?", brummt plötzlich von rechts eine tiefe Stimme.

Ich drehe den Kopf zur Seite und blicke in das Gesicht von Gavin, einem dreißigjährigen Fotografen aus Vancouver, der mir eine Tüte Trockenfleisch mit Teriyaki-Geschmack unter die Nase hält. Meine Lieblingssorte. Ich nicke ihm dankend zu und ziehe einen großen Streifen heraus.

„Wie viel wiegt dein Equipment?", frage ich ihn kauend und deute auf die schwarze Umhängetasche mit seiner Ausrüstung darin.

„Zu viel", gibt Gavin zurück und grinst schief. „Ich habe meine Spiegelreflexkamera, eine Drohne, eine Solar-Powerbank und meine GoPro dabei. Also falls du ein schönes Erinnerungsfoto mit deiner superheißen Freundin willst, bin ich dein Mann."

Ich bin weiß Gott kein besitzergreifender Neandertaler, aber nach der Bemerkung über Mallory verspüre ich nicht den geringsten Wunsch, seine Annahme zu entkräften.

„Gut zu wissen, danke Gavin", sage ich stattdessen.

Er rafft die tiefbraunen schulterlangen Haare zu einem Man Bun zusammen. In Verbindung mit dem getrimmten Vollbart lässt ihn die Frisur ein wenig älter wirken, als er ist.

„Kein Ding, sag einfach Bescheid."

„Alles klar, Leute, los geht's", ruft Hunter in die Runde. „Wir haben vierzehn Kilometer vor uns, weil heute relativ viel los ist. Deshalb haben Shawn und ich entschieden, das erste Lager in Darling River aufzuschlagen."

Die Ansage trifft auf allgemeine Zustimmung. Wahrscheinlich weil keiner von uns Lust hat, den ersten Abend auf einem überfüllten Zeltplatz zu verbringen. Alle schultern ihre Rucksäcke und wir setzen uns in Bewegung.

Ich bleibe hinter Mallory und Astrid, als wir den Strand erreichen, wo meine klobigen Wanderschuhe im graugelben Sand einsinken und mir eine scharfe Brise um die Ohren weht.

Mein Blick wandert über das angespülte Treibholz. Es herrscht Ebbe und ich kann mir vorstellen, dass Cynthia hier vor zwei Wochen ähnliche Bedingungen vorgefunden hat.

Warum sollte Mallory also nicht schon jetzt damit beginnen, mir den West Coast Trail ein Stück weit aus der Perspektive ihrer kleinen Schwester zu zeigen? So wie ich es mit ihr besprochen habe.

Damit sie sich darauf einlassen kann, ziehe ich meinen alten iPod und die kabellosen Kopfhörer aus der Seitentasche meiner Funktionshose heraus und suche Love for the Ocean von Pastis heraus.

„Peach, warte mal", rufe ich ihr hinterher. Mallory dreht sich zu mir herum.

„Oh, hey Arch", flötet sie. „Ist alles okay?"

„Alles gut, ich möchte nur, dass du dir was anhörst." Sie legt die Stirn in Falten, als ich eine Fußlänge vor ihr zum Stehen komme und einen der Kopfhörer in ihr Ohr drücke. Den anderen behalte ich. „Lass die Musik und die Landschaft auf dich wirken. Versuch, wie Cynthia zu denken, sammle Eindrücke für mich. Schaffst du das?"

Mallory nickt, und das genügt mir. Vermutlich fragt sie sich, was ich mit meiner Bitte bezwecke. Nur hoffe ich, dass sie mir genug vertraut, um mitzuziehen.

Ich schiebe mir den zweiten Kopfhörer ins Ohr, drücke auf Play und setze einen Fuß vor den anderen.

Mit geschlossenen Augen sauge ich die salzige Meeresluft bis in die hinterste Ecke meiner Lungenflügel. Ich genieße den Anblick der rauen Natur.

Sie hallt auch in der Musik wieder und das nicht nur, weil meine Schritte im selben Takt fallen. Der Wind säuselt die Melodie, mit jedem Sonnenstrahl, der durch die Wolkendecke bricht.

Die Brandung spült weg, wer ich war und wer ich immer sein wollte, bis ich nur noch bin und sich alles andere auflöst, genauso wie meine Fußspuren morgen verschwunden sein werden.

Aber tief in mir drinbleibt der Moment, die Musik - und das Meer.

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