Kapitel 8 | Mallory
Als meine Augenlider aufflattern, finde ich mich in völliger Dunkelheit wieder. Die Matratze sinkt ein und ich rolle gegen eine heiße, feste Wand. Haut trifft auf Haut, mein Körper auf einen anderen. Es riecht nach Salz, Kiefernzapfen - und ihm.
Archer.
Sein Name sitzt mir auf der Zungenspitze und bringt eine Lawine von Bildfetzen ins Rollen, die mein langsam wieder einsetzendes Erinnerungsvermögen unter sich begräbt.
„Auf deine Hände und Knie", schwebt seine Aufforderung wieder über mir, als wäre sie nie weg gewesen. Genau wie das „so zart", das seine Lippen in meine Haut tätowiert haben, als er meine Wirbelsäule vom Steißbein bis zum Nacken mit seinem Mund nachgezeichnet hat.
Mich hat noch nie ein Mann so ... konsumiert. Mit Haut und Haaren verschlungen. Seine Lust aus meiner gezogen.
Es war ... ER war: Wow!
Ein kehliges Stöhnen untermalt die Fantasie. Auch, wenn ich die Stimme nicht als meine eigene erkenne. Diese ist tiefer, kehliger irgendwie.
Die Erkenntnis trifft mich wie eine Böe, wenn man an einem windigen Tag zum ersten Mal das Haus verlässt.
Nicht meine Stimme ...
„Nein", knurrt Archer neben wir. Dabei raschelt sein Kissen, als würde er den Kopf erst in die eine, dann in die andere Richtung werfen.
„Archer?", flüstere ich und beginne, die Seite des Bettes nach dem Nachttisch und der kleinen Lampe darauf abzutasten. Dabei klettert Besorgnis Rippe für Rippe meinen Brustkorb hinauf. Sie wickelt sich um mein Herz, wie der Körper einer Schlingpflanze. „Wo ist der verdammte Lichtschalter?", keuche ich in die Finsternis, kurz bevor meine Finger ihr Ziel erreichen und das erlösende Klacken zu hören ist.
Im ersten Moment habe ich das Gefühl, dem Flutlicht eines Fußballstadions ausgesetzt zu sein. Ich bin gezwungen, die Augen zusammenzukneifen.
Erst, als ich mich an die Helligkeit gewöhnt habe, schaffe ich es, mich auf Knien über ihn zu beugen.
Mit geschlossenen Augen sieht sein Gesicht vollkommen verändert aus - unschuldig und jungenhaft, obwohl ich mich überdeutlich daran erinnere, dass ich es mit einem erwachsenen Mann zu tun habe.
„Archer", wiederhole ich mit kräftiger Stimme, „du träumst." Dabei lege ihm meine Handflächen auf die Brust. Sein Körper bebt unter meiner Berührung und plötzlich geht alles rasant.
Er reißt die Lider auf, doch statt geschmolzenem Toffee begegnen mir die leblosen Augen eines Tigerhais. Wie eine Lumpenpuppe werde ich auf den Rücken geworfen, als würde ich kaum mehr wiegen als eine Katze. Nur, um von seinem großen Körper tief in die Matratze gedrückt zu werden.
„Ich bin's", krächze ich. Die Last seines Gewichts auf meinem Brustkorb erschwert mir das Atmen.
Ich bekomme Panik, strample mit den Beinen und drücke gegen Archers breite, unnachgiebige Brust, bis er langsam zu blinzeln beginnt. Helle und dunkle Flecken tanzen durch mein Blickfeld.
Er studiert seine Umgebung. Dann mich. Bis Archer endlich merkt, dass er mich unter sich begraben hat.
Gierig fülle ich meine Lungen mit Sauerstoff, als er sich in einer fließenden Bewegung von mir erhebt und neben mir in die Matratze fallen lässt.
„Scheiße, das tut mir leid, Peach. Ich hätte dich ins Gästezimmer zurückbringen sollen."
Unsanft fährt er sich mit beiden Händen durch die Haare, während sein Keuchen von den Wänden widerhallt.
„Hast du das etwa öfter?", sprudelt es aus mir heraus.
Archer schließt die Augen, bis sich seine Atmung langsam normalisiert und fast schon glaube ich, dass meine Frage unbeantwortet bleiben wird.
Aber dann sagt er: „Meistens ..." Seine Stimme klingt kratzig, als würde er nach Jahren des Schweigens erstmals zum Sprechen ansetzen. „Meistens vermischen sich vergangene Mordermittlungen mit meinem Privatleben." Er reibt sich mit der flachen Hand übers Gesicht. „Menschen, die ich liebe, werden von einem dieser Monster gejagt und ich kann nichts dagegen tun oder komme bei dem Versuch, sie zu retten, selbst ums Leben."
In meinem Kopf dreht sich alles.
„Das klingt furchtbar."
„Stell dir einen extrem realistisch wirkenden Horrorfilm vor", sagt er. „Einen, dessen Bilder dich noch Wochen nach Durchlaufen des Abspanns beschäftigen. So fühlt es sich für mich an."
Ich frage: „Deswegen also die Auszeit?"
„Das mit den Alpträumen ist nicht alles", seufzt Archer. „Wenn ich aufwache, bekomme ich oft Panikattacken. Dann bekomme ich kaum Luft und schaffe es gerade so, die Kurzwahltaste mit Morgans Nummer zu wählen. Sie kennt Atemtechniken, die mich beruhigen und bleibt so lange mit mir am Telefon. Na ja, und das konnte sie als meine Teamleiterin irgendwann nicht mehr ignorieren. Sie hat es dem Abteilungsleiter gemeldet und der hat mich zu einer Pausierung meines Arbeitsverhältnisses verdonnert."
„Das tut mir leid", liegen mir die Worte auf der Zunge, doch ich schlucke sie wieder hinunter. Ich fange auch nicht davon an, wie falsch es von seiner Freundin gewesen ist, einzugreifen. Wohl wissend, dass ich vermutlich dasselbe getan hätte. Stattdessen frage ich: „Meinst du, dass ein paar Wochen Abstand ausreichen werden?"
Seine Brust hebt und senkt sich mit jedem Atemzug.
„Hoffentlich."
Ich drehe mich auf den Bauch, um seinen Gesichtsausdruck zu studieren.
„Und wenn nicht?"
„Es gibt keinen Plan B. Auf die Position habe ich mein Leben lang hingearbeitet. Ich bin gut, in dem, was ich tue. Es ist das Einzige, was ich kann."
Entschlossenheit umgibt jede einzelne Silbe wie ein Mantel, trotzdem habe ich den Eindruck, dass er die Ernsthaftigkeit seiner Situation entweder unterschätzt oder verdrängt.
Meine innere Kompassnadel zittert über der Mitte, mit einer Tendenz zu letzterem.
Dabei sollte Archer selbst am besten wissen, dass sich seine Probleme nicht einfach in Luft auflösen werden. So rau wie die offenen Wundränder des Todes seiner Mutter in seinem Herzen klaffen.
Ich habe es gestern Abend in seinem Gesicht gesehen, als er mir von ihr erzählt hat. Ganz deutlich. Diese Leere. Das Warum. All die gebündelte Wut auf einen Unbekannten. Und ... auf sich selbst?
„Kannst du vielleicht in eine andere Abteilung wechseln?", überlege ich laut, anstatt ihm meine Gedanken von eben mitzuteilen. Und seiner verkrampften Haltung nach zu urteilen, ist selbst das schon eine Rutschpartie auf dünnem Eis. Zumindest, wenn ich nicht will, dass er vollkommen dicht macht.
„In meinem Team kann ich wirklich was bewegen, weißt du? Wir ergänzen uns perfekt", sagt er. „Keine Fragen mehr", ist, was er insgeheim meint, während er bereits das Fundament für eine unsichtbare Mauer zwischen uns errichtet.
Also lasse ich das Thema fallen und setze mein unschuldigstes Lächeln auf. Archer lässt mich nicht eine Sekunde aus den Augen. Seine Pupillen weiten sich sichtbar, als ich beginne, sanfte Küsse auf seiner Brust zu verteilen.
Mit der Zunge ziehe ich kleine Kreise seinen Bauch hinunter, bis ich den Bund seiner Boxershorts erreiche. Jeder einzelne Muskelstrang arbeitet unter seiner glatten, heißen Haut.
„Was wird das, Peach?", presst Archer zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Dabei vergräbt er seine Hände in meinem Haar. „Eine neue Befragungsmethode ..." Doch er schafft es nicht, den Satz - oder die Frage - zu beenden. Denn ich lege ihm, durch den Stoff seiner Unterwäsche, den Mund um seinen Schaft und presse die Lippen zusammen.
„Fuck", keucht er und lässt den Kopf in den Nacken fallen. Dabei zieht er das Wort in die Länge und sein Griff in meinem Haar wird so fest, dass meine Kopfhaut brennend protestiert. Dasselbe Ziehen strahlt in meinen Unterkörper aus und lässt mich die Schenkel zusammenpressen. „Du bist so verdammt heiß. Aber noch eine Runde ist keine gute Idee. Wir haben eine harte Woche vor uns."
Meine Augen schnippen zu seinem Gesicht, weil ich zu hundert Prozent nicht mit einer Zurückweisung gerechnet habe.
Archer lockert seinen Griff um meine blonden Strähnen, bevor er sie wie Wasser durch seine Finger rinnen lässt und mein Gesicht zwischen seine Hände nimmt. „Nimm dir einen Pullover. Ich möchte dir was zeigen." Er nickt mit dem Kopf in Richtung seiner Holzkommode.
Ich öffne den obersten der drei Schieber, in der mir ein weinroter Kapuzenpulli mit gelb umrandeten Großbuchstaben im Bereich der Brust auffällt. Ich lasse meine Finger über den weichen Baumwollstoff und die glatte Oberfläche der Letter gleiten.
RCMP - das steht für Royal Canadian Mounted Police und bezeichnet unsere nationale Polizeibehörde, die man auch Die Mounties nennt.
Meine Finger schließen sich um das kuschelige Kleidungsstück, das mir angezogen vermutlich zur Mitte meiner Oberschenkel reichen wird, nur um mich in einen Kokon aus Wärme und Geborgenheit zu hüllen.
Archer schiebt mich durch die gläserne Küchentür auf die Veranda, wo der Bewegungsmelder automatisch die Außenbeleuchtung einschaltet. Wir nähern uns einer ausgefahrenen Aluminiumleiter, die seitlich an der Fassade des Anbaus lehnt.
Moment, er will doch nicht etwa ...
„Das kannst du vergessen", sage ich. Ich stemme die Hacken in die steinigen Bodenplatten, als für mich kein Zweifel mehr daran besteht, dass er tatsächlich vorhat, mit mir da hochzukraxeln. „Bist du high?"
Archer zuckt mit den Achseln.
„Ich wollte mir mit dir erst den Sternenhimmel und dann denn Sonnenaufgang ansehen, aber wenn du zu viel Angst hast, dann ..."
„Bullshit", zische ich, bevor ich dem Trottel seine Bettdecke und das Kopfkissen aus den Händen reiße. „Es ist einfach vollkommen bescheuert, im Dunkeln auf ein Dach zu klettern."
Ein süffisantes Grinsen breitet sich auf seinem viel zu perfekten Gesicht aus. Schade, dass ich es ihm nicht wegohrfeigen kann.
„Hast du bei der Einweisung nicht zugehört, Pfirsichbäckchen? Auf dem West Coast Trail wirst du massenweise Leitern begegnen. Nur, dass du dann, im Gegensatz zu jetzt, noch einen fünfzehn Kilo schweren Trackingrucksack mit dir rumschleppst."
Archers Augen funkeln amüsiert, so als wüsste er, dass ich von den Leitern gerade zum ersten Mal höre. Doch die Genugtuung einer Bestätigung gönne ich ihm nicht.
„Ich weiß, aber die sind mit Sicherheit stabiler als das klapprige Ding." Dabei lege ich eine Hand um das kühle Metall einer rostigen Sprosse. Das Bettzeug klemme ich unter den anderen Arm, bevor ich vorsichtig Schritt für Schritt nach oben steige. „Ich schwöre dir, wenn ich mir das Genick breche, bringe ich dich um."
Zu meiner Überraschung stelle ich mich gar nicht so dämlich an, wie ich befürchtet hatte und schaffe es, das Bettzeug aufs Dach zu befördern. Vielleicht liegt es aber auch an Archers Hand auf meiner Hüfte oder der beruhigenden Wirkung seiner Körperwärme, die von hinten auf mich übergeht.
Auf dem Dach des Anbaus angekommen, stolpere ich einige Schritte vorwärts.
„Wow, Arch, das ist ja ein Traum."
Mein Gezeter von eben: Vergessen.
„Ich weiß", erwidert er schmunzelnd und beugt sich nach vorn, um die Bettdecke zu unseren Füßen auszubreiten.
An der Hand zieht er mich mit einem Ruck zu sich herunter, bis unsere Köpfe nebeneinander ins weiche Kissen sinken. Sogar an eine Wolldecke hat er gedacht.
Fast automatisch wandert mein Blick zu dem spektakulären Sternenhimmel über uns, wo ich in einem Meer aus Lichtern ertrinke. Dabei sind am Horizont schon die ersten Vorboten der Morgendämmerung zu erkennen.
„Kommt jetzt der Part, wo du mich mit deinem Wissen über Planeten und Sternbilder beeindruckst?"
Archer schließt seinen Arm um mich. Sein Kopfschütteln lässt eine seiner Locken gegen meine Wange wippen.
„Offen gesagt", beginnt er in der Art Tonfall, auf den nur selten etwas Erfreuliches folgt, „wollte ich mit dir über was anderes reden."
Ich drehe mich auf die Seite und stütze den Kopf auf meiner Handfläche ab.
„Oh, oh", sage ich im Scherz. In Wahrheit schlägt mir nach seiner Ankündigung das Herz bis zum Hals.
„Keine Angst. Es ist nichts Schlimmes. Mir geht nur unser Gespräch von gestern nicht mehr aus dem Kopf." Kurz wendet Archer sich ab, so als würde er im Geiste nach einer passenden Formulierung suchen. „Ich kann mich zwar nicht mehr an den genauen Wortlaut erinnern, aber ich hatte einfach den Eindruck, na ja, als wärst du mit deinem Leben irgendwie unzufrieden. Vor allem in Bezug auf deinen Studiengang und deinen Job im Hotel."
Eine forschende Intensität legt sich über seine Gesichtszüge. Eine, der ich ausweichen möchte. Doch Archer hebt mein Kinn mit dem Zeigefinger an, bis mir nichts anderes übrig bleibt, als den Blickkontakt zuzulassen.
„Es gibt Menschen, die sich den Luxus, ihren Tagträumen hinterherzujagen, nicht leisten können. Das ist alles."
Eine tiefe Furche bildet sich zwischen seinen Augenbrauen und kurz fürchte ich, dass er meine Antwort als Anspielung auf unser Gespräch von vorhin auffassen könnte, als es um ihn ging.
Doch seine Stimmlage wirkt neutral, als er fragt: „Welche Träume?"
Darüber rede ich normalerweise nicht einmal mit Jackson, aber Archer hat mir vorhin - wenn auch vage - den Inhalt seiner Albträume anvertraut, also bringe ich ihm jetzt das dasselbe Vertrauen entgegen.
„Eigentlich wollte ich mir immer eine Ranch mit Land kaufen und eine Pferdepension aufmachen. So eine, wo berufliche stark eingebundene Pferdebesitzer ihre Tiere unterstellen können. Sie würden mich praktisch dafür bezahlen, dass ich ihre Lieblinge pflege, füttere und bewege, wenn ihnen die Zeit fehlt. Außerdem könnte ich den Reitlehrerschein machen und Unterricht geben." Ich nehme einen tiefen Atemzug durch die Nase. „Irgendwie bin ich gern draußen an der frischen Luft, auch wenn es vielleicht nicht so wirkt, weil ich noch nie Wandern oder Campen war."
Ein Lächeln zupft an Archers Mundwinkeln.
„Hört sich hammermäßig an. Ich liebe Pferde." Er kratzt sich am Hinterkopf. „Ich kapier' nur nicht, warum du dir stattdessen ausgerechnet Personalmanagement ausgesucht hast."
„Meine Mom leidet an Depressionen", beginne ich, „und das schon sehr, sehr lange. Manchmal geht es ihr so schlecht, dass sie den ganzen Tag das Bett nicht verlässt. Na ja und mein Dad ist als Naturfotograf oft beruflich unterwegs. In der Zeit sehe ich nach ihr. Deshalb habe ich mir einen Studiengang gesucht, der am Niagara College angeboten wird und einigermaßen krisensicher ist."
Aus dem Augenwinkel beobachte ich Archer dabei, wie er sein Gewicht auf einen Ellenbogen verlagert.
„Kann dein Vater kein eigenes Fotostudio eröffnen oder sich einen Job suchen, wo er nicht ständig auf Reisen ist? Ein Fotograf ist ein Fotograf - oder nicht?"
„Dad arbeitet für ein großes Internetmagazin und bekommt verschiedenste Aufträge. Wenn er, zum Beispiel, zu den Galapagosinseln geschickt wird, um eine neue Schmetterlingsart zu fotografieren, dann muss er eben dorthin. Und Cynthia hat ein Stipendium für die NYU, studiert also szenisches Schreiben in New York. Es wäre nicht fair, von ihr zu verlangen, darauf zu verzichten. Also bleibe nur noch ich und ich könnte meine Mutter nie im Stich lassen."
Archer presst den Mund zu einer schmalen Linie zusammen.
„Aha, und dass du in Niagara Falls versauerst und einen Berufsweg einschlägst, der dich nicht glücklich macht, ist in Ordnung, oder wie?"
„Was willst du denn jetzt von mir hören?", schieße ich zurück. „Du verstehst nicht, wie es ist, wenn ..."
Aber Archer fährt mir über den Mund: „Wenn sich jeder in deine Angelegenheiten reinhängt und große Erwartungen an dich stellt?" Ein bitteres Lachen entfährt ihm. „Glaub mir, ich weiß genau, wie sich das anfühlt. Du hast aber nur ein Leben, Peach, eins. Okay, vielleicht sind es auch mehrere, keine Ahnung, auf jeden Fall hast du nur einmal dieses hier. Also mach das Beste draus." Er hält kurz inne, schaut auf seine Hände und sagt: „Meiner Mom wurde das Leben, das sie sich immer gewünscht hat, einfach weggenommen, aber du ..."
Das ist mir zu viel.
„Hör zu, Archer", würge ich ihn ab und springe auf meine Füße. „Es geht nun mal nicht anders. Lass es gut sein, okay?"
Archer springt ebenfalls auf und kommt mit erhobenen Händen auf mich zu, als hätte ich ihn mit einer Pistole bedroht.
Ich verstehe zwar, was er meint, aber es ist ja nicht so, als hätte ich nicht schon selbst über all das nachgedacht. Ich habe meine Probleme und er hat seine. Warum können wir es nicht dabei belassen?
„Peach, ich wollte nicht ...", sagt er ruhig, wird aber von knirschendem Schotter und dem Schnurren eines Motors unterbrochen.
Archer wirft den Kopf herum. Ich folge seinem Blick und bemerke ein paar Scheinwerfer, die sich dem Haus in einem gemächlichen Tempo nähern.
„Scheiße", kommentiert er die Ankunft des silbernen Chevys.
„Was ist?"
„Wir müssen hier runter, komm mit", ist alles, was ich von ihm bekomme, bevor er herumwirbelt und hektisch das Bettzeug zusammenknüllt.
Fluchtartig klettert er die Leiter hinunter, die er, unten angekommen, für mich festhält.
Habe ich erwähnt, dass ich in bestimmten Situationen an Höhenangst leide?
Schwer schluckend trete ich an den Rand des Daches heran und blicke in die Tiefe. Dabei gehe ich im Kopf alle möglichen Arten von Stürzen durch, die allesamt in meinem Tod enden.
„Komm schon. Ich halte dich", versucht Archer, mich zu ermutigen.
„Ich weiß nicht wie", stammle ich, ohne ihn anzusehen. „Wenn ich beim Klettern nach unten schauen muss, dann ..."
„Bekommst du Höhenangst", vervollständigt er meinen Satz. „Okay, warte. Ich komm' dich holen." Die Sprossen knarzen unter seinem Gewicht, dann erscheint er in meinem Blickfeld und streckt den Arm nach mir aus. „Komm her, Peach. Du brauchst keine Angst zu haben. Wir klettern zusammen. Ich bleib' direkt hinter dir."
Es nützt nichts. Augen zu und durch.
„Ich schaffe das." Denn Satz wiederhole ich wie ein Mantra, als ich langsam Sprosse um Sprosse den Weg nach unten antrete. Bis meine Füße die Veranda berühren.
„Gut gemacht", murmelt Archer gegen meinen Haaransatz, als er mich fest an sich heranzieht. „Na komm, ich mach' dir einen Kaffee."
„Oh!", ertönt plötzlich eine Frauenstimme hinter uns, was Archer und mich zeitgleich herumfahren lässt. „Wusste ich doch, dass ich jemanden gehört habe."
Archer versteift sich neben mir.
„Tante Sue", grüßt er die schmunzelnde Mittvierzigerin mit den dunklen hüftlangen Haaren, die der Abbildung seiner Mutter zum Verwechseln ähnlich sieht. Sie trägt ein hellblaues Sweatkleid, schwarze Leggings und schwarze knöchelhohe Stiefeletten. Der Weidenkorb, der an ihrer Armbeuge baumelt, verströmt den Duft von frisch Gebackenem.
„Schön, dich mal wiederzusehen, Arch." Seine Tante tritt einen Schritt an ihn heran, er weicht einen zurück, wobei sich sein Arm von meiner Taille löst.
Sie mustert ihn mit einem traurigen Blick. Sein Kopf ist gesenkt und ich habe das Gefühl, einen privaten Moment zu stören. Auch dann noch, als sie mir ein warmherziges Lächeln schenkt.
„Wir kennen uns noch nicht. Ich bin Sue Ellen - Hunters Mutter und Wilburs Lebensgefährtin."
W-was?
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