„Connor ist mein Freund, M., der einzige richtige Freund, den ich habe."
Hunter lässt den Kopf hängen, sodass ihm einige Haarsträhnen nicht nur in die Stirn, sondern beinahe in den frisch aufgebrühten Kaffee fallen. Über den Tisch hinweg drücke ich seine Hand.
„Liebe kann selbst die besten von uns in den Wahnsinn treiben. Er wäre nicht der Erste, der in eine Besessenheits-Spirale gerät."
Wie ein Schluck Wasser sinkt Hunter vor meinen Augen weiter in sich zusammen. Erneut drücke ich seine Hand, was ihn zögerlich zu mir aufblicken lässt.
Die Traurigkeit in seinen Augen legt sich wie eine Eisenkette um mein Herz. Er schüttelt den Kopf.
„Das heißt aber nicht, dass man durch die Gegend rennt und Frauen entführt. Er hat doch auch nur einmal mit Thia geredet, als sie bei uns im Büro war."
„Manchmal reicht das schon, um einen falschen Eindruck zu bekommen. Und nach allem, was ich dir gerade erzählt habe, musst du schon zugeben, dass es nicht gut für ihn aussieht."
Hunter betrachtet seine Tasse, so als wäre er vom Strudel, den seine schnellen Rührbewegungen mit dem Löffel im Kaffee verursachen, wie hypnotisiert.
„Und was jetzt? Willst du ihm ins Gewissen reden, ihm eine Tränendrüsen-Geschichte erzählen?"
Ich seufze.
„Offen gesagt, habe ich mir noch nichts Konkretes überlegt. Ich werde mich vom Gefühl leiten lassen, denke ich."
„Aha, und warum sollte er ausgerechnet uns die Wahrheit sagen? Wenn Thia gefunden wird, falls er sie wirklich hat, kommt er in den Knast und-"
„Ich muss es aber versuchen, Hunt", falle ich ihm ins Wort. „Denkst du nicht auch, dass es besser wäre, wenn er sich freiwillig stellt und meine Schwester gehen lässt? Glaub mir, du willst nicht, dass Arch und Wren oder Major Crimes ihn überführen."
„Das stimmt schon. Es ist nur ..." Kurzzeitig hält er inne. „Ohne Connor hat Jess niemanden mehr. Dann ist sie ganz allein."
„Ist das seine kleine Schwester?"
Langsam nickt mein Gegenüber und auch, wenn ich Hunters Bedenken nachvollziehen kann, finde ich, dass er es sich ziemlich einfach macht.
Je länger ich darüber nachdenke, desto wütender werde ich. Und so erschrecke ich nicht nur Hunter, sondern auch mich selbst, als ich meine flachen Handflächen auf die Tischplatte knallen lasse. Er springt ruckartig von seinem Stuhl auf und katapultiert dabei die halb-volle Tasse zu Boden. Wie durch ein Wunder ist sie nicht zerbrochen.
Genauso abrupt komme ich wieder auf die Beine. Wir starren uns an, während verschütteter Kaffee auf die cremefarbenen Küchenfliesen tropft.
„Seine gerechte Strafe muss er trotzdem bekommen. Oder nimmst du ihn ernsthaft in Schutz?" Hunter hebt die Hände zu einer beschwichtigenden Geste. „Connor ist ein Verbrecher und ich kann nichts dafür, dass er eiskalt riskiert, seine Schwester zum Pflegekind zu machen. Mir sind auch seine Beweggründe egal oder ob er krank ist. Wir müssen ihn ganz einfach stoppen, Hunt." Kraftlos lasse ich die Arme an meinen Seiten herunterfallen. „Bitte."
Seine braunen Augen füllen sich mit Tränen, als er den Tisch umrundet und mich in eine grobmotorische Bärenumarmung zieht.
„Tut mir leid", schnieft Archers kleiner Bruder in mein offenes Haar. Seine Tränen sickern knapp über dem Ohr zu meiner Kopfhaut durch. „Natürlich helfe ich dir. Aber ich hab' auch Angst."
„Ich weiß. Es ist aber nun mal das Richtige. Bring mich zu ihm, okay?"
„Das ist es?"
Von der gegenüberliegenden Straßenseite aus mustere ich Connors Einfamilienhaus. Bungalow trifft es schon eher.
Hunter brummt zustimmend: „Mhm."
Das dunkelgraue Satteldach spitzt sich in einer flachen, langsamen Steigung nach oben hin zu, während die vanillefarbene Fassade auf einer Hälfte beinahe vollständig unter dichtem Efeubewuchs verschwindet. In der kurzen, breiten Betoneinfahrt vor der offenen Garage sind ein silbergrauer Toyota Corolla und ein rotes Bonanzarad geparkt. Vor der Haustür haben sich verschiedene Männer- und Kindersneakers, ein Skateboard, ein Basketball und mehrere leere Tonblumentöpfe angesammelt. Aber ich mag das Chaos, genau wie das Windspiel aus grünem und blauen Meeresglas- sowie Treibholzstücken über der Haustür, das unbeschwert in der Morgenbrise tanzt.
Aus dem Augenwinkel nehme ich Bewegungen wahr und stelle fest, dass Hunter gar nicht mehr bei mir hier drinnen ist.
Stattdessen entdecke ich ihn auf der anderen Seite der Windschutzscheibe. Hunter gestikuliert in meine Richtung, was mir die volle Aufmerksamkeit des Mädchens mit den schulterlangen schwarzen Haaren und den tiefbraunen Augen einbringt, dem er gegenübersteht.
Ihr weißes T-Shirt trägt die Aufschrift „RUN FREE" in fetten bunten Großbuchstaben und darunter ist die regenbogenfarbene Silhouette eines galoppierenden Pferdes zu erkennen. Ab der Taille verschwindet das Shirt unter einem sonnengelben knöchellangen Rock, der ringsherum mit verschiedenfarbigen Bändern bestickt wurde. Vom Alter her ordne ich sie in die vierte Klasse ein, doch ich bin mir nicht sicher.
„Jessie, das ist meine Freundin Mallory", höre ich Hunter sagen, als ich mich aus dem Sitz schäle und die Autotür hinter mir schließe. „Mallory, das ist Jessie oder Jess - die kleine Schwester von meinem Kumpel Connor. Apropos ..." Er lässt den Blick zur offenen Garage schweifen. „Wo ist dein Bruder?"
Sie zuckt mit den Schultern.
„Con geht neuerdings jeden Morgen joggen, aber eigentlich sollte er bald wieder zurück sein. Er muss mich nachher zur Schule fahren." Ein herzliches Lächeln stiehlt sich auf ihre Lippen. „Wollt ihr mit uns frühstücken? Ich weiß jetzt, wie man Waffeln macht."
Hunter legt Jessie eine Hand auf die Schulter. Die Lippen hat er zu einer schmalen Linie zusammengepresst, während seine Mundwinkel nur minimal nach oben zeigen.
Wenn ich mich schon fühle, als wäre ich im Begriff, ein unschuldiges Kind zu verraten, wie muss es dann erst Hunter gehen?
Doch diesen Schuh kann und werde ich mir nicht anziehen. Es ist ganz allein Connor, der die Konsequenzen seines Handelns zu verantworten hat. Wenn seine kleine Schwester dem Pflegesystem übergeben werden muss, ist das allein seine Schuld, denn das Risiko hat er wissentlich in Kauf genommen.
„Heute nicht, Minnie Maus", erwidert Hunter. „Wir müssen wirklich dringend mit Connor reden. Weißt du, in welche Richtung er abgedüst ist?"
Jessie schüttelt den Kopf. Ihre Leichtigkeit von eben wirkt aufgrund der gekräuselten Stirn wie weggeblasen.
„Ist was passiert?", will sie wissen. Vermutlich spürt sie, dass hier etwas nicht stimmt. Kinder sind ja nicht dumm.
Dass wir sie im Prinzip bitten, uns zu helfen, ihren eigenen Bruder zu überführen - ihn ins Gefängnis zu bringen - fühlt sich beschissen an. Zu hoffen, dass wir bezüglich Connor auf dem Holzweg sind, bringe ich aber auch nicht übers Herz. Zum ersten Mal, seit ich nach Vancouver Island gekommen bin, verfolgen wir eine echte Spur.
Die Bürde, Jessie zum Wohl meiner Schwester anzulügen, will ich Hunter trotzdem nicht länger allein auferlegen.
„Wir müssen ihn nur etwas Wichtiges fragen", mische ich mich ein. Jessies Augen suchen meine. Fest blicke ich ihr entgegen. Ich muss überzeugend sein. „Am besten wartest du drinnen. Wir fahren etwas herum und schauen mal, wo er steckt, in Ordnung?"
„In Ordnung", seufzt sie.
Hunter deutet mit dem Daumen über seine Schulter in Richtung Haus.
„Kann ich vorher euer Klo benutzen?"
Im Gegensatz zu ihm muss ich nicht zur Toilette. Dafür bin ich ziemlich durstig und möchte mich drinnen ein wenig umschauen, soweit das möglich ist.
„Ist es okay, wenn ich mir Gläschen Leitungswasser nehme?"
Jessies gesamtes Gesicht strahlt, als würde sie von einer inneren Sonne erhellt.
„Klar, kein Problem. Hunt, du weißt ja, wo alles ist. Ich sage euch schon mal Tschüss. Ich muss nämlich noch mein ganzes Schulzeug zusammensuchen, bis Con wieder da ist."
Wir folgen ihr ins Haus, wo sie mit einem letzten Blick in unsere Richtung hinter einer weißen Tür mit ihrem Namen verschwindet, der mit rosa Buchstaben am lackierten Holz angebracht wurde.
Ich wünschte wirklich, wir hätten uns unter anderen Umständen kennengelernt.
„Da, da, da!" Meine Finger bohren sich vor lauter Schreck so kräftig in Hunters Schulter, dass er das Lenkrad verreißt und wir kurzzeitig ins Schlingern geraten, bevor er den Wagen wieder unter Kontrolle bekommt.
Connor wirkt aus dieser Entfernung wie ein normaler Läufer. Er trägt ein schwarzes Adidas-T-Shirt mit neon-oranger Aufschrift und Streifen sowie schwarze Laufshorts. Das lange, wellige Haar hat er auf dem Kopf in einer Art Dutt zusammengebunden. Wie ein Kaninchen, das einen Haken schlägt, verschwindet er in einer Kurve hinter den Bäumen. Die Holland Farm dürfte sich ganz in der Nähe befinden.
„Scheiße, Mallory", zischt Hunter, ohne den Blick von der Fahrbahn zu nehmen. „Mach. Das. Nie. Wieder."
Meinetwegen wären wir fast von der Straße abgekommen. Kein Wunder, dass ihm die Hutschnur platzt.
„Sorry. Ich bin durchgedreht, als ich Connor gesehen habe."
Schweigend parkt Hunter Sue Ellens silbergrauen Chevy am Straßenrand. Seine Hände lässt er am Lenkrad.
„Das hier gefällt mir nicht, Mallory." Nicht M. Sein Blick schweift durch das Fenster der Fahrertür nach draußen. „Ich weiß, dass du in Ruhe mit ihm reden willst, aber es wäre vollkommen bescheuert, da noch einmal allein reinzugehen. Ich meine, der hat dich gewürgt." Hunter lehnt die Stirn gegen das Lenkrad und schließt die Augen. „Das muss ich erst mal alles verdauen. Fakt ist, das ich Connor bei Weitem nicht so gut kenne, wie ich dachte. Am Ende hat er noch eine Waffe und dann sind wir gef-" Er räuspert sich. „Ich meine, dann sind wir geliefert."
„Du wolltest gefickt sagen, oder?" Hunter grinst nur. „Bin ganz deiner Meinung. Also was tun wir? Rufen wir gleich die Polizei? Ich will Arch und Wren dort auch nicht noch einmal reingehen sehen."
Hunter atmet geräuschvoll aus, bevor er sein Google Phone aus der hinteren Tasche seiner Jeans zieht.
„Fuck, wenn man vom Teufel spricht." Er hält mir das Telefon unter die Nase.
Mein Finger wandert zum grünen Hörer. Ich schalte ich den Lautsprecher ein.
„Was zum Teufel, Alter? Wo seid ihr?"
„Hey Arch." Meine Stimme halte ich weich und süß wie Zuckerwatte.
„Du kleine ..." Archer gibt ein Knurren von sich, das mir auf direktem Weg in die Magengrube fährt. Er ist sauer, richtig sauer. Ich kann hören, wie seine harsche Atmung auf die Sprechmuschel niederprasselt. „Ihr seid doch hoffentlich nicht dort, wo ich denke?" Dann raschelt die Leitung und ich höre ihn sagen: „Die nächste links."
„Reg dich nicht so auf, in deinem Alter muss man sein Herz schonen." Oh mein Gott. Was rede ich denn da?
„Jetzt werd bloß nicht frech, junge Dame", kehrt er meinen Spruch ins Gegenteil um und ich kann ein kleines Lächeln heraushören. „Wo seid ihr, Peach? Bei der Farm? Hast du Todessehnsucht? Ist es das?"
„Hunt hat mich zu Connor gefahren. Wir dachten, dort können wir in Ruhe mit ihm reden. Gerade auch, wenn seine Schwester im Haus ist, aber ..."
„Aber?"
„Jessie war allein. Sie meinte, er wäre joggen gegangen. Also sind wir auf gut Glück der Otter Point Road gefolgt und da haben wir ihn entdeckt."
„Mallory!" Oh, oh, schon wieder mein voller Name. „Sag mir bitte, dass du nicht mit meinem Bruder auf der Farm rumkriechst."
„Nein. Hunter hat den Wagen ein Stück die Straße runter geparkt. Wir überlegen gerade, die Polizei zu rufen. Ich weiß bloß nicht, was ich denen erzählen soll."
Hörbar atmet Archer aus.
„Okay, das wird wohl das Beste sein. Sag denen einfach die Wahrheit, zumindest teilweise. Sag, du wolltest mit Connor reden, bist ihm gefolgt und dann ist er auf dem Grundstück der alten verlassenen Holland-Farm verschwunden. Das kam dir verdächtig vor, also dachtest du dir, du solltest es melden."
„Okay, ja, das klingt gut. Danke, Babe!"
„Babe, hm?" Archers dunkles Lachen erinnert mich an Doktor Evil aus den Austin Powers Filmen. Neben mir beißt sich Hunter grinsend auf die Unterlippe und ich merke, wie mir Hitze in die Wange schießt. „Du denkst wohl, ich vergesse eure bescheuerte Aktion, wenn du mich um den Finger wickelst?"
„Vielleicht?"
„Das wäre zu einfach. Da kennst du mich besser." Damit wechselt sein Tonfall von verspielt zu ernst. „Bleibt, wo ihr seid und ruft die Polizei, okay? Keine Alleingänge. Wren und ich kommen zu euch."
„Gut, bis gleich." Die Leitung klackt, der Anruf ist weg.
„Du hast ihn gehört", sagt Hunter. Er hält mir eine weiße Visitenkarte mit dem Logo irgendeiner Behörde unter die Nase. Detective Sergeant Bradley und Major Crimes ist darauf zu lesen, zusammen mit einer Festnetz- und einer Mobilnummer.
„Bradley", herrscht mich die tiefe, klare Stimme am anderen Ende nach dem ersten Klingeln an.
„Hallo, ähm, Mallory Levisay am Apparat. Ich rufe an, weil-"
„Miss Levisay", unterbricht er mein Gestammel. „Meine Kollegen und ich haben gerade über Sie gesprochen."
„Haben Sie?" Mir wird schlecht.
„Ja, weil wir Ihre Eltern bereits befragt und dabei etwas Interessantes erfahren haben."
„Und das wäre?" Ein tennisballgroßer Kloß bildet sich in meinem Hals. Bei Hunter finde ich auch keinen seelischen Beistand, da er mit zusammengezogenen Brauen auf den Bildschirm starrt.
„Dass Sie seit einer Woche in der Gegend sind." Nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: „Wäre schön, wenn sie mal zu uns reinkommen könnten. Wenn Sie keinen Wagen haben, holen-"
„Con!" Der plötzliche Aufschrei ist so schrill, dass mir das Handy aus der Hand rutscht, als Hunter und ich gleichzeitig herumwirbeln.
Das Mädchen von vorhin - Jessie - hockt auf unserer Rückbank. Abwechselnd hämmert sie mit beiden Fäusten gegen die Scheibe und versucht, die Autotür aufzubekommen. Die Kindersicherung verhindert das jedoch.
Alles, was ich höre, sind Schreie. Jessie, die wiederholt den Namen ihres Bruders ruft und Hunter, der versucht, sie zu beruhigen.
Meine Herzfrequenz überschlägt sich, das Atmen wird schwieriger, ich bekomme Panik - und dann bleibt meine Welt ebenso abrupt wieder stehen.
Denn als ich ihrem starren Blick mit den Augen nach draußen folge, kommt Connor aus derselben Richtung, in die er vorhin verschwunden ist, auf uns zu. Nur ist er nicht allein.
Meine Hände zittern, als ich mit Knien aus Pudding durch die Autotür direkt auf die Straße stolpere, sodass ich mich die ersten Schritte mit den Händen auf dem Asphalt abstützen muss wie ein Menschenaffe.
„Thia!"
Meine Stimme hört sich selbst in meinen eigenen Ohren fremd an.
Connor hebt die Hände, als wolle er mir zeigen, dass er unbewaffnet ist, mir nichts Böses will. Keine Ahnung. Mein Kopf macht dicht. Ich weiß nichts mehr, mein Körper übernimmt. Wie auf Autopilot falle ich meiner Schwester in die Arme. Es ist Muskelerinnerung. Wir fügen uns aneinander wie Yin an Yan. Meine Schwester. Meine Kleine. Lebendig.
Mit meinen Händen an ihren Schultern bringe ich zwei Fußlängen Abstand zwischen uns, um sie zu betrachten. Cynthia trägt ein weißes Männerunterhemd und schwarze Boxershorts. Ihre Haut ist ein wenig blasser als sonst, blaue Flecken kann ich aber weder in ihrem Gesicht noch an ihren nackten Gliedmaßen entdecken.
„Bist zu okay?" Mein Kinn zittert. „Hat er dich-"
„Nein, Gott, nein. Er hat mich nicht angerührt." Sie schnieft. „Und jetzt geht es mir wieder gut."
Die Antwort kommt mir komisch vor. Auch, wenn mir nicht klar ist, woran das liegen könnte. Zudem bin ich gerade zu überwältigt, um länger darüber nachzugrübeln. Es sind nicht nur Erleichterung und Wiedersehensfreude, die in mir aufsteigen, sondern blendende Wut.
Connor und ich sehen meine Ohrfeige, glaube ich, beide nicht kommen, als ich zu ihm herumfahre. Ehe ich merke, was ich getan habe, hallt ihr Echo bereits zwischen den Bäumen wieder.
Doch als er sich die Wange reibt, ruhen seine Augen nicht auf mir. Ich schaue über meine Schulter.
Hunter hat den Arm um Jessies Mitte geschlungen. Er redet auf sie ein, hält das Mädchen davon ab, zu ihrem Bruder zu laufen. Mein Herz bricht mit jedem Mal, das sie weinend und mit ausgestreckten Armen seinen Namen ruft.
„Nicht weinen, Jess. Bitte." Connor klingt so heiser, als hätte er monatelang kein Wort gesprochen und nichts getrunken. „Alles wird gut."
Es würde mich nicht überraschen, wenn Jessie ihn gar nicht gehört hat. Hunter und sie sind schätzungsweise zwanzig Meter von uns entfernt. Auf jeden Fall beruhigt sie sich nicht. Wer kann es ihr verdenken?
Wenn ich mir überlege, was Hunter und ich im Auto alles beredet haben. Wenn ich an die beiden Telefonate denke - das alles hat sie mitbekommen.
In meinem Kopf setzen sich die Puzzleteile zusammen. Jessie muss sich in den Wagen geschlichen und im Fußraum der Rückbank versteckt haben, als wir in der Küche und auf der Toilette gewesen sind.
Es ist der letzte klare Gedanke, den ich fasse, bevor um uns herum die Hölle losbricht.
Flackernde Lichter färben die Straße und Bäume blau und rot. Sirenen, quietschende Reifen und harsches Gebrüll erzeugen die Atmosphäre eines Kriegsschauplatzes. Thia und ich krallen uns aneinander fest, Connor hebt die Hände. Wie ein wildes Tier, das man in die Ecke getrieben hat, dreht er sich unkoordiniert in alle möglichen Richtungen. Hunter und Jessie verschwinden zwischen Polizeiautos und einer Feuerwehr, bevor ein dutzend Männer in dunkelblauen Uniformen in unsere Richtung stürmen. Ihre Befehle verknoten sich in meinem Kopf zu einem einzigen, verworrenen Knäuel. Ich kann kein einziges Wort verstehen.
Deshalb bemerke ich das andere Auto nicht gleich, das sich uns aus der anderen Richtung nähert. Es gehört nicht zur Polizei. Wilburs leuchtend roter Pick-up kommt mitten auf der Fahrbahn zum Stehen, bevor beide Vordertüren aufgehen.
„Zurückbleiben", bellt ein autoritäre Stimme aus Richtung der Polizisten. Mir schießt Adrenalin in die Blutbahn. Thia hat ihr Gesicht in meiner Halsbeuge vergraben. Sie zittert am ganzen Leib und ich muss befürchten, dass mich meine eigenen Beine gleich im Stich lassen werden.
„Es tut mir leid, Sonne. Hoffentlich kannst mir irgendwann verzeihen", erreicht uns Connors Stimme trotz all dem Radau. Meine Schwester hebt den Kopf und für einen Moment schauen sie einfach nur an. Dann greift er in die Hosentasche seiner schwarzen Laufshorts. Ich erstarre.
„Hände, wo wir sie sehen können", brüllt einer der Polizisten.
Gleichzeitig nähert sich Wren von hinten. Beschwichtigend hebt der große Blonde die Hände.
„Er hat keine Waffe, Jungs. Das ist nur eine Kette. Nicht schießen."
Connor macht den Fehler, die Hand weiter aus seiner Hosentasche zu ziehen. Ist der lebensmüde?
Ein ohrenbetäubender Schuss ertönt. Und obwohl wir den hätten kommen sehen müssen, zucken Thia und ich so heftig zusammen, dass unsere Schläfen schmerzhaft kollidieren, bevor wir von einem schweren Körper zu Boden gerissen werden. Blonde Locken fallen mir ins Gesicht. Locken, die mir nicht gehören.
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