Kapitel 27 | Archer

„Was ist? Nicht die Blondine, auf die du gehofft hast?", trällert Wren, als er die schneeweiße Haustür aufreißt.

„Nicht wirklich", gebe ich zurück, bevor er mich in eine kurze Männerumarmung und dann in den hellen Eingangsbereich des einstöckigen Hauses zieht.

Bestaunt habe ich das Feriendomizil heute Nachmittag schon, als ich Wren und Mallory hergefahren habe. Mir gefällt die ruhige Lage im sattgrünen Nirgendwo. Wobei ich den hinteren, zum Waldrand gelegenen Teil, in dem sich das Wohnzimmer befindet, als das absolutes Highlight bezeichnen würde.

Im Prinzip verteilen sich über zwei Drittel des Hauses auf Erdgeschoss und ersten Stock, während der Wohnbereich nach oben hin offen ist. Man lässt also den Kopf in die Lehne der anthrazitfarbenen, L-förmigen Polstercouch sinken und kann so die spitz zulaufenden Dachbalken bestaunen. Oder, aber, man genießt die Aussicht aus der durchgängigen Glasfront, die die gesamte Rückseite einnimmt.

Das ist ja ein Traum", hallt Mallorys Stimme in meiner Erinnerung wider, als würde sie hier direkt neben mir stehen.

Unwillkürlich zupft ein Lächeln an meinen Mundwinkeln, als ich daran denke, wie verträumt sie ausgesehen hat. Und wie lebhaft ich mir plötzlich vorstellen konnte, irgendwann ein eigenes Heim mit ihr aufzubauen.

In meiner Fantasie machen wir es uns an einem Regentag zusammen auf dem Sofa gemütlich. Draußen vergießt der Himmel dicke Krokodilstränen. Hier drinnen stützt Mallory ihre Füße auf dem Couchtisch ab, hoffnungslos vertieft in den dicken Wälzer auf ihren nackten Oberschenkeln. Ich liebe es, wenn sie eines meiner weißen T-Shirts trägt und wie ihre Zehen wackeln, wenn sie liest. Himmelblauer Nagellack schimmert mir entgegen. Auftragen musste ich ihn für sie, denn ihr Bauch ist inzwischen so kugelrund, mit meinem Kind darin, dass sie ihre Füße selbst nicht mehr erreichen kann.

Plötzlich hallt Hundegebell durchs ganze Haus, begleitet von einem klackenden Kratzgeräusch. Ein schwarz-weiß gefleckter Border Collie kommt um die Ecke geschossen, springt auf die Couch und schmiegt sich an das Bein meiner Frau.

Gedankenverloren lässt Mallory ihre Finger im flauschigen Fell seines Halses verschwinden, weil die Situation so normal ist, dass sie nicht einmal mehr von ihrem Buch aufblickt. Für mich ist es der Moment, wo ich den Zeichenblock und einen Kohlestift hervorhole, um Mallory auf einer der wenigen noch freien Seiten zu verewigen – am liebsten immer sie. Gott, ich bin so ein Creep.

„Tante Sue hat mir einen Anhaltspunkt gegeben", beende ich meine Träumerei, indem ich mich wieder auf die Gegenwart konzentriere. „Ich will euch was zeigen. Wo ist Mallory?"

Wren deutet über seine Schulter hinweg in Richtung Flur.

„Da bin ich ja mal gespannt. Sie ist in ihrem Zimmer."

Ohne groß darüber nachzudenken, bewege ich mich auf die Tür aus hellem Naturholz zu. Einen Spaltbreit ist sie geöffnet, aber von der anderen Seite dringen keinerlei Geräusche zu mir nach draußen. Ich hebe die Hand zu einem dreifachen Klopfen. Keine Reaktion.

Die Tür schiebe ich vorsichtig auf. Mallory liegt mit leicht angewinkelten Beinen auf der Seite. Ihr zierlicher Körper ist um ein großes weißes Kopfkissen gewickelt, der Rücken mir zugewandt. Den kleinen weißen Bluetooth-Kopfhörer in ihrem Ohr entdecke ich als Letztes, weil dieser teilweise von ein paar blonden Strähnen verdeckt wird. Das erklärt auch, warum sie mich nicht gehört hat.

Unsere Augen treffen sich in der spiegelnden Fensterscheibe und für einen Moment bewegt sich keiner von uns.

Weil sich der Himmel zugezogen hat, während das circa fünfzehn Quadratmeter große Zimmer vom warmen Licht einer Stehlampe erhellt wird, kann ich sämtliche Details ihres Gesichts im Glas erkennen. Ihr Blick spricht Bände in einer Sprache, die ich nicht verstehe, weil wir uns eben doch noch nicht so lange kennen, wie es mir manchmal vorkommt.

Mallory betrachtet mich ebenso schweigend, bevor sie sich langsam aufrichtet und die Kopfhörer herausnimmt. Das schimmernde Haar fällt ihr über die Schultern. Ich kann mich noch genau erinnern, wie es sich auf meiner Haut anfühlt – oder wenn es um meine Hand gewickelt ist. Der Gedanke erregt mich. Auch, wenn ich die Kissenabdrücke auf ihrer linken Gesichtshälfte in erster Linie niedlich finde.

„Hab' ich dich geweckt?", wispere ich, um sie nicht gleich mit meiner Präsenz zu überrollen.

Langsam schüttelt sie den Kopf.

„Nein, alles gut", sagt Mallory und lässt sich dabei mit den Füßen voran aus dem Bett gleiten. Mit wenigen Schritten durchquert sie den Raum, nur um eine Fußlänge vor mir zum Stehen zu kommen. „Wie lief die Familienkonferenz?"

Ihre Bezeichnung für das Gespräch zwischen Dad, Tante Sue, Hunter und mir bringt mich zum Lächeln. Es ist schön, dass sie fragt, sich für mein Leben interessiert. Trotz allem.

„Dad und Sue waren super – ehrlich und verständnisvoll. Außerdem glaube ich, dass wir damit einen wichtigen Grundstein für die Zukunft gelegt haben. Wir müssen generell offener miteinander umgehen, glaub' ich."

Mallory entlässt einen langen Atemzug, als hätte sie für die Dauer meiner Antwort die Luft angehalten.

„Das ist so wahr. Eine berufliche Zwangspause war echt das Beste, was dir hätte passieren können." Meine Augenbrauen schießen in die Höhe, denn ihre Worte überraschen mich. Schließlich weiß sie, wie viel mein Job mir bedeutet. „Du brauchst deine Familie", fährt sie fort, „und sie brauchen dich. Ich finde, du solltest überlegen, zurückzukommen – dir hier etwas aufzubauen."

Es ist nicht das erste Mal, dass einer von uns den anderen dazu zwingt, seine oder ihre Lebensentscheidungen zu hinterfragen. Denn auch wenn ich in meinem Job gute Arbeit leiste, bringt es mir nichts, wenn er mich langsam umbringt wie eine tägliche Dosis Gift.

Aber darüber möchte ich gerade nicht nachdenken. Lieber konzentriere ich mich darauf, wie Mallorys warmer Atem mein Gesicht streichelt. Wer weiß, wie oft es noch dazu kommen wird? Oder wie meine braunen Augen in den Tiefen ihrer blauen versinken, deren Farbe zu den Pupillen hin immer dunkler wird. Wie Sonnenstrahlen, die eine Wasseroberfläche immer weniger durchdringen, je weiter man untertaucht.

Genau so kommt es mir vor: Als würde ich nach zwei Minuten unter Wasser die Oberfläche durchbrechen und zum ersten Mal atmen.

Ihr Blick ruht auf meinen Lippen, bis Mallory eine Hand über meinem Herzen platziert. Ihre Augen schießen zu meinen hoch. Scheinbar hat mich der rasende Rhythmus, in dem es schlägt, verraten.

„Peach ..."

„Mh?"

Keiner von uns beendet den Blickkontakt, auch nicht, um zu blinzeln – bis sich Mallory auf die Zehenspitzen stellt, um meinen Kiefer mit Küssen zu übersäen. Im Stakkato schlagender Flügel flattern meine Lider zu, weil ich wieder an unseren ersten gemeinsamen Abend denken muss.

Das Déjà-vu jagt rastlose Energie durch meinen Körper, die dem versehentlichen Kontakt mit einem Elektrozaun gleichkommt. Doch ich zucke nicht zurück. Stattdessen entfährt mir ein knurrender Laut, der irgendwo tief aus meiner Kehle kommt. So sehr überrumpelt mich ihre Aktion.

Heiße, feuchte Lippen krachen gegen meine. Die Auswirkungen dessen spüre ich am ganzen Körper. Fuck, es ist sexy, wie Mallory in den Kuss hinein seufzt. Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass ich davon nicht hart werde. Den Beweis drücke ich gegen ihren Unterleib. Alles um uns herum gerät in den Hintergrund.

Meine kleine Sirene legt mir die Arme um den Hals, knabbert an meiner Unterlippe, bis ich den Mund für sie öffne. Wie bei einem perfekt choreografierten Tanz bewegt sich ihr Körper im Einklang mit meinem.

Ich schiebe, sie zieht.

Sie gibt, ich nehme. Alles.

Genauso instinktiv lasse ich meine Hände die Kurven ihrer Taille und Hüfte hinuntergleiten. Fingerspitzen bohren sich in weiches Fleisch, als ich sie am Hintern hochhebe, bis sie mir die Beine um den Unterkörper schlingt. Es ist das erste Mal, dass ich Mallory in engen Jeansshorts mit zerfranstem Saum sehe – und spüre. Ich bin Metall und sie mein stärkster Magnet.

Genau diese Erkenntnis ist es, die mich innehalten lässt.

Mallory macht so viel durch im Moment, ist verletzlich. Und selbst wenn sie, wie ich, ihre Kraft aus den Augenblicken zieht, in denen wir uns ineinander verlieren, glaube ich, dass sie gerade in erster Linie einen Freund braucht. Einen Menschen, der ihr beisteht – ohne Wenn und Aber. Ich werde ihren Wunsch respektieren. Auch, wenn wir beide diesen gerade kurzzeitig ignoriert haben.

Schwer atmend löse ich meine Lippen von ihren, lehne meine Stirn an ihre.

„Wir sollten das nicht tun. Nicht so. Nicht jetzt. Dafür bedeutest du mir zu viel."

„Was? Aber ich ... ich ..."

Mallorys Augen huschen zwischen meinen hin und her, während sie um Fassung ringt – und ich ihren Anblick in mich aufsauge.

Gerötete Wangen, wund geküsste Lippen.

Ich will noch etwas sagen, die richtigen Worte finden, damit sie das hier nicht als Ablehnung auffasst. Doch da lässt uns ein schlürfendes Geräusch zusammenzucken.

Wren lehnt in der Tür, die Knöchel überkreuzt und schüttelt eine leere Colaflasche mit Strohhalm darin vor seinem Gesicht.

„Immer wenn's spannend wird", seufzt er, als wäre seine Lieblingssendung gerade durch eine Werbepause unterbrochen worden. Die Hand samt Flasche lässt er nach unten sinken, bis sein Arm locker an der Seite baumelt. „Das war der Hammer, Leute. Ich muss mir auch wieder eine Freundin suchen."

Ich setze Mallory wieder ab.

„Brauchst du nicht", sagt sie.

Wren runzelt die Stirn.

„Warum das?"

„Weil ich dich gleich umbringe, du Spanner."

Dann greift sie sich ein quadratisches rosa Zierkissen vom Bett und ich beobachte amüsiert, wie sie Wren damit in den Flur hinaus verfolgt.

──⇌••⇋──

Im Wohnzimmer lasse ich mich auf die gemütliche Couch plumpsen. Mallory faltet sich im zur Polstergarnitur passenden Sessel zusammen und sitzt mir dadurch direkt gegenüber. Nur ein runder Tisch trennt uns, es könnte aber ebenso gut ein Fußballfeld sein.

Nach unserem Kuss schaut sie überallhin, nur nicht in meine Richtung.

„Wenn die Ringe für sein Alter stehen, muss der Baum steinalt gewesen sein", höre ich sie nach einer gefühlten Ewigkeit sagen. In Wahrheit waren es vermutlich nur zwei Minuten. Mit der Hand streicht sie über den aus einer Baumstammscheibe gefertigten Couchtisch.

Augenblicklich fällt ein wenig Spannung von mir ab, weil mir ein unverfängliches Gesprächsthema lieber ist, als unangenehmes Schweigen. Zumal Wren gerade in der Küche das Abendessen erwärmt und damit als Puffer zwischen uns ausfällt.

„Definitiv. Im Süden der Insel gibt es einige Altbäume. Viele Menschen hier kämpfen dafür, dass sie nicht abgeholzt werden, demonstrieren und bilden Blockaden. Damit nehmen sie Gefängnisstrafen und heftige Bußgelder in Kauf. Und danach ..."

Mallory beendet meinen Satz: „Gehen sie zurück, um weiter für ihre Baumriesen zu kämpfen."

Ich nicke.

„Ganz genau."

„Essen ist fertig, Kinder", plärrt Wren in dem Augenblick durch das gesamte Haus. Mallory formt die Augen zu Schlitzen und ich muss lachen.

„Meinst du nicht, dass du ihn vorerst ausreichend vermöbelt hast? Das arme Kissen braucht eine Pause."

„Das Kissen vielleicht, aber ich nicht", erwidert sie dermaßen ernsthaft, dass ich nicht sicher bin, ob es als Scherz gemeint war. Vermutlich nicht. Amüsiert folge ich ihr in die Küche.

Wren schreckt hoch, als er uns bemerkt, als hätte er nicht so schnell mit uns gerechnet.

Hastig klappt er den Bildschirm seines silbergrauen MacBooks herunter. Dabei hat er gerade noch auf das Display gestarrt und auf seiner Unterlippe herumgekaut.

„Hey, ihr seid ja schon hier", stammelt er und ich stutze.

„Was machst du da?", hakt Mallory nach, bevor ich es tun kann. Wren kratzt sich am Hinterkopf.

„Ähm, nichts?"

Okay, scheiß drauf.

Ich umrunde die Kücheninsel und klappe den Laptop wieder auf. Was ich dort vorfinde, zaubert mir ein Lächeln auf die Lippen.

„Bild dir bloß nichts drauf ein", grummelt Wren, bevor er drei runde weiße Teller aus dem Geschirrschrank holt und auf dem Esstisch platziert. „Ich wollte mich nur weiterbilden."

Scheinbar macht das auch Mallory neugierig. Sie gesellt sich zu mir.

„Ist das ...?", setzt sie an.

„Die Webseite der Ditidaht First Nation, ja."

Offenbar war Wren gerade dabei, sich mit der Kultur und den Traditionen meiner Leute zu beschäftigen. Etwas, das ich in den vergangenen Jahren selbst häufiger vernachlässigt habe, als mir im Nachhinein lieb ist.

Grinsend schüttle ich den Kopf, als ich an unsere Anfänge zurückdenke. Dass Wren und ich uns einmal so gut verstehen würden, hätte ich niemals für möglich gehalten. Aber in den vergangenen Tagen ist viel passiert. Ich mag ihn. Wir sind richtig gute Kumpels geworden.

„Was hat es eigentlich damit auf sich?"

Ich blicke zu ihm auf und sehe, dass der blonde Hüne mit der Landkarte herumwedelt, auf der mir Tante Sue das Ziel unserer heutigen Nacht-und-Nebel-Aktion eingezeichnet hat. Davon wissen die zwei noch gar nichts.

Mit einer Handbewegung bedeute ich ihm, mir die Karte auszuhändigen. Dann breite ich sie zwischen unseren Tellern auf dem Esstisch aus.

„Was hast du da eingekreist?"

Mallorys Arm streift gegen meinen, so nah kommt sie mir.

„Das ist die alte Holland Farm."

„Aha, und was hat das mit unseren Ermittlungen zu tun?", will Wren wissen, als er erst einen Topflappen und dann die Pfanne mit dem Stroganoff-Geschnetzelten meiner Tante auf dem Tisch platziert.

„Na ja, Connor schaut dort mindestens einmal pro Woche für die Besitzerin nach dem Rechten, bis sich ein Verkäufer gefunden hat."

Seine Augen werden groß.

„Du bist also meiner Meinung, was den Typen angeht?"

„Ein Stück weit, ja. Er hat irgendwas an sich und momentan ist das der einzige Hinweis, dem wir nachgehen können."

Mallory verlässt ihren Platz neben mir und huscht aus der Küche.

„Wo willst du hin?", rufe ich ihr hinterher. „Wir können da jetzt nicht sofort hinfahren." Als das Geräusch ihrer nackten Füße auf dem Holzfußboden lauter wird und Mallory wieder in meinem Blickfeld erscheint, füge ich hinzu: „Lass uns was essen. Damit wir uns da umschauen können, muss es sowieso dunkel sein. Hab Geduld, okay?"

Inzwischen sind die späten Abendstunden über Port Renfrew hereingebrochen. So viel zum Thema früh schlafen gehen. Das hellgelbe Licht der vollen Mondkugel und ein perfekter Sternenhimmel hüllen die Landschaft in einen silbrigen Schimmer.

„Hast du die Navigation gestartet", frage ich Wren, der mit dem Rücken zu mir steht. Statt zu antworten, hebt er sein iPhone in die Höhe, bis ich die Oberfläche seiner Karten App erkennen kann.

Der große Blonde erreicht den silbergrauen Chevy meiner Tante als Erstes, öffnet die Beifahrertür für Mallory und bedeutet ihr, einzusteigen. Anschließend hüpft er hinter ihr auf die Rückbank. Dabei erhellt der grelle Handy-Bildschirm sein Gesicht.

Es ist so weit. Wir werden das wirklich tun. Wir werden Hausfriedensbruch begehen. Aber schon die Aussicht, dort womöglich Cynthia zu finden, macht es das absolut wert.

Ich lasse den Wagen langsam aus der betonierten Einfahrt rollen. Von Port Renfrew aus müssen wir der West Coast Road jetzt erst einmal um die sechzig Minuten in Richtung Sooke zurückfolgen.

Im Radio plädiert Ed Bruce mit samtweicher Stimme und begleitet von melancholischer Country-Musik: Mama's Don't Let Your Babies Grow Up To Be Cowboys und mir wird bewusst, dass uns auf der gesamten Strecke bisher gerade einmal zwei Autos entgegenkommen sind. Irgendwann erscheint Wrens Zeigefinger neben meinem Kopf.

„Du musst hier in die Otter Point Road abbiegen." Aus Gewohnheit betätigte ich den Blinker, was Wren natürlich nicht umkommentiert lässt. „Alter, hier ist keine Sau weit und breit. Warum blinkst du?"

Er hat recht. Diesen Teil von Sooke kann man schon nicht mehr als Kleinstadt bezeichnen. Ländliches Forstgebiet trifft es schon eher. Hier draußen passiert man nicht mehr als vereinzelte Häuser und kleinere private Farmen.

„Wie weit ist es noch?", frage ich.

Wren antwortet keine zwei Sekunden später: „Sechshundert Meter."

Und weil ich nicht direkt vor der Farm parken will, beschließe ich, die Augen nach einem Parkplatz offenzuhalten. Dazu drossle ich das Tempo beinahe auf Schrittgeschwindigkeit, bis ich am rechten Straßenrand eine schmale Ausbuchtung zwischen mehreren Büschen entdecke.

„Was machst du?"

Dieses Mal ist es Mallory, die fragt. Es sind die ersten Worte, die sie seit unserer Abfahrt mit uns gesprochen hat.

„Wir können mit dem Auto nicht vor der Farm auftauchen. Ab hier müssen wir zu Fuß weiter."

„Oh, okay", wispert sie, als ich mit der Zündung auch den Scheinwerfern und dem Motor den Saft abdrehe. Es wird dunkel im Wageninneren und so taste ich nach ihrer Hand.

„Was ist los? Red mit mir, Peach."

Scharf zieht sie Luft ein.

„Ist es da draußen gefährlich? Gibt es hier nicht auch Bären?"

„Schwarzbären lassen sich in der Gegend häufiger mal blicken, aber die werden uns schon aus dem Weg gehen, wenn sie uns hören." Selbst in meinen Ohren klingt das nicht sonderlich beruhigend, aber ich habe eine Idee. „Öffne mal das Handschuhfach und taste darin nach etwas, das sich wie eine Sprühdose anfühlt."

„Bärenspray?" Der Griff knackt. Dann ist ein Rascheln zu hören.

„Bärenspray", bestätige ich Mallorys Vermutung. „Aber ich denke nicht, dass wir welches brauchen werden."

Wir steigen aus. Der Vollmond leuchtet hell genug, sodass wir die Stirnlampen ausgeschaltet lassen können. Es ist eine milde Nacht. Büsche, Gräser und Bäume wiegen sich raschelnd in der Sommerbrise. Das rhythmische Fallen unsere Schritte wird von Grillenzirpen und vereinzeltem Hundegebell in der Ferne begleitet.

„Und was ist mit den Farmtieren? Gibt es einen Hund?", fragt Wren nach wenigen Metern.

Ich schüttle den Kopf, obwohl er das höchstwahrscheinlich nicht sehen kann.

„Soweit ich weiß, hatten die Hollands nur ein paar Pferde, Geflügel und eine Imkerei. Und auch wenn es einen Hund gab, leben dort keine Tiere mehr, seit Mrs. Holland ins Altenpflegeheim gekommen ist."

Wren hält an, sodass ich beinahe mit seinen Rücken kollidiere.

„Das muss es sein."

Ich kann spüren, wie sich meine Brauen beinahe in der Mitte treffen.

„Da, wo Licht brennt?", will Mallory von ihm wissen.

„Jap", erwidert Wren. Das P am Ende betont er so stark, dass es poppt. Dann fährt er zu Mallory herum. „Vielleicht solltest du hier warten."

„Vergiss es", zischt sie zurück, genau wie ich erwartet habe. Ich trete ganz nah an die beiden heran. Meine Stimme fahre ich auf Flüsterlautstärke herunter.

„Wir bleiben zusammen und am besten gehen wir ab hier über das Gras am Straßenrand weiter, damit wir so wenige Geräusche wie möglich verursachen."

Die Farm ist von einem Holzzaun umgeben, dessen weiße Lackierung im Mondlicht beinahe leuchtet. An einer Stelle sind zwei breite Latten herausgebrochen. Durch die Lücke gelangen wir mühelos auf das Gelände.

Links kann man ein längliches Wohnhaus erkennen. Bei dem Gebäude, in dem Licht brennt, scheint es sich um eine Art Schuppen zu handeln. Von der Größe her würde darin ein Traktor und Landmaschinen oder Stallungen und ein Heuschober Platz finden.

Wren späht zunächst durch eines der Fenster, bevor er dasselbe mit den anderen wiederholt. Mallory und ich bleiben zurück, bis er zehn Minuten später zurück geschlurft kommt.

„Da drin ist keiner. Sämtliche Ställe sind leer. Ich habe nur einen Traktor, Imker-Ausrüstung, Rechen, Schaufeln, einen Rasenmäher, Eimer, Körbe und anderen Kleinkram gesehen. Connor hat bestimmt aus Versehen das Licht angelassen, als er das letzte Mal hier war."

Mallory schluckt hörbar neben mir. Sicher ist sie enttäuscht, aber wir haben uns ja noch nicht wirklich viel vorgeknöpft.

„Und jetzt?"

„Ich schlage vor, dass Wren und ich uns mal im Wohnhaus umschauen. Vielleicht ist irgendwo ein Fenster oder eine Tür offen. Vorher suchen wir ein sicheres Versteck für dich und wenn du irgendwas hörst – irgendjemanden – schreibst du uns eine Nachricht über unseren Gruppenchat. Hast du den Ton ausgeschaltet und die Helligkeit auf niedrig gestellt, wie wir es beim Abendessen bequatscht haben?"

„Schon", krächzt sie. „Aber warum kann ich denn nicht einfach mitkommen?"

„Das ist zu gefährlich", wispere ich wenige Zentimeter neben ihrem Gesicht. „Wren und ich wissen, was wir tun und im Notfall können wir uns auch ohne Waffen gegen einen Angreifer verteidigen." Ich seufze. „Außerdem brauchen wir jemanden, der uns warnt, wenn Connor oder ein Nachbar hier aufkreuzen. Und das ist extrem unwahrscheinlich. Ich meine, es ist tausend Uhr oder so ähnlich."

„Na schön", murmelt Mallory. „Wie wär's, wenn ich mich hier ins Gebüsch hocke?"

Ich drehe den Kopf zur Seite und weiß sofort, was sie meint. Allerdings handelt es sich bei dem sogenannten Gebüsch um eine Gruppe zwei Meter hoher Koniferen.

„Find' ich gut. Da sieht dich keiner, aber du kannst das ganze Grundstück überblicken."

Wrens Einschätzung deckt sich auch mit meinem Eindruck. Ich lasse Mallory nicht gern hier zurück, aber wenn sie sich zwischen die Koniferen hockt, ist sie sicher und wir sind nie weit von ihr entfernt. Außerdem brauchen wir jemanden, der Schmiere steht.

„Okay, Peach. Wir werden die Handys durchgehend bei uns haben", versichere ich ihr flüsternd. „Wenn was ist – egal was – dann meldest du dich. Wir sind in null Komma nichts hier, wenn du uns brauchst."

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