Kapitel 24 | Archer

Die offene Zeltklappe wiegt sich in der milden Abendluft, beinahe im Rhythmus von Mallorys Atemzügen.

Nach ihrem Schwächeanfall habe ich sie zum Lager begleitet. Seitdem schläft sie neben mir. So verletzlich, so schön. Ich muss mich in regelmäßigen Abständen ermahnen, das Luftholen nicht zu vergessen.

Mallorys Pfirsichgeruch hängt zwischen uns wie Tautropfen an Spinnweben. Als bräuchte ich eine Erinnerung daran, wie viel sich binnen der vergangenen zwei Tage zwischen uns verändert hat. Ich vermisse ihre Vertrautheit und Nähe, vor allem weil ich mich schon viel zu lange innerhalb der dunklen Nuancen des Emotionsspektrums bewege.

Seit am achten Mai 1998 der Streifenwagen meiner Mom und ihres Partners Roland auf unserem Grundstück vorgefahren ist. Nur saß dieses Mal nicht meine Mutter am Steuer, wie sie das sonst immer tat.

Roland, damals ein rundlicher Mann Ende zwanzig, der seine schwarzen Haare am liebsten raspelkurz trug, kam allein. Die dunkelblaue Polizeikappe drückte er so fest gegen seine Brust, dass sich seine Fingerknöchel weiß färbten.

Doch statt mich zu fragen, warum Moms Partner allein auf unserer Türschwelle aufgetaucht ist, habe ich mich über die angetrockneten, rot-braunen Farbspritzer an der Unterseite seiner Arme gewundert. Ich war eben nur ein Kind.

„Es tut mir leid, Wil", wiederholen sich Rolands Worte an meinen Vater wie eine kaputte Schallplatte. „Ich konnte mein Versprechen nicht halten."

Ebenso wie Dads schmerzverzerrte Fratze werde ich niemals vergessen, wie blanke, unverdünnte Furcht in mir aufgestiegen war, als mir klar wurde, dass Mom nicht zurückkehren würde.

Verlustängste sind nicht neu für mich und doch habe ich sie selten so stark empfunden wie heute.

Adrenalin durchströmte meine Blutbahn wie eine aufputschende Droge, als Mallory im Begriff war, umzukippen. Reflexartig nahm ich ihren kraftlosen Körper in meine Arme, wie ein Bräutigam seine Braut, und platzierte ihn sachte auf den klammen Sand.

„Hebe ihre Beine hoch", wies ich Wren an. Gleichzeitig hielt ich ihr Gesicht in den Händen. „Peach? Kannst du mich hören?"

Im direkten Lichteinfall wirkte das Blau ihrer Augen beinahe farblos. Ihre Pupillen waren geweitet, die Lider flatterten, bis sie mich endlich fokussierte.

Da ist mir kein Stein, sondern der ganze beschissene Mount Everest vom Herzen gefallen.

„Atme ruhig. Konzentriere dich auf die Auf- und Abwärtsbewegungen meines Brustkorbes." Ihre flache Hand platzierte ich auf meinem Sternum. Erst, als sie einmal langsam nickte, ergänzte ich: „Atme im selben Rhythmus. Merkst du, wie dich neue Lebenskraft durchströmt?"

Seitdem sind ein paar Stunden vergangen und langsam wird es Zeit für mich, zu gehen.

Ein letztes Mal blicke ich auf ihre schlafende Form herab. Doch gerade, als ich mich auf allen Vieren in Richtung Ausgang bewege, erscheinen die Umrisse einer Hand hinter dem Stoff der Zeltklappe.

„Klopf, klopf", flötet eine mir unbekannte Stimme. Ich schiebe den Stoff beiseite und begegne den braun-grünen Augen eines jungen Typen, dessen Alter ich auf Anfang zwanzig schätze. Gelocktes dunkelbraunes Haar fällt ihm über die Schultern und endet unterhalb seiner Brustmuskeln. Der Unbekannte trägt Jeans, ein schwarzes T-Shirt, das mehrere ineinander übergehende Tattoos entlang seiner Arme entblößt und dunkelblaue Chuck's. Mit einem schwarzen Zylinder auf dem Kopf würde er mich vermutlich an Slash erinnern, den ehemaligen Leadgitarristen von Guns n' Roses, bis er 1996 die Band verlassen hat. Eine Schrittlänge vor mir geht er in die Knie, um mir einen Styropor-Container zu reichen. Ich nehme diesen stirnrunzelnd entgegen.

Herzhafter Geruch aus dem Inneren der Schachtel lässt nur eine Schlussfolgerung zu: „Sind das unsere Burger?"

Der Fremde streift sich eine Strähne hinter sein rechtes Ohr. Die Geste gibt den Blick auf einen Ohrhänger aus kleinen türkisfarbenen Glasperlen frei.

„Nein, nur ihrer."

Den Burger nehme ich an mich und möchte gerade die Zeltklappe hinter mir zuziehen, als ich merke, wie er Mallory mustert. Es ist nicht unbedingt die anzügliche Art von Blick, die Männer ihr oft im Vorbeigehen zuwerfen. Vielmehr betrachtet er sie mit beinahe unschuldiger Neugier. Seine Augen sind ein wenig geweitet, die Lippen leicht geöffnet.

„Sorry, ich wollte deine Freundin nicht anstarren. Es ist nur ..." Wiederholt schaut er zwischen meinen Augen hin und her. Vielleicht hat er mir meinen inneren Dialog angemerkt. „Das sah ziemlich dramatisch aus, vorhin am Strand. Gut zu wissen, dass es ihr wieder besser geht. Ich bin übrigens Connor."

Ah, der Burger-Lieferant Schrägstrich Hunters Kollege.

Sämtliche Härchen auf meinen Unterarmen und im Nacken richten sich auf, obwohl mir nicht kalt ist. Doch er lässt mir keine Zeit, länger über meine Reaktion auf ihn nachzugrübeln. Da streckt er mir auch schon die Hand entgegen.

„Freut mich. Ich bin Hunters Bruder, Archer", erwidere ich aus reiner Höflichkeit. Sein Händedruck ist fest, das Lächeln wirkt authentisch. Alles an ihm schreit ›netter Kerl‹.

„Ich weiß. Hunter redet praktisch pausenlos von dir", lässt mich mein Gegenüber wissen. Als er merkt, dass ein Lächeln mit geschlossenen Lippen meine einzige Antwort bleiben wird, fragt er mich: „Willst du vielleicht auch erst mal was essen?"

Auch, wenn die Werbung etwas anderes suggeriert, ist meine Laune nicht darauf zurückzuführen, dass ich heute noch kein Snickers hatte. Dieser Mann ist mir einfach suspekt. Doch nach außen hin nicke ich freundlich und schlurfe abgekämpft in Richtung Lagerfeuer.

Das flackert und knistert in der Meeresbrise, während sich bläuliches Abendlicht wie ein Schleier über den Zeltplatz legt. Der schmale Sandstrand schmiegt sich an den steil aufsteigenden, dunkelgrünen Waldrand. Aufgrund der Lage in der Nähe von Port Renfrew kann man von hier aus einen regen Boot- und Schiffsverkehr beobachten. Dadurch fühlt man sich der Zivilisation wieder ein ganzes Stück näher.

Wren tätschelt den freien Platz auf dem Stück Treibholz neben sich. Bis auf Hunter und Mallory sind sämtliche Gruppenteilnehmer um das Lagerfeuer versammelt.

Die Stimmung ist gedämpft, die Köpfe sind gesenkt. Mir soll es Recht sein, da ich ohnehin nur meinen Burger essen, dann erneut nach Mallory sehen und anschließend in meinem eigenen Zelt verschwinden will.

Warm ist das Essen schon lange nicht mehr, als ich es aus dem Styropor-Behälter nehme. Trotzdem lässt mir das saftige Patty im fluffigen Brioche-Brötchen das Wasser im Mund zusammenlaufen. Zusätzlich sorgen Tomaten, Salat, sauren Gurken, Zwiebelrelish, Ketchup, Senf und eine Scheibe Cheddarkäse für eine wahre Geschmacksexplosion.

Jetzt erst stelle ich fest, wie hungrig ich eigentlich bin. Meine eigenen Bedürfnisse habe ich seit unserer Ankunft in Thrasher Cove völlig vernachlässigt.

Neben mir knackt es. Dann ist ein Zischen zu hören. Ich drehe den Kopf in Wrens Richtung. Der hält mir eine geöffnete Dose Mountain Dew unter die Nase.

„Trink das. Dein Mund ist schrumplig, wie der eines alten Mannes."

„Ich bin ein alter Mann", gebe ich schulterzuckend zurück, was Wren ein ›Pff‹ entlockt. Unsere Augen schnippen plötzlich nach links.

Über das Stück Treibholz zu unserer Linken ist eine rote Softshelljacke drapiert worden, unter der ein Walkie-Talkie hervorblitzt. Krächzende Funkgeräusche und ein grünliches Blinksignal deuten darauf hin, dass jemand versucht, mit dem Besitzer des Geräts Kontakt aufzunehmen.

„Ist das Hunters Platz?", frage ich niemanden bestimmten.

„Ja, dein Bruder hat bis eben noch hier gesessen. Keine Ahnung, wohin er verschwunden ist." Die Antwort kam von Shawn, der sich beinahe den Hals verrenkt, als er versucht, Hunter zu erspähen.

Mein Puls beschleunigt sich bei der Vorstellung, dass sich Tante Sue am anderen Ende darauf freut, mit ihrem Sohn zu sprechen. Ich muss daran denken, wie wir uns früher jeden Abend angefunkt haben, um uns spontan erfundene Geschichten zu erzählen und anschließend eine gute Nacht zu wünschen. Damals war ich noch ein Kind und Sue Ellen eine Jugendliche, die ich liebevoll Auntie nannte.

Doch das ist lange her. Seit wir uns so nahestanden, ist viel passiert. Nur vermisse ich sie deswegen nicht weniger. Ohne sie hat insgeheim immer etwas gefehlt. Anders, als bei Mom, habe ich mir das Loch, welches ihre Abwesenheit hinterlassen hat, selbst ins Herz gerissen.

Und warum?

Weil ich feige war. Weil ich Tante Sue auf all die Eigenschaften reduziert habe, die sie mit Mom teilte, statt auch ihre individuellen Besonderheiten zu sehen. Wenn ich ehrlich in mich hineinhorche, habe ich wohl immer gewusst, dass sie da wäre, wenn sie brauche. Selbst als ich weggezogen bin, war sie nie weiter als einen Anruf von mir entfernt.

Demnach hat die Frau besseres verdient, als vor lauter Besorgnis die gesamte Nacht wachzuliegen, bloß weil Hunter das vereinbarte Funkgespräch mit seiner Mom verschwitzt hat.

Also kneife ich die Augen zusammen, hole tief Luft und funke: „Hier ist kleiner Seelöwe. Ende." Der riesige Kloß in meinem Hals schnürt mir beinahe die Kehle zu, während ich das Walkie-Talkie in meinen zitternden Händen halte. Vom Feuer und meinen Gruppenkollegen habe ich mich weit genug entfernt und so lasse ich mich mit dem Rücken an der rauen Rinde einer Sitka-Fichte hinuntergleiten, bis ich kühlen Sand unter mir spüre.

„Arch, bist-" Sie beginnt erneut: „Archer, bist du das?"

Angesichts der Wärme und Geborgenheit in ihrer Stimme, prickelt es in meinen Augenwinkeln.

Du hast mir so gefehlt, Tante Sue.

„Du mir auch. Du hast ja keine Ahnung. Geht es dir gut? Geht es Hunter gut? Ende." Meine Lider fliegen auf. Scheinbar habe ich das nicht nur laut gesagt, sondern dabei auch noch die Push-to-Talk Taste gedrückt gehalten. Ich stehe gerade völlig neben mir. Es ist, als hätte mein Körper ein Eigenleben entwickelt.

„Hunter ist momentan nicht hier. Und ich-" Meine Stimme versagt genau wie mein Verstand. „Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Es ist alles so abgefuckt."

Es vergeht gerade einmal der Bruchteil einer Sekunde, bevor ein erneutes Krächzen in der Leitung zu hören ist.

„Was ist passiert? Ist jemand verletzt? Kann ich irgendwas tun?", erkundigt sie sich atemlos. „Ende."

„Niemand ist verletzt. Aber es sind einige Dinge vorgefallen und vielleicht ..." Ich räuspere mich. „Es ist besser, wenn wir euch morgen alles in Ruhe erklären - Hunter und ich. Ist das okay für dich? Ende."

Ich wische mir eine einzelne Träne von der Wange, als ich auf ihre Antwort warte.

„Okay." Ihre harsche Atmung raschelt in der Sprechmuschel, die Stimme bebt. „Aber was immer es ist, ich will, dass du weißt, wie sehr ich mich freue, meine beiden Jungs wieder hier zu haben. Ihr bedeutet die Welt für mich und gemeinsam können wir jedes Problem angehen. Als Familie."

So viele Jahre haben wir kaum gesprochen. Ich war so durcheinander, habe mein Glück woanders gesucht und einen Haufen neuer Probleme gefunden, nur um mit beinahe dreißig wieder nach Hause zu kommen.

„Danke, das bedeutet mir mehr, als du ahnst. Ende."

Tante Sue lächelt geräuschvoll und so wie sie schnieft, weint sie ebenfalls.

„Nein, alles ist gut. Danke Loraine", höre ich sie sagen, bevor die Verbindung unterbrochen wird. Es dauert wenige Minuten, dann kommt ein erneuter Funkspruch durch: „Scheiße, ich muss furchtbar aussehen. Loraine vom Outdoor Store hat gerade neben mir gehalten und gefragt, ob ich Hilfe brauche. Ende."

„Wo bist du denn? Ende."

„Auf meiner Motorhaube - ich habe in Port Renfrew geparkt. Die Funkgeräte decken je nach Gelände bis zu zehn Kilometer ab. Trotzdem hatte ich so meine Zweifel, ob bei all den Bäumen überhaupt eine Verbindung zustande kommt. Ende."

Plötzlich berührt jemand meine Schulter. Ich zucke zusammen.

Hunter steht in seiner roten Softshelljacke und Kaki-Shorts vor mir - merkwürdige Kombination. Er parkt seinen Hintern direkt neben meinem, sodass sich die Seiten unserer Körper berühren.

Ohne mir das Walkie-Talkie aus der Hand zu nehmen, drückt er auf meinen Daumen, der noch immer auf der Push-to-talk Taste ruht und sagt: „Hey Mom."

„Mein Baby", erwidert sie warmherzig. Automatisch bin ich dankbar, dass er eine Mutter hat, die jederzeit wie eine Löwin für ihn kämpfen würde.

Immerzu will uns die Gesellschaft weiß machen, dass richtige Männer pausenlos Härte und Maskulinität an den Tag legen. Es wird erwartet, dass wir funktionieren, wo wir uns manchmal lieber auf dem Bett zusammenrollen würden, um von einem geliebten Menschen zu hören, dass alles gut werden wird. Wobei wohl jeder von uns mit überzogenen Erwartungen zu kämpfen hat und das unabhängig von Geschlecht, Alter oder Herkunft. „Es ist so schön, deine Stimme zu hören. Ende", holen mich Tante Sues Worte wieder in den Augenblick zurück, also lenke meine Aufmerksamkeit erneut auf das Gespräch zwischen ihr und meinem kleinen Bruder.

„Mom, ich muss dir was erzählen, aber ich hab' Angst, dass du dann enttäuscht von mir bist. Ende." Instinktiv lege ich den Arm um Hunter. Er lehnt sich zur Seite, bis sein Kopf auf meiner Schulter ruht und entlässt einen zittrigen Atemzug.

„Was immer es ist: Du warst noch nie eine Enttäuschung für mich und das wirst du auch nie sein. Dasselbe gilt für dich, Arch." Etwas knackt, dann ist ein Rascheln zu hören, bevor sie weiterspricht: „Aber ihr seid Menschen und Menschen machen Fehler. Im Alltag kommt es hauptsächlich darauf an, dass man sein Bestes gibt, ein guter Mensch zu sein, aus Fehlern zu lernen und zu wachsen. Es ging noch nie darum, perfekt zu sein, immer das Richtige zu tun oder immer die richtigen Dinge zu sagen. Mann muss zu seinen Handlungen stehen, die Konsequenzen tragen. Aber fürs Erste will ich meine Jungs zurück. Wenn ich euch zu Tode geknuddelt habe, ist immer noch Zeit, in Ruhe über alles zu reden. Ende."

Bevor ich reagieren kann, drückt Hunter bereits meinen Finger auf die Sprachtaste.

„Liebe dich, Mom. Du bist die beste."

Mein kleiner Bruder nimmt den Druck von meinem Daumen, doch ich halte die Taste unten.

„Keine Angst, Tante Sue, ich bringe dir den Nervzwerg in einem Stück zurück. Bis morgen." Hunter lutscht an seinem Zeigefinger und macht Anstalten, ihn mir ins Ohr zu stecken, aber ich weiche lachend aus. Dann vervollständige ich meinen Funkspruch mit einem: „Ende." Die Sprachtaste lasse ich los, doch gerade, als ich meinem Bruder das Walkie-Talkie gegen den Brustkorb drücken will, fällt mir noch etwas ein. „Bitte kommen, Schmetterling, ich wollte dir noch sagen: Ich liebe dich auch. Grüß Dad von mir. Ende."

Ihre Antwort kommt postwendend: „Du hast mir gerade den Tag versüßt, kleiner Seelöwe. Bis morgen, Jungs. Schlaft schön. Ende."

Hunter bricht bei Tante Sues Erwähnung meines Kosenamen augenblicklich in einen ausgewachsenen Lachanfall aus. Ich bezweifle sogar, dass er den Abschiedsgruß seiner Mutter gehört hat, so wie er sich krümmt und schnaubend den Bauch hält. Als ich mich langsam aufrapple, werfe ich ihm das Walkie-Talkie zu, das er dennoch ohne Probleme mit einer Hand fängt.

Sein haltloses Wiehern verfolgt mich bis zu Mallorys Zelt, wo ich die Hand zu den Lippen führe und merke, dass meine Mundwinkel nach oben zeigen.

Ein Lächeln in der Dunkelheit ist der erste Schritt in die richtige Richtung, wenn man das Licht am Ende des Tunnels aus eigener Kraft erreichen will.

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