Kapitel 21 | Mallory

Kaputte Bretterwege, tiefer Schlamm und glitschige Wurzeln erschweren uns das Vorankommen. Trotzdem erreichen wir Logan Creek innerhalb von zwei Stunden.

Der Fluss bahnt sich den Weg durch eine in Wälder eingebettete Schlucht, in die wir zunächst hinabsteigen müssen, nur um auf der anderen Seite wieder hochzukraxeln.

Archer betritt die Plattform der berüchtigten Leitersektion als Erster. Meine Herzfrequenz multipliziert sich, als er zunächst in die Tiefe und dann mit aufeinander gepressten Lippen zu mir blickt.

„Das wird dir nicht gefallen, Peach." Er streckt die Hand nach mir aus, um mir hoch zu helfen. Was ich da sehe, lässt mich schwer schlucken.

„Okay, es war schön, euch alle kennengelernt zu haben", sage ich im Scherz, während sich die beiden Brüder schweigend betrachten. Es ist, als würden sie über Blickkontakt eine ganze Konversation miteinander führen. Wahrscheinlich kalkulieren sie meine Überlebenschancen. Dann wendet sich Archer mir zu.

„Ich gehe zuerst und warte unten auf dich."

Mit warmen Händen umfasst er mein Gesicht, wobei er mir eine Strähne hinters Ohr streicht, die sich aus meinem Pferdeschwanz gelöst hat.

„Okay", wispere ich.

Eigentlich habe ich in den vergangenen Tagen oft genug bewiesen, dass ich jedes Sprossen-Monster bezwingen kann, wenn ich Unbehagen in Motivation umwandle. Aber bei diesem hier handelt es sich um ein anderes Kaliber, zumal mir das Holz ziemlich verwittert vorkommt.

Archer platziert seine Hand auf meiner Schulter.

„Du weißt ja: Nicht nach unten schauen. Konzentriere dich und denk dran - es ist nur eine Leiter. Du bist mutig. Ich glaube an dich."

Er beginnt seinen Abstieg mit sicheren Schritten und in einem gleichbleibenden Tempo. Archer lässt mit seiner unerschütterlichen Souveränität alles spielend leicht aussehen.

Es gibt mir aber auch Kraft, dass er zum wiederholten Mal im Laufe dieser Wanderung am Fuße einer Leiter auf mich wartet. Wir sind ein eingespieltes Team. Er redet mir gut zu und auch, wenn ich den genauen Wortlaut meist nicht mitbekomme, beruhigt mich seine unaufgeregte Stimmlage. Im Gegenzug schmeichle ich seinem Ego, wenn er mein Held sein darf. Das hat er zumindest gesagt.

„Bald brauchst du mich nicht mehr", scherzt Archer, als ich ihm unten freudestrahlend in die Arme falle.

„Oh mein Gott", flöte ich, „ich glaube, du hast mir geholfen, meine Angst vor Leitern zu überwinden."

Er lacht auf.

„Freu dich nicht zu früh. Du hast die Hängebrücke noch nicht gesehen."

Sein Tonfall lässt Unbehagen in mir aufsteigen.

„Vor Hängebrücken hast du mich doch noch nie gewarnt. Was ist an dieser so schrecklich?"

„Sieh selbst", sagt er und tritt aus dem Sichtfeld.

Tatsächlich: Wie in einer Kulisse aus Indiana Jones überspannt sie das Flussbett des Logan Creek. Die oberen Tragseile sind ungefähr so dick wie mein Arm. Der Laufsteg liegt auf den unteren Tragseilen auf, wobei in regelmäßigen Abständen Querbalken für mehr Halt sorgen. Die oberen und unteren Tragseile sind vollständig durch Netze verbunden, die verhindern, dass man abrutscht und in die Tiefe stürzt. Allerdings ist der Bodenbelag gerade einmal so breit, dass die eigenen zwei Füße nebeneinander passen.

Auf der anderen Seite der Schlucht müssen wir über zwei durch eine längliche Holzplattform verbundene Leitern wieder nach oben steigen. Damit haben wir bereits das erste große Hindernis überwunden.

„Aber eines muss ich euch noch reindrücken", wirft Hunter lachend ein, als sich die ganze Gruppe lautstark über den ersten Etappensieg freut. „Hier wird gerade eine über hundert Meter lange Hängebrücke gebaut, die sämtliche Leitern und die aktuelle Brücke ersetzen soll. Das bedeutet, ab 2021 braucht man für die Überquerung des Logan Creek statt einer halben Stunde nur noch wenige Minuten."

Harlow überrascht Hunter von hinten, indem er ihn in den Schwitzkasten nimmt - und das vermutlich in jeder Hinsicht des Wortes.

„Klappe, du Arschbacke", flötet Emmabelles Ehemann. „Keiner will das wissen."

Unser Gelächter ist sicher meilenweit noch zu hören.

Die zwei Kilometer bis Cullite Creek verlaufen nicht mehr so reibungslos, was unserer fröhlichen Stimmung einen ordentlichen Dämpfer verpasst. Nicht nur ich lande im Matsch und muss den Rest des Tages mit einem schmutzigen Hintern durch die Gegend laufen. Auch Emmabelle stürzt zwischen den zerbrochenen Enden eines kaputten Bretterwegs, weil sie im Schlamm über eine versteckte Wurzel stolpert. Sie ist direkt vor mir, als das geschieht und ich muss mit Schrecken dabei zuschauen, wie ihr kompletter rechter Wanderstab samt Arm im Schlamm versinkt. Für einen Moment glaube ich, der Morast verschluckt sie ganz.

Als Harlow und ich ihr hochhelfen, weint sie. Ob vor Schmerzen oder aus Frustration kann ich nicht sagen. Außer unkontrollierten Schluchzern bekommen wir kein Wort aus ihr heraus. Ihre gesamte rechte Seite ist von der braunen Brühe völlig durchgeweicht.

Shawn kommt auch noch dazu und nimmt ihr den verdreckten Trekkingrucksack ab, während Harlow seiner Frau gut zuredet.

„Na komm, Yene Fikir."

Meine Liebste.

Ich werde mich nie daran sattsehen, wie süß die beiden miteinander umgehen. Inzwischen weint Emmabelle nicht mehr. Sie verteilt Schlamm unter ihren Augen, als sie sich die Tränen wegwischt, doch keiner von uns bringt es übers Herz, ihr das mitzuteilen. Harlow führt sie an der Hand weiter, bis wir alle wieder halbwegs festen Boden unter den Füßen haben. Hier legen wir unsere erste Pause ein.

„Mallory?", lenkt Emmabelle meine Aufmerksamkeit auf sich.

„Hey, na du? Du hast mir einen echten Schrecken eingejagt. Tut dir was weh?"

„Nein, alles gut, ich stand nur unter Schock. Der Sturz war heftig. Auch, wenn ich weich gelandet bin."

„Das verstehe ich. Willst du dich vielleicht erst mal umziehen, bevor wir weiterziehen?"

„Ja, ich wollte dich fragen, ob du noch solche feuchten Waschtücher übrig hast, von denen du erzählt hast?"

„Ja klar. Ich helfe dir beim Saubermachen, wenn du willst."

Zehn Minuten später sieht Emmabelle wieder frisch und ordentlich aus, also kann es weitergehen.

Nach der ganzen Tortur machen uns selbst die sieben Leitern auf der einen Seite der Cullite Creek Schlucht, die Seilbahnfahrt darüber und auch die elf Leiterabschnitte auf der anderen Seite nicht mehr viel aus. Außer, dass meine Oberschenkel und Unterarme brennen, wie noch nie in meinem Leben. Wenn ich mich morgen noch bewegen kann, grenzt das an ein Wunder.

Bei Erreichen der anderen Seite ringe ich abgekämpft nach Luft. Da gesellt sich Archer zu mir, der im Gegensatz zu meiner Wenigkeit beinahe normal atmet. Aufgrund der schwarzen Flecken, die durch mein Sichtfeld tanzen, kann ich gerade einmal seine Umrisse ausmachen.

„Peach, in anderthalb Kilometern trennen sich unsere Wege. Wir sehen uns dann aber in Camper Bay auf dem Zeltplatz wieder."

Ich runzle die Stirn und dränge meine körperliche Erschöpfung in den Hintergrund.

„Wieso? Wo gehst du hin?"

Über die Schulter hinweg deutet er auf seinen kleinen Bruder und sagt: „Hunt meint, es ist gerade Ebbe, also wollen wir zum Sandstone Creek runterklettern und uns die Brandungskanäle anschauen."

Ich mustere Hunter skeptisch, der auf seiner Unterlippe herumkaut und von einem Fuß auf den anderen tritt, ohne mir in die Augen zu sehen. Auch Archers Gesichtsausdruck passt nicht zu dem beschriebenen Abenteuerausflug. Hier stimmt doch irgendwas nicht.

„Cool, ich komm' mit", gebe ich bekannt, doch Archer schüttelt langsam den Kopf.

„Nein, das ist zu gefährlich. Außerdem brauchen Hunt und ich ein wenig Zeit zusammen. Das verstehst du doch, oder?"

Stumm nicke ich, was meinem Gegenüber ein zufriedenes Lächeln entlockt. Er macht auf dem Absatz kehrt und reiht sich mit seinem Bruder an der Spitze ein.

Zwar habe ich Archer gerade versprochen, dass ich brav bei den anderen bleiben werde. Das heißt aber nicht, dass ich mich daran halten werde. Klettern kann ich, wenn es sein muss.

„Ich komme mit dir mit. Was die beiden zu bereden haben, könnte mich auch interessieren."

Anders als am Toilettenhäuschen zucke ich dieses Mal nicht zusammen. Denn Wren Wexleys Präsenz hat sich in dem Moment in meinen Rücken gefressen, als Archer und Hunter aus meinem Sichtfeld verschwunden sind.

Langsam drehe ich mich zu ihm herum.

„Wie kommst du darauf, dass ich das will?"

„Tue ich nicht, aber du bist nicht die Sportlichste." Der große Blonde hebt beschwichtigend die Hände, als ich empört nach Luft japse. „Körperliche Fitness ist in meinem Beruf wichtig. Ich habe ein Auge dafür."

Resigniert winke ich ab. Er hat ja recht.

„Ach, egal. Wenn du meinst, du musst mitkommen, dann komm eben mit", knurre ich.

Wir erreichen die Brücke über den Sandstone Creek, von der man auf das ausgewaschene felsige Flussbett hinunterblicken kann. Der Abstieg ist steil und damit gefährlich. Da hat Archer nicht übertrieben. Aber ich will endlich Antworten haben und anscheinend bin ich die Einzige, die sie mir geben kann.

Absichtlich lasse ich mich hinter den anderen zurückfallen. Wren, der noch immer an mir klebt, tut es mir gleich. Jetzt, wo ich gesehen habe, welche örtlichen Gegebenheiten mich erwarten, ist es mir sogar ganz recht, dass er mich begleitet.

„Hey, was habt ihr vor", lässt uns eine bekannte Stimme zusammenfahren. Zeitgleich wirbeln wir herum und entdecken Shawn.

„Scheiße", zische ich.

„Kannst du laut sagen", erwidert Wren, während sich unser Gruppenleiter in langen, entschlossenen Schritten nähert.

„Sagt mir bitte, dass ihr nicht vorhabt, den beiden Idioten zu folgen. Es ist schlimm genug, dass ich mir um zwei Personen Gedanken machen muss. Ich hoffe, Hunter hat die Gezeiten im Auge. Wir nehmen hier nie die Küstenroute. Nie."

Wren holt geräuschvoll Luft, als wolle er gerade zum Sprechen ansetzen, nur komme ich ihm zuvor.

„Pass auf, Shawn. Die Zwei verhalten sich merkwürdig und bin ich mir sicher, dass mir Archer etwas Wichtiges verschweigt. Ich will jetzt wissen, was da los ist. Und falls mir etwas zustößt, übernehme ich die volle Verantwortung. Wenn du mich also entschuldigen würdest."

Seine feingliedrige Hand an meinem Oberarm hindert mich am Weitergehen.

„Tut mir leid, Mallory. Das kann ich nicht zulassen." Er lässt mich los und stemmt stattdessen die Hände in die Hüften. „Ich gebe dir deine Antworten, aber bitte klettere nicht dort runter."

Meine Augen schießen zu seinen hoch.

Wren räuspert sich neben mir und sagt: „Das wird ja immer besser. Na dann lass mal hören, Shawn."

Der kneift die Augen zusammen und fängt zu erzählen an: „Hunter kam in Thrasher Cove zu mir, zog mich vom Feuer weg und wollte allein mit mir reden. Offenbar haben er und Cynthia öfter zusammen Gras geraucht, aber dieses Mal hatte deine Schwester wohl ihr Feuerzeug vergessen. Hunter hat angeboten, schnell ins Lager zurückzulaufen, um es zu holen und als er zurückkam, war sie weg. Er hat sie gesucht, nach ihr gerufen, aber von Cynthia fehlte jede Spur. Also hat er mich um Hilfe gebeten und wir haben zusammen buchstäblich jeden Stein umgedreht." Einen Moment hält er inne. „Jedenfalls wollte Hunter Search & Rescue informieren und haargenau wiedergeben, was er auch mir erzählt hat. Aber ich hab' ihm davon abgeraten."

Da ich ihn mit offenem Mund anstarre und sich meine Zunge mit einem Mal schwer wie Blei anfühlt, brauche ich einen Moment, um zu reagieren.

„Was hast du?", frage ich gefährlich leise.

Shawn tritt einen Schritt zurück und da merke ich, dass ich einen auf ihn zugemacht habe.

„Deswegen haben wir ihren Tracker an der Stelle deponiert, wo Hunter deine Schwester zuletzt gesehen hat. Du musst das verstehen Mallory. Hunter ist noch jung. Er hat eine strahlende Zukunft vor sich und kann für seine Leute hier wirklich etwas bewirken. Aber mit seiner indigenen Herkunft und dem Gras - da hatte ich einfach Angst, dass sie ihn verdächtigen, der jungen weißen Frau etwas angetan zu haben. So hätte es doch dann ausgesehen. Es tut mir so leid, aber das konnte ich nicht erlauben. Hunter hat aber wirklich nichts mit ihrem Verschwinden zu tun."

Mein Körper verselbstständigt sich, bevor ich den Mund erneut öffnen kann. Ich wickle meine Hände in den Halsausschnitt von Shawns T-Shirts, als ich ihn grob schüttle. Ich kann mich nicht kontrollieren, nicht zurückhalten.

„Wo ist meine Schwester?", keife ich ihn an. Kleine Spucketropfen benetzen dabei sein Gesicht. Wren versucht, mich an den Oberarmen zurückzuziehen, nur gelingt es ihm nicht. „Antworte mir!"

Mit leiser Stimme sagt Wren: „Ganz ruhig, Mallory. Er weiß doch gar nicht, wo sie ist."

Ich trete einen Schritt zurück und lasse erst die Arme, dann meinen Rucksack zu Boden sinken. Und noch bevor mich einer der beiden Männer davon abhalten kann, klettere ich das felsige, steil abfallende Flussbett hinunter.

Wenn ich Hunter finde, ist er tot ...

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