Kapitel 2 | Mallory

„Willst du nicht langsam Feierabend machen?", fragt Wyatt über seine Schulter hinweg und streicht sich mit dem Handrücken eine dunkle Locke aus dem glattrasierten Gesicht. Unser Barkeeper bereitet gerade einen White Russian für seinen ersten Kunden des Abends zu. Es ist verführerisch, wie er die Zähne in seine volle Unterlippe gräbt, während er vier Zentiliter Wodka mit zwei Zentilitern Kaffeelikör in einem Tumbler voller Eiswürfel verrührt. Vorsichtig lässt er mit einem Löffel steif geschlagene Sahne auf das Getränk gleiten, sodass sie sich nicht mit dem Alkohol vermischt.

Wyatt schiebt den Cocktail auf einer kleinen schwarzen Serviette in das Sichtfeld des Gastes. Mister Fielding, ein attraktiver Mittvierziger mit stahlgrauen Augen und dunkelbraunen Haaren, ist anlässlich einer Tagung aus Austin, Texas, angereist. Er blickt von seinem Smartphone auf, nimmt einen Schluck und nickt Wyatt anerkennend zu.

Währenddessen stelle ich benutzte Wassergläser und die leere Glaskaraffe aus der Lobby auf den Servierwagen neben der Pendeltür zur Küche. Dann verabschiede ich mich in den Feierabend.

Ich arbeite in einem charmanten kleinen Boutique-Hotel im kanadischen Niagara Falls. Neben meinem Studium im Bereich Personalmanagement am Niagara College bin ich hier als Rezeptionistin tätig. Das Hotel befindet sich abseits vom Trubel, in der Nähe des Busterminals und damit außer Sichtweite der berühmten Horseshoe- und Bridal-Veil-Wasserfälle. Doch unsere Gäste werden dank der persönlichen Atmosphäre und sorgfältig ausgewählten Vintage-Einrichtung in eine andere Zeit versetzt, in der der Kunde noch König war.

„Bin schon weg. Schönen Abend, Mister Fielding." Er hebt sein Glas zum Abschied. „Wir sehen uns morgen, Wy."

Wyatt, der gerade angefangen hat, schwarze Schälchen mit Salzbrezeln und Erdnüssen zu füllen, zwinkert mir zu. Sofort steigt mir die Hitze in die Wangen.

„Das Angebot mit dem Filmabend steht noch. Komm einfach vorbei, falls du deine Meinung änderst", sagt er. „Meine Mitbewohner beißen nicht." Dann zeigt er sein strahlendes Lächeln und lässt seine zwei Reihen gerader, weißer Zähne zweimal aufeinander klacken. „Im Gegensatz zu mir."

Ich werfe den Kopf in den Nacken und lache. Der Mann ist einfach unmöglich.

„Ich kann leider nicht. Bis morgen, ja?", antworte ich, obwohl ich am liebsten zugesagt hätte. Wenn Wyatt mich nur nicht so verunsichern würde.

Meine Absage dimmt das Leuchten in seinen lindgrünen Augen, doch er lächelt weiterhin.

„Schade, aber ich wünsche dir einen schönen Feierabend."

Mit einem schlechten Gewissen verlasse ich die Bar. Nein zu sagen fällt mir immer schwer.

Ich folge dem langen Korridor zu den Umkleiden. Dort schäle ich mich aus meinem figurbetonten schwarzen Bleistiftrock und der cremefarbenen Langarmbluse. Nach der Begegnung mit Wyatt bin ich noch immer ganz aufgewühlt. Gleichzeitig fühlen sich meine Waden schwer und geschwollen an - wie nach jeder Schicht. Vermutlich werde ich meine Hose heute wieder im Liegen anziehen müssen.

Ich werfe die getragene Arbeitskleidung in den dafür vorgesehenen Wäschesack und nehme meine Freizeitkleidung aus dem Spind. Dabei werde ich vom aggressiven Blinken meines iPhones abgelenkt.

Meine dunkelblauen Skinnyjeans und das schlichte weiße T-Shirt mit V-Ausschnitt stopfe ich erst einmal achtlos in den Schrank zurück und entsperre mein Mobiltelefon. Der Anblick einer roten Zwölf neben dem grünen Hörer-Symbol lässt mich erschrocken zusammenfahren. Jeder einzelne Anruf stammt von meinem Vater.

Mein Herz beginnt schneller zu schlagen, und eine leichte Panik breitet sich in mir aus. Zwölf Anrufe? Was könnte so dringend sein? Ich setze mich auf die Bank in der Umkleide und rufe ihn zurück, die Nervosität kriecht mir den Nacken hoch.

Während ich darauf warte, dass er abhebt, gehen mir tausend Gedanken durch den Kopf. Ist etwas passiert? Geht es meiner Mutter gut? Endlich höre ich seine Stimme am anderen Ende der Leitung, und für einen Moment halte ich den Atem an. In der Sekunde, in der das Klacken der Leitung erklingt, durchzuckt mich ein unerklärliches Gefühl von Unruhe. „Dad, was ist los?"

„Mallory, endlich! Du hattest doch schon vor einer Stunde Feierabend, warum bist du nicht rangegangen?", krächzt mein Vater besorgt. Seine Stimme zittert, und ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken. Trotzdem bleibe ich beharrlich und frage weiter: „Ist etwas passiert? Geht es Mom und Cynthia gut? Geht es dir gut?"

Dads Atemzüge rauschen stoßweise in die Hörmuschel, bis er endlich antwortet: „Komm bitte auf direktem Weg zu uns." Dann knackt die Leitung und lässt mich in erdrückender Stille zurück. „Dad?", rufe ich ungläubig, doch niemand antwortet. Er hat aufgelegt. Mein Herz rast, aber ich verliere keine Zeit und ziehe mir mit zittrigen Händen meine Sachen über. Durch den Hintereingang verlasse ich das Hotel.

„Was ist los, Marshmallory? Hattest du eine anstrengende Schicht?", fragt Jackson, als er meinen besorgten Blick bemerkt. „Hey, was ist los, Babygirl? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen." Jackson, mit seinem blonden Wuschelkopf und großen blauen Augen, kümmert sich um Verwaltungsangelegenheiten im Hotelbüro. Wir haben uns im Senior-Jahr der Highschool kennengelernt, als er mit seinen Eltern nach Niagara Falls gezogen ist, und seitdem sind wir unzertrennlich.

„Äh-", meine Stimme stockt. Es fühlt sich an, als würde mir jemand die Hände um den Hals legen und mit zunehmendem Kraftaufwand zudrücken. „Du bist ganz blass", stellt mein bester Freund fest, als er mich in seine Arme zieht und an seinen breiten Oberkörper drückt. Sein schwarzer Kapuzenpulli riecht nach Weichspüler. „Soll ich dich nach Hause fahren?" Ich nicke und lasse mich von ihm zum Mitarbeiterparkplatz und zu seinem schwarzen BMW bringen. Mein eigenes Auto kann ich später abholen. In den Beifahrersitz plumpse ich wie ein nasser Sack.

Jackson steigt auf der Fahrerseite ein und greift über die Mittelkonsole hinweg nach meiner Hand.

„Nun gut, erzähl schon", fordert er sanft. „Was beschäftigt dich?"

„Ich weiß es nicht", antworte ich. „Gerade habe ich mit Dad telefoniert. Er hat mir gesagt, ich solle sofort nach Hause zu ihm und Mom kommen. Dann hat er abrupt aufgelegt, und jetzt mache ich mir Sorgen, dass etwas Schlimmes passiert ist."

Mein bester Freund startet den Motor, und sein Wagen gleitet sanft über den knirschenden Schotter des Parkplatzes hinweg auf die Straße. Ich atme tief durch und versuche, mich zu beruhigen.

„Warum denkst du gleich an das Schlimmste?"

Meine Hand ruht noch immer in seiner. Ein Hoch auf die Automatikschaltung.

Während wir einige Minuten fahren, gehen in meinem Kopf das kurze Telefonat mit meinem Vater und alle möglichen Horrorszenarien durch.

„Seine Stimme klang so zerrissen. Ich kann es nicht erklären."

Jackson schüttelt den Kopf.

„Lass uns vorerst abwarten", meint er, als wir in die Straße einbiegen, die zum Haus meiner Eltern führt. Die kleinen Kieselsteine auf dem ansonsten glatten Asphalt knirschen unter den Reifen des Autos. „Vielleicht hat Cynthia wieder einmal Unsinn angestellt und braucht jemanden, der sie aus der Patsche hilft. Und da kommst du ins Spiel."

„Hey!" Ich bohre meinen Zeigefinger spielerisch in seinen Oberarm. „Sei nicht so hart. Du weißt genau, dass Thia es nicht immer leicht hatte."

„Komm schon, Babe, ihr seid nicht einmal drei Jahre auseinander. Du hast genauso unter den Depressionen unserer Mutter gelitten wie sie." Er wirft mir einen strengen Seitenblick zu. „Nur dass deine kleine Schwester jetzt in der weltweit aufregendsten Stadt lebt und das Leben in vollen Zügen genießt, während du dich hier abrackerst und eure Eltern unterstützt." Ich senke den Kopf. „Anstatt Wyatt aus der Ferne anzuschmachten, solltest du ihn dir einfach schnappen. Er sieht fantastisch aus, ist älter als du und so heftig in dich verknallt, dass es fast wehtut." Für seine Ablenkung bin ich dankbar, auch wenn sich Jackson nicht gerade mein Lieblingsthema ausgesucht hat. „Er zieht nächsten Monat nach Vegas." Ich zucke mit der Schulter. „Warum sollte er also vorher etwas mit mir anfangen wollen? Oder ich mit ihm?"

„Geh doch einfach mit. Ich würde dich zwar vermissen, aber das ist immer noch besser, als dir dabei zuzuschauen, wie du deine Zwanziger verschwendest."

„Ich bin erst zweiundzwanzig. Und außerdem: Was soll ich denn in Vegas? Ich studiere hier, schon vergessen?"

Jackson lacht.

„Na gut, na gut. Aber dann solltest du wenigstens noch ein paar Bettlaken zerwühlen, bevor er geht. Du brauchst etwas Abwechslung!" Nur zum Atmen hält mein bester Freund inne. „Lebe einfach mal, mach Fehler und kümmere dich nicht darum, was die anderen denken. Du bist auch wichtig."

Ich nicke brav, obwohl ich weiß, dass ich nichts von dem umsetzen werde, was er mir rät. Er kann nicht nachempfinden, wie schwer es für mich war, schon als Kind erwachsen und vernünftig sein zu müssen.

Und auch heute noch verlassen sich meine Eltern genauso sehr auf mich wie damals. Das mag zwar nicht fair sein, aber so ist nun mal das Leben.

Jackson parkt hinter dem silbernen Chevrolet SUV meines Vaters, legt seine Hand auf meine Schulter und übt sanften Druck aus.

Meine Eltern wohnen in einem Bungalow in Queensway Gardens, einer gemütlichen Wohngegend. Vom Hotel aus sind es nur zehn Autominuten hierher. „Ich begleite dich ins Haus, wenn du willst", bietet er mir an, und ich nicke dankbar. Ein instinktives Gefühl sagt mir, dass ich nach dem Gespräch mit meinen Eltern nicht alleine sein möchte. Er nimmt den Ersatzschlüssel des Bungalows aus meiner Hand, und unsere Finger streifen sich dabei.

„Mein Gott, Mallory, deine Hände sind ja eiskalt", bemerkt Jackson, bevor er die schwere Haustür aufschließt. Gemeinsam treten wir in den Flur ein, wo eine gespenstische Stille herrscht.

„Mom? Dad?", rufe ich mit heiserer Stimme. Wir gehen am Wohnzimmer und der Küche vorbei, bis wir vor der geschlossenen Schlafzimmertür meiner Eltern stehen. An Cynthias Zimmer bleiben Jackson und ich stehen. Mein Herz beginnt schneller zu schlagen, als ich ein gedämpftes Schluchzen von drinnen höre.

„Kannst du hier kurz warten?", bitte ich Jackson. Er nickt verständnisvoll. Mit zitternden Händen öffne ich die Tür und erblicke meinen Vater. Er steht mit dem Rücken zu mir, die Arme um sich selbst geschlungen. Umgeben von der rosa Tapete und der mädchenhaften Einrichtung meiner kleinen Schwester wirkt er in seinem grün-karierten Flanellhemd und den schwarzen Jeans beinahe wie ein Fremdkörper.

„Dad", flüstere ich, doch er bemerkt mich erst, als ich in sein Blickfeld trete. Seine Augen sind rot unterlaufen und geschwollen, als hätte er den ganzen Tag geweint. Tief in seinem Blick liegt eine Verzweiflung, die mir das Herz zusammenzieht.

„Du machst mir Angst." Meine Stimme zittert, als ich meine Hand auf seinen Unterarm lege. In einer schnellen Bewegung zieht er mich in eine feste Umarmung, als wolle er mich vor der Welt beschützen. Er vergräbt sein Gesicht in meinem Haar, und ich spüre, wie seine Schultern unter Schluchzern beben. In diesem Moment fühle ich mich wieder wie ein kleines Kind, das Trost bei seinem Vater sucht, doch die Rollen scheinen vertauscht zu sein. Ein ungutes Gefühl breitet sich in meiner Magengrube aus. „Ist-" Ich räuspere mich, um die Beklemmung in meiner Kehle loszuwerden. „Ist Cynthia okay?"

Er drückt mich noch fester an sich und schüttelt dabei stumm den Kopf. Die Schwere dieser Geste trifft mich wie ein Schlag.

Oh Gott!

Dunkle Flecken bedecken sein Hemd an der Stelle, wo ich mein Gesicht in seine Schulter gedrückt habe. Dass ich weine, merke ich erst jetzt. Es schmerzt, meinen Vater so gebrochen zu sehen. „Was ist passiert?", frage ich ihn erneut, die Ungewissheit bereitet mir Übelkeit.

„Sie ist verschwunden", ringt er sich ab, seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern.

Meine Augen weiten sich vor Schock. „Was?" Ich kann es kaum begreifen. „Das ist doch ein abgestecktes Gebiet, ein Wanderweg. Wie kann sie denn da einfach verschwinden?"

Mit zittrigen Händen wischt sich Dad die Tränen aus dem Gesicht und schnieft, bevor er fortfährt. „Ihre Freunde haben Cynthias Zelt leer aufgefunden", beginnt er, seine Stimme brüchig. „Die Rettungskräfte durchsuchen momentan das umliegende Gebiet mit Suchhunden und einem Helikopter. Aber der Starkregen und der Wind haben fast alle Fußspuren verwischt und ihre Geruchsspur zerstört." Wieder schnieft er, und ich sehe, wie schwer es ihm fällt, die Worte auszusprechen. „Search and Rescue befürchtet, dass sie allein am Meer gewesen ist und entweder ertrunken oder von einer Klippe gestürzt sein könnte."

Dads Stimme bricht ab, und er wischt sich mit dem Ärmel seines Pullovers die frischen Tränen aus dem Gesicht. Dann lässt er sich auf das Fußende des Bettes meiner Schwester sinken, genauso wie er es früher immer getan hat, wenn er uns Gutenachtgeschichten vorgelesen hat.

„Das glaube ich nicht, Dad. Thia hat sich so gut vorbereitet und sie ist nicht der leichtsinnige Typ", versuche ich ihn zu beruhigen, obwohl ich weiß, dass das nicht ganz der Wahrheit entspricht. „Vielleicht hat sie sich verlaufen oder ist in eine Felsspalte gerutscht. Die Rettungskräfte werden sie schon bald finden. Ganz bestimmt."

Ich weigere mich, zu glauben, dass ihr etwas Schlimmes zugestoßen ist, und hoffe, dass ich eine Möglichkeit finde, um zu helfen. Aber zunächst muss ich nach meiner Mutter sehen.

„Wo ist Mom?"

Dad benötigt einen Moment, um sich zu sammeln. Er ist zu einem Häufchen Elend zusammengesackt. Dicke Tränensäcke unter seinen Augen lassen ihn zehn Jahre älter aussehen.

„Sie ist zusammengebrochen. Dr. Foster musste kommen und ihr ein Beruhigungsmittel verabreichen", wispert er, bevor ein Ruck durch seinen Körper geht, als hätte er einen Stromschlag bekommen. Er legt sich die Armbeuge über die Augen und weint stumm hinein. Die Schluchzer durchzucken ihn, doch er hat keine Stimme mehr.

„Ich werde mal nach ihr sehen. Kommst du so lange zurecht, Daddy?"

Er nickt langsam und drückt meine Hand, bevor ich Cynthias Zimmer verlasse und in den Flur trete.

Jackson ist dort wider Erwarten nicht anzutreffen. Stattdessen höre ich leise Stimmen und das Klirren von Metall gegen Keramik. Ich folge den Geräuschen ins Wohnzimmer.

Dort finde ich meinen besten Freund, der gerade eine dampfende Tasse auf dem quadratischen Couchtisch platziert. Mom hat sich in ihre weiße Bettdecke gehüllt und sitzt auf dem Sofa. Ihr Gesicht ist so blass, dass es sich kaum von der Bettwäsche abhebt.

Als meine Mutter mich erblickt, verzieht sich ihr Gesicht zu einer schmerzverzerrten Fratze. Wie ein Kleinkind streckt sie die Hände nach mir aus, und ich eile zu ihr, um ihren zitternden Körper in meine Arme zu schließen. Ihre Verzweiflung ist fast greifbar, und ich spüre die Last ihrer Angst und Trauer.

Jackson lässt sich neben uns auf die Couch sinken. Auch ihm stehen Tränen in den Augen. Er ergreift meine rechte Hand, als wolle er mir damit Trost spenden.

„Es tut mir so leid, Mommy", flüstere ich und vergrabe mein Gesicht in ihrem zerzausten blonden Haar, das schon, solange ich denken kann, nach grünen Äpfeln riecht.

„Ich will mein Baby zurück", schluchzt sie in meine Schulter. Ihr zierlicher Körper fühlt sich so zerbrechlich an, dass sich mein Herz schmerzhaft zusammenzieht.

Es ist eigenartig, aber während meine Eltern von Angst und Trauer um Cynthia gelähmt sind, erfüllt mich die Ungewissheit mit Tatendrang und Hoffnung. Ich war schon immer schlecht darin, Schicksalsschläge zu verarbeiten. Was ich nicht sicher weiß, existiert für mich nicht. Solange mir also niemand den leblosen Körper meiner Schwester zeigt, ist sie für mich nicht verloren - und ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um sie zu finden. Doch dazu muss ich mich erst einmal über den West Coast Trail informieren.

„Du solltest noch ein wenig schlafen", flüstere ich und helfe Mom, sich auf die Seite zu legen. Sie lässt es einfach geschehen, ihr Körper hat aufgegeben und das Beruhigungsmittel tut sein Übriges.

Allein der Gedanke, dass sie in diesem Zustand aus dem Bett aufgestanden ist, bereitet mir Übelkeit. Zum Glück war Jackson da und hat sie abgefangen.

„Würdest du bei ihr bleiben?", bitte ich ihn. Mein bester Freund nickt einmal, ohne zu fragen, was ich vorhabe, und das rechne ich ihm hoch an.

Ich drücke Jacksons Hand fest und verlasse das Wohnzimmer.

Auf dem Weg zu meinem ehemaligen Kinderzimmer blende ich die vielen Fotos von Cynthia und mir aus, die unsere Wände schmücken. Auf den Bildern strahlen wir nebeneinander in die Kamera wie zwei Sonnen, jede heller als die andere. Man kann unsere Verbindung fast greifen, so offensichtlich sticht sie hervor. Wenn wir zusammen sind, scheint die Welt ein wenig langsamer zu drehen.

Dad sagt immer, dass Gott zwei Seiten einer Seele genommen und auf unsere beiden Körper verteilt hat. Dabei sind wir nicht einmal als Zwillinge zur Welt gekommen. Thia ist im März gerade zwanzig geworden, während ich auf meinen dreiundzwanzigsten Geburtstag zusteuere.

Vor meinem Zimmer bleibe ich stehen, lege die Hand auf den Türknauf und verharre. Ein großer Kloß bildet sich in meinem Hals, als ich mir vorstelle, wie Cynthia es sich mit einem dicken Wälzer aus meinem Bücherregal auf meinem Bett gemütlich macht, ein Bein von der Bettkante baumelnd. Sie war früher ständig in meinem Zimmer, auch wenn ich meine Ruhe haben wollte. Aber meine Schwester war schon immer sehr energisch. Dadurch habe ich, gerade was die Zuwendung unserer Eltern angeht, oft den Kürzeren gezogen. Trotzdem liebe ich sie mehr als jeden anderen Menschen auf der Welt.

Wie ein Buch klappe ich die Erinnerung zu. Ich bin mir sicher, dass ich Cynthia wiedersehen werde.

Ich betrete mein Kinderzimmer, das seit meinem Auszug als Computerzimmer dient, und lasse mich in den durchgesessenen Bürostuhl sinken. Ich klappe das MacBook meiner Eltern auf. Aber wonach soll ich suchen?

Zuerst verschaffe ich mir einen Überblick über die Lage und den Streckenverlauf des West Coast Trails. Ich stoße auf zahlreiche Reiseberichte sowie offizielle Informationen der Parks Canada Website. Eines wird mir schnell bewusst: Wer sich an diesen Wanderweg herantraut, gerät nicht nur an seine eigenen Grenzen, sondern ist obendrein extremen Wetterbedingungen, Raubtieren und unwegsamem Gelände ausgesetzt. Dafür wird man mit einer atemberaubenden Landschaft und wunderbaren neuen Bekanntschaften belohnt - oder findet sich selbst.

Ich klicke mich durch unzählige Informationen und YouTube-Videos, bis ich merke, dass ich langsam den Überblick verliere. Da kommt mir die Idee, eine Word-Datei mit meinen Recherche-Ergebnissen zu füttern.

Ein Klopfen an der Tür lässt mich zusammenzucken. „Komm rein", rufe ich, ohne den Blick vom Bildschirm zu lösen. Aus dem Augenwinkel beobachte ich, wie Jackson das Zimmer betritt.

„Na du? Was machst du?", fragt er, bevor er mir ein Glas Milch und ein Erdnussbutter-Traubengelee-Sandwich auf den Schreibtisch stellt. Dann lässt er sich rücklings auf mein Bett fallen, das knarzend protestiert, und stopft sich Mister Brown, meinen alten Teddybären, unter den Kopf.

„Schläft Mom?", frage ich ihn.

Jackson nickt. „Dein Dad ebenfalls. Vielleicht solltest du auch langsam Schluss machen. Du bist schon eine gefühlte Ewigkeit hier drin", merkt er mit geschlossenen Augen an.

„Okay, lass mich nur noch schnell eine Datei in meine Cloud schieben", antworte ich und öffne die Seite, um meine Log-in-Daten einzugeben. Allerdings ist dort bereits jemand eingeloggt, und zwar meine Schwester.

„Oh mein Gott", flüstere ich. Jackson stemmt sich auf die Ellbogen. „Was ist?"

„Thia ist hier noch eingeloggt. Ich habe Zugriff auf sämtliche Dateien in ihrer Cloud. Sie hat hier ein Reisetagebuch und drei Fotos abgespeichert."

Jackson erhebt sich vom Bett und schaut mir von hinten über die Schulter. „Erst die Fotos", ordnet er an und deutet auf drei kleine Vorschaubilder. Ich klicke eins davon an.

„Eine Ranger-Hütte", sage ich, als das erste Foto den Bildschirm ausfüllt. Das Häuschen ist scheinbar komplett aus Holz errichtet und befindet sich auf einer hölzernen Plattform, die von stabilen Holzpfeilern getragen wird. Im Hintergrund reihen sich hohe Bäume auf.

Auf dem zweiten Foto ist vermutlich dieselbe Hütte von innen zu sehen. Darin befindet sich eine Anmeldung oder ein Informationsschalter, mit einer jungen Frau dahinter, die das aschblonde Haar zu einem hohen Dutt gebunden hat.

„Und was ist auf dem letzten?", drängelt Jackson, obwohl ich dieses bereits angeklickt habe. Er drückt meine Schulter, als würde das Öffnen der Datei beschleunigen.

„Jetzt hetze mich nicht", knurre ich und starre weiter auf den Bildschirm. Meine Augen weiten sich. „Wow! Das ist der Hammer!"

Auf dem letzten Foto ist ein herausgerissenes Stück Papier zu sehen, auf dem jemand eine Bergkette gezeichnet hat. Ein Vogelschwarm zieht darüber hinweg. Darunter hat der Künstler eine Telefonnummer und seinen Namen hinterlassen: Hunter Tuffin.

„Hunter", pfeift Jackson. „Das klingt nach einem sexy Alphamännchen. Schau mal im Reisetagebuch nach. Vielleicht steht da mehr. Er könnte mit ihr unterwegs gewesen sein und etwas wissen, das uns weiterhilft."

Wir öffnen die Datei und erfahren, dass Cynthia einen Tag vor Beginn ihrer Wanderung an einer Belehrung teilgenommen hat. Bisher gibt es nur diesen einen Eintrag.

„Wir rufen ihn jetzt an", beschließt Jackson, zieht sein Smartphone aus der Hosentasche und hält es mir hin.

Mein Kopf neigt sich zur Seite. „Aha, WIR rufen ihn also an. Ist klar."

„Das Augenrollen kannst du dir sparen, junge Dame!", entgegnet mein bester Freund. „Komm, jetzt heul nicht. Du bist die charmante Rezeptionistin von uns beiden, also schnapp ihn dir, Tiger!"

Ich gebe klein bei und tippe die Telefonnummer in Jacksons Handy ein. Nach dem dritten Klingeln knackt die Leitung und jemand keucht in die Sprechmuschel. Super, ich bin bei Darth Vader herausgekommen.

„Hi, hier ist Hunter", begrüßt mich eine junge männliche Stimme.

„Hi, äh, hier ist-"

Auf der anderen Leitung raschelt und klimpert es, bevor ich eine tiefere, ebenfalls männliche Stimme sagen höre: „Ich geh' schon mal rein."

„Lass mir was von der Pizza übrig, Fressschwein", sagt die jüngere Stimme.

„Mal sehen, Spargeltarzan", kommt es von der anderen Stimme zurück, bevor das Klacken einer Tür zu hören ist.

„Sorry dafür, ich musste kurz was klären", meldet sich Hunter zurück. „Brüder ..."

Ich muss schmunzeln. „Kein Problem, ich habe eine Schwester. Ich kenne das", erkläre ich ihm. „Sie ist der Grund, warum ich anrufe. Cynthia Levisay - sagt dir der Name was?"

Hunter atmet scharf ein. „Klar, sagt mir der Name was. Sie und ihre Freunde haben bei meinem Boss eine Woche Wandern auf dem West Coast Trail gebucht", antwortet er. „Du bist Mallory, oder? Thia hat mir viel von dir erzählt."

Thia - so dürfen sie nicht viele nennen.

In Hunters Leitung klackt etwas und ich höre Schritte, dann knarzt Holz.

„So, ich bin in meinem Zimmer. Hier kann ich ungestört reden. Weißt du etwas Neues?", will er wissen. „Woher hast du meine Nummer?"

„Thia hat die kleine Zeichnung von dir abfotografiert und in ihrer Cloud abgespeichert. Die mit der Bergkette und deiner Handynummer darunter", antworte ich.

„Ah, ja, ich erinnere mich."

„Also warst du bei ihr, bevor sie verschwunden ist?", stelle ich die Frage, die mir am meisten unter den Nägeln brennt.

„Ich", beginnt er zaghaft, „habe die Gruppe als Shawns Assistent begleitet. Das ist mein Boss. Er leitet unsere Touren alle selbst."

Ich ziehe scharf Luft ein, als ich realisiere, was das bedeutet: Hunter war einer der letzten Menschen, die meine Schwester vor ihrem Verschwinden gesehen haben, und ich habe ihn am Telefon.

Ich erkenne eine Chance, wenn ich sie sehe, und so sprudelt die nächste Frage einfach aus mir heraus: „Hilfst du mir, sie zu suchen?"

Es ist riskant, ihn damit zu überfallen. Das gebe ich zu. Aber verzweifelte Situationen erfordern besondere Maßnahmen.

„Okay", antwortet er nach ein paar Sekunden, und ich will schon vor Erleichterung aufatmen, doch da höre ich, wie er erneut zum Sprechen ansetzt. „Offen gestanden, habe ich da schon jemanden organisiert, gewissermaßen einen Experten."

Zum Ende hin spricht er langsamer und seine Stimme wirkt spannungsgeladen, so als würde gleich noch etwas kommen.

„Aber?", hake ich nach.

„Er darf nicht wissen, was wir vorhaben."


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