Kapitel 18 | Mallory
Ich vermisse meine Schwester unendlich. Ihr Lachen, ihre Lebendigkeit und selbst die gelegentliche spitze Bemerkung hier und da. Wenn mir jemand anbieten würde, ihren Platz einzunehmen - und ich weiß nicht einmal, welcher das ist - würde ich es tun. Keine Frage.
Tränen sickern in den Stoff von Archers schwarzem T-Shirt, das sich unter meine Sachen gemischt hat. Sein Geruch haftet daran. Beinahe, als wäre er hier - neben mir.
Ich will mein Gesicht in seiner Halsbeuge vergraben und mich in seinen starken Armen verlieren, während er in einer beruhigenden Auf- und Abbewegung mit den Fingerspitzen über meinen Oberarm streichelt. Nur er schafft es, nachts meine düsteren Gedanken zu vertreiben, die sich mit jedem vorübergehenden Tag vervielfachen.
Mit Archer ist das alles hier leichter - mehr als geteiltes Leid. Von Anfang an verband uns etwas, das größer ist als wir. Zumindest empfinde ich es so.
„Peach", flüstert seine Stimme in meinem Kopf - schlaftrunken und gleich einem Echo.
Die Tränen laufen in Sturzbächen meine Wangen hinunter. Genau wie Cynthia ist er nicht hier. Heute Nacht bin ich auf mich gestellt.
Aber das ist besser so. Auch, wenn ich innerlich die Wände hochgehe und mir dabei die Fingernägel blutig scheuere.
Ich. Bin. Stark.
Zumindest sage ich mir das immer wieder.
Bereits als Teenagerin habe ich mir geschworen, mich von keinem Menschen abhängig zu machen - weder emotional, finanziell noch auf sonst eine Weise. Es ist mir wichtig wie ein Baum fest im Leben zu stehen, während sich die obersten Zweige meiner Krone nach den Sternschnuppen ausstrecken.
Es ist in Ordnung, Archer zu wollen oder mich Hals über Kopf in ihn zu verlieben, nur möchte ich ihn nicht brauchen.
Und im Moment tue ich genau das. Der Drang, zu ihm ins Zelt zu kriechen, wird überwältigend. Ich muss hier raus, raus an die frische Luft.
Es dämmert bereits, als ich den Zelteingang öffne. Auf allen Vieren bewege ich mich nach draußen. Dabei umspielt die feuchte Morgenluft das bisschen freiliegende Haut, das nicht von Schuhen, meiner schwarzen Schlafleggings oder dem grauen Langarmpullover aus Merinowolle verdeckt wird. Das Meeresrauschen ähnelt heute eher einem Wispern als dem üblichen gewaltsamen Grollen.
Ich schalte die grelle Stirnlampe ein und kleine Nebelschwaden tauchen in meinem Sichtfeld auf. Kälte bemalt das Zwielicht mit meinem warmen Atem.
Durch den feuchten weichen Sand stakse ich in Crocs zum Toilettenhäuschen, das ich, wie überall auf dem Trail, mithilfe einer Holzleiter erklimmen muss. Für den Aufstieg und die Benutzung des Klos schnalle ich mir deshalb die Stirnlampe um den Kopf. So habe ich die Hände frei.
Als ich fertig bin, streue ich Holzspäne in das Loch hinein, die dafür sorgen, dass die Toiletten nicht unangenehm zu riechen beginnen. Dann ziehe ich die kleine Flasche mit Desinfektionsmittel aus der eng anliegenden Seitentasche meiner Leggings, weil es hier natürlich kein fließendes Wasser gibt, um mir die Hände zu waschen.
Das stört mich beim Trekking überhaupt am meisten: Wie stark man sich gerade in Bezug auf etwas Selbstverständliches wie persönliche Hygiene in der Wildnis umstellen muss. Was würde ich nicht um die Privatsphäre und den Komfort meines Badezimmers geben?
Und auch die goldene Regel des West Coast Trails - leave no trace - klingt nicht weiter kompliziert, bis man sie zum ersten Mal selbst umsetzen muss.
Unter anderem hatte ich angenommen, dass organische Abfälle einfach in der Natur entsorgt werden können. Doch bis diese zu Erde zerfallen, vergeht zu viel Zeit, in der ihr Geruch Wildtiere anlockt. Die können obendrein Schaden nehmen, wenn sie verdorbene Essensreste fressen.
Ich danke dem Schicksal dafür, dass wenigstens meine Regel nicht auf diese Woche gefallen ist. Bei der Vorstellung, sieben Tage lang benutzte Hygieneprodukte in einem Müllbeutel im Rucksack mit mir herumzutragen, wird mir kotzübel. Aus demselben Grund habe ich mir in Victoria auf Hunters Anraten kompostierbares Toilettenpapier gekauft, das ich hier in den Plumpsklos wegwerfen kann.
Die kleine Holzleiter steige ich wieder hinunter. Dabei schüttle ich innerlich den Kopf über die Tatsache, dass Hunter aufgrund seines Jobs ständig freiwillig auf die Annehmlichkeiten der Zivilisation verzichtet.
„Na hallo, noch ein Frühaufsteher", ertönt eine tiefe Stimme in der Morgendämmerung. So nah, dass ich vor Schreck von der vorletzten Stufe abrutsche. Doch bevor ich fallen kann, legt sich ein starker Arm um meine Taille. Mein Rücken kollidiert mit einer warmen, harten Muskelwand. „Hab dich."
Tannennadeln. Der Geruch durchflutet mich, als ich einatme. Es mischt sich noch etwas anderes dazu. Minze, süße Minze, wie bei Kaugummi.
„Danke, es geht schon", entgegne ich mit zittriger Stimme, als ich wieder festen Boden unter den Füßen habe.
„Wie du meinst", antwortet der Fremde in einem tiefen Bariton, dessen Vibration ebenso auf meinen Rücken übergreift wie seine Körperhitze.
Nichts davon ist mir angenehm und so bin ich erleichtert, als mir das Knirschen im Sand und seine sich entfernende Wärme verraten, dass der mysteriöse Mann zurücktritt.
Ich vergesse die Stirnlampe, welche nach wie vor an meinem Kopf festgeschnallt ist und fahre zu ihm herum.
„Jesus, Mallory, willst du, dass ich erblinde?"
Ich erschrecke gleich zweimal. Erstens ist der Typ riesig und zweitens: was zur Hölle?
Der Lichtkegel meiner Taschenlampe bleibt auf den blond gelockten Giganten vor mir gerichtet, dessen Alter ich nach kurzem Hinsehen auf Ende zwanzig oder Anfang dreißig schätze. Er ist von Kopf bis Fuß in enge schwarze Kleider gehüllt wie Batman, nur ohne peinliche Kopfbedeckung. Sein Langarmshirt hat er bis zu den Ellenbogen hochgerollt.
„Woher wissen Sie, wie ich heiße?"
Absichtlich bringe ich mit der förmlichen Anrede Distanz zwischen uns, obwohl er bereits mehrere Schritte zurückgewichen ist.
Dass er meinen Namen kennt, während ich mir zu achtundneunzig Prozent sicher bin, sein Gesicht noch nie in meinem Leben gesehen zu haben, beunruhigt mich.
Ich sollte abhauen, aber seien wir mal ehrlich: Wie weit würde ich schon kommen? Mit seinen langen Beinen würde er mich vermutlich in einem Satz einholen. Außerdem habe ich gelernt, Raubtieren niemals den Rücken zuzukehren. Und so baue ich mich vor ihm auf, obwohl ich dabei vermutlich einem Katzenbaby ähnle, das einem ausgewachsenen Löwen entgegentritt.
Plötzlich steht er direkt vor mir. Er greift sich die Stirnlampe und zieht sie mir in einer schnellen Bewegung vom Kopf.
„Hey", protestiere ich. Dass meine Hände zittern, spielt mir nicht in die Karten.
„Krieg dich ein, Mädchen. Ich bin im Auftrag deiner Eltern hier, um dich und deine Schwester zu finden." Eine große Hand inklusive sehnigem mit schwarzen Tätowierungen übersätem Unterarm taucht in meinem Sichtfeld auf. Es ist noch immer dämmerig, aber nicht mehr finster. „Wren Wexley, freut mich." Statt zu antworten, oder die Begrüßung zu erwidern, verschränke ich die Arme vor der Brust und presse die Lippen aufeinander.
„Okay, dann halt so. Wie du willst, Quietscheente, du kommst trotzdem mit mir nach Nitinat zurück."
„Quietsche-", japse ich, unterbreche mich allerdings selbst. „Ich glaube, es hackt. Bevor ich meine Schwester gefunden habe, gehe ich nirgendwo hin." Mit einem gezielten Griff reiße ich ihm die Stirnlampe aus der Hand. „Und mit Ihnen schon gar nicht. Machen Sie lieber Ihren Job."
Vor meinen Augen erstarren die Gesichtszüge des Fremden in Form einer gehässigen Fratze. Die wie in Marmor gehauenen Kanten seiner Wangenknochen verwandeln ihn in eine fleischgewordene Messerschneide. Gefährlich schön ist er. Alles in mir schreit nach Flucht.
Kurz blinzle ich nach rechts. Mein eigenes Zelt verschwindet in einem ganzen Meer von ihnen. Okay - so viele sind es nicht. Ein kurzer Seitenblick hat trotzdem nicht gereicht, um es ausfindig zu machen. Das Zelt von Archer und Hunter hingegen steht ganz am Rand. Ich kann es erreichen, wenn ...
„Ja, lauf zu Tarzan. Der wird mich auch nicht davon abhalten, dich mitzunehmen. Deine Eltern bezahlen mir eine Lkw-Ladung voller Kohle."
Er kommt einen Schritt auf mich zu. Ich weiche einen zurück.
„Meine Eltern", beginne ich und straffe die Schultern, „haben vergessen, dass ich zweiundzwanzig und damit eine mündige Erwachsene bin. Also verpissen Sie sich und suchen Sie meine Schwester."
„Oh, richtig", sagt der gruselige Riese. „So wie du, hm?"
„Was soll der Unterton? Was denken Sie denn, was ich hier mache?"
Wieder streckt er eine seiner Pranken nach mir aus. Dieses Mal stemme ich die Hacken in den Sand. Es braucht wirklich alles in mir, nicht noch einmal zurückzuweichen.
Ein langer Zeigefinger wickelt sich um eine meiner blonden Haarsträhnen, doch ich klatsche seine Hand weg.
Mit geschlossenen Lippen lächelt er. Schwarze Wimpernfächer kommen zum Vorschein, als er den Blick nach unten richtet.
Dann fliegen seine Lider mit einem Schlag wieder auf und das Stahlblau seiner Augen erschlägt mich mit der Wucht eines Schnellzuges, der bei voller Geschwindigkeit mit einer Betonmauer kollidiert.
Scharf ziehe ich Luft ein, als er daraufhin noch zehnmal wölfischer grinst.
„Hm, ich bin verwirrt. Für mich hat es so gewirkt, als ob du damit beschäftigt bist, unseren Chief dort zu vögeln." Er nickt in die Richtung von Archers und Hunters Zelt. „Zumindest habt ihr gestern recht vertraut auf mich gewirkt."
Bei dem Gedanken, dass uns dieser Bekloppte seit gestern beobachtet, läuft mir ein kalter Schauer die Wirbelsäule hinunter. Obendrein steigt Wut und Übelkeit in mir auf. Es juckt mir nicht nur in den Fingern, mein ganzer Arm steht unter Spannung. Der Wunsch, jemandem eine zu scheuern, brannte noch nie so stark in mir.
Stattdessen wirble ich herum und stampfe mit zielstrebigen Schritten davon. Alles, was ich eben gefühlt habe, wird vom Brennen hinter meinen Augenlidern verdrängt. Ich kann nicht mehr klar denken, laufe schneller. Fast renne ich, bis ich das Zelt der Brüder erreiche und ohne eine Millisekunde des Zögerns den gesamten Reißverschluss aufziehe. Das Geräusch durchschneidet die morgendliche Stille, doch das ist mir ganz egal. Mit weit aufgerissenen Augen schreckt eine Figur hoch.
Erst als sich meine Augen scharf stellen, realisiere ich, dass es sich um Hunter handelt.
Als der merkt, dass ich es bin, die in seinem Zelteingang hockt, dreht er sich zu Archer um. Der seufzt und ändert geringfügig seine Schlafposition. Die wilden Wellen seines dunklen Haares sind auf dem Kopfteil seines roten Schlafsacks ausgebreitet. Er bleibt auf der Seite liegen.
Hunter, hingegen, hebt den Zeigefinger vor den Mund.
„Scheiße, M, sei leise, okay?", flüstert er. „Er ist vorhin erst eingeschlafen."
Automatisch frage ich mich, ob wieder ein Albtraum dahintersteckt.
Ich hauche ein: „Okay, entschuldige." Dann wische ich mir eine Träne von der Wange, was Hunter nicht entgeht.
Langsam, leise und mit krampfhaft gerunzelter Stirn zieht er seinen Schlafsack auf und entfernt diesen von unter sich. Wie eine Decke hält er den blutroten Stoff in die Luft.
„Na komm schon. Du zitterst." Erwartungsvoll blickt er mich an. „Wärmen wir dich erst mal auf, dann erzählst du mir, was passiert ist, okay?"
Zögerlich schaue ich an mir herab. Tatsächlich - mein gesamter Körper schlottert wie Espenlaub. Trotzdem kann ich mich nicht zum Bruder meines ... meines ... Ich kann mich doch nicht zu Hunter unter die Decke legen.
„Ähm", stammle ich, ohne mich auch nur einen Millimeter von der Stelle zu rühren. Hunters Grübchen verwandeln sein Gesicht in das eines kleinen Jungen, als er mich anlächelt.
Er lässt zweimal seine geraden weißen Zähne aufeinander klacken, bevor er sagt: „Ich beiße auch nur manchmal."
Da kommt mir der Moment mit Wyatt wieder in den Sinn, an dem Tag, als ich erfahren habe, dass Cynthia verschwunden ist.
„Was ist?", hakt Hunter nach.
„Ein Kollege, nein, ein Freund von mir hat neulich dasselbe gemacht", erkläre ich ihm. Dabei muss ich lächeln.
Hunter wackelt mit den Augenbrauen.
Ich schmiege mich an seine Seite, er ist so unglaublich warm wie eine menschliche Heizung. Dadurch merke ich erst, wie kalt mir wirklich ist. Archers jüngerer Bruder hüllt uns in den warmen Kokon seines Schlafsacks. Hier drin fühle ich mich sicher.
Zunächst versteife ich mich angesichts der ungewohnten Nähe, doch das verfliegt schnell. Und schon ist es, als würde ich mit meiner eigenen Schwester im Bett liegen.
„Also dieser Kollege Schrägstrich Freund ist der heiß?" Über meine Schulter hinweg, prüfe ich, ob Archer noch immer schläft. Hunter, der sich eben noch auf den Unterarm gestützt hat, lässt sich leise kichernd auf den Rücken fallen. „Er wird es überleben. Du darfst auch andere Männer anschauen."
Seufzend stimme ich ihm zu: „Ich weiß, aber ich möchte nicht, dass dein Bruder denkt, dass ich mich für jemand anderen interessiere. Das stimmt nämlich nicht."
„Auch wieder wahr", flüstert er. „Dann verrate mir wenigstens, warum du hier reingestürmt bist, als wäre der Wendigo hinter dir her."
Ich ziehe eine Augenbraue hoch.
„Was ist ein Wendigo?", will ich von Hunter wissen.
„Ein Menschenfresser. Er entstammt der Mythologie verschiedener Algonquin-Stämme im Osten der USA und Kanada, wie den Ojibwe oder Cree. Wenn er von dir Besitz ergreift, kann er dich zum blutrünstigen Kannibalen machen. So habe ich die Legende zumindest gehört."
Ich atme tief durch und einen Moment überlege ich, ob ich Hunter erzählen soll, was mir draußen passiert ist. Schließlich verstehe ich, dass er nach Antworten verlangt, nachdem ich hier so hereingeplatzt bin. Am Ende entscheide ich mich für die ganze Wahrheit.
„Am Toilettenhäuschen bin ich so einem komischen Typen in die Arme gelaufen. Der war gruselig."
Hunter richtet sich auf, im selben Moment bewegt sich Archer hinter mir und fährt ebenfalls ruckartig hoch. Damit erschrecken mich die beiden Männer so sehr, dass auch ich zusammenzucke.
„Was-" Archers Augen hüpfen zwischen Hunter und mir hin und her, die wir noch immer halb vom selben Schlafsack bedeckt werden. „Seid ihr okay? Alles gut?" Seine Stimme klingt heiser, weil er eben noch fest geschlafen hat.
Dabei hatte ich für einen Moment befürchtet, er würde den Anblick in den falschen Hals bekommen. Doch falls das so ist, gibt sein Gesicht das nicht preis.
„Mallory kam in unser Zelt gestürmt und bevor du uns zu Tode erschreckt hast, war sie gerade dabei, mir von einer beunruhigenden Begegnung vor dem Toilettenhäuschen zu erzählen."
Ich beobachte, wie Archer das Blut aus dem Gesicht weicht.
„Hat dich jemand angegriffen?", fragt er wie aus der Pistole geschossen.
Beruhigend lege ich ihm die Hand auf den Unterarm.
„Nein, das nicht, aber der Privatdetektiv meiner Eltern hat mich aufgespürt. Er hat sich mir als Wren Wexley vorgestellt und mich aufgefordert, mit ihm nach Nitinat zurückzukommen."
„Wiederhol das", bittet mich Archer mit geweiteten Augen. Seine Fingerkuppen graben sich in meine Schulter, als er mich hält.
„Der Priv-"
Archer schüttelt hektisch den Kopf.
„Sein Name, Peach! Wie war sein Name?"
Hunter regt sich neben mir.
„Was ist los, Bro?", höre ich ihn mit derselben Beunruhigung in der Stimme fragen, die auch mich beschleicht.
„Der Name", knurrt Archer, ohne seinem Bruder Beachtung zu schenken.
„W-Wren Wexley."
Schlagartig löst er sich von mir. Im nächsten Moment deutet nur noch ein zerknitterter Schlafsack und eine schwingende Zeltklappe darauf hin, dass Archer eben noch hier gewesen ist.
Was zum Teufel?
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