Kapitel 14 | Mallory
„Alle mal herhören", macht Shawn mit dröhnender Stimme auf sich aufmerksam. Wir haben uns vor einem aufragenden Holzkonstrukt hintereinander aufgereiht, da der Weg an dieser Stelle zu schmal für eine Menschenansammlung ist. Zudem verläuft er am Rande desselben Abgrunds, den wir soeben über ein steiles Leitersystem erklommen haben.
Einem Weißkopfseeadler ist unsere Ankunft scheinbar zu aufregend, denn er erhebt sich von seinem Ast in der Krone einer Sitka-Fichte, nur um mit der Leichtigkeit eines Papierfliegers aus unserem Sichtfeld zu gleiten. Davon unbeeindruckt fährt unser Gruppenleiter mit seiner Ansprache fort: „Wie ihr alle sehen könnt, haben wir die Hängebrücke über Tsocowis Creek erreicht. Das bedeutet, wir haben in etwa sechzehneinhalb Kilometer des Trails geschafft und das bisher - trotz Schlamm - ohne Stürze. Ihr seid super, Leute."
Shawn redet unbeirrt weiter, doch ich merke, dass mich meine Umgebung viel zu sehr ablenkt, als dass ich mich auf seine Worte konzentrieren könnte.
Über uns reißt die Wolkendecke auf, es regnet nicht mehr. So als wolle Mutter Natur ihre Schätze nur im schönsten Licht präsentieren.
„Mallory?" Erst zucke ich zusammen, dann blinzle ich zweimal, als eine weiche Stimme an mein Ohr dringt. „Sorry, ich wollte dich nicht erschrecken."
Es ist Emmabelle, die sich zu mir herumgedreht hat.
Ihre dunkelbraunen Augen wirken beinahe schwarz auf mich, ebenso wie das lockige Haar, das sie zu einem hohen unordentlichen Dutt zusammengebunden hat. Dazu harmoniert ihre schmale Nase mit den hohen Wangenknochen und schmalen Lippen. Eine kleine kommaförmige Narbe an ihrem Kinn hebt sich von ihrem ansonsten dunkleren Hautton ab.
„Ist nicht deine Schuld", sage ich. „Ich bin manchmal ein wenig abwesend."
„Da bin ich ganz bei dir." Mit einer ausladenden Geste deutet sie auf unsere Umgebung. „Das hier ist wie träumen mit offenen Augen. Ich bin super happy, dass Harlow mich zum Wandern überredet hat. Normalerweise verbringen wir unseren Jahresurlaub immer in Addis Ababa mit unseren Familien. Aber dieses Jahr wollten wir es mal richtig krachen lassen."
„Habe ich meinen Namen gehört?", flötet Harlow, als er seine Frau umrundet. Er haucht die Worte Yene Fikir gegen ihre Ohrmuschel, was mir das Gefühl vermittelt, in einen privaten Moment eingedrungen zu sein. Kichernd wendet Emmabelle sich ab, was Harlow ausnutzt, um seine Lippen um das Mundstück ihres Trinkschlauchs zu legen, den sie in der Nähe des Schlüsselbeins am Schultergurt ihres Rucksacks befestigt hat. Dann stiehlt er ihr einige Schlucke Wasser.
„Hey", quiekt Emmabelle gespielt empört und wedelt vor seinem Gesicht herum, als würde sie eine Fliege verscheuchen. Dabei legt sich ein verlegenes Lächeln über ihre Lippen.
Harlow überragt seine Frau um einen halben Kopf. Die kleinen Locken seines schwarzen Haares sind kurz gehalten, an den Seiten sogar raspelkurz geschoren. Seine dunklen Augen mit den ausgeprägten Lidern eines Models sind mir als Erstes an ihm aufgefallen. Harlows Körper kann man als drahtig beschreiben. Mit Sicherheit treibt er viel Sport. Seine Haut schimmert ein paar Nuancen dunkler als die seiner Frau.
„Danke fürs Teilen, Schönste."
Davon werden selbst meine Wangen warm.
„Was ..." Ich räuspere mich, als das Gefühl, hier fehl am Platz zu sein, unerträglich wird. „Was bedeutet Ye-ne Fik-ir?" Ich bemühe mich, die Worte so wiederzugeben, wie ich sie verstanden habe.
„Du hast ein gutes Ohr, Mallory", lobt mich Emmabelle. „Es bedeutet meine Liebste in der amharischen Sprache Äthiopiens."
„Das ist so romantisch. Wie lange seid ihr verheiratet?"
„Fünf wunderbare Jahre, die besten in meinem Leben", erwidert Harlow, bevor seine Frau überhaupt Luft holen kann. Beinahe flüsternd fügt er ein zweites Mal hinzu: „Yene Fikir."
Gerührt lege ich mir die Hand übers Herz, als ihn Emmabelle mit glasigen Augen anschmachtet.
„Ist er nicht ein Traum?" Ob sie die Frage an mich richtet, kann ich nicht sagen. Sie schaut auf jeden Fall nicht mich, sondern ihren Mann an. „Ich bin Scheidungsanwältin", erklärt sie plötzlich. „Und ich war seit der Trennung meiner Eltern der Liebe nicht wirklich zugeneigt. Aber er hat nicht aufgegeben, bis er mein Herz erobert hatte. Seitdem sind wir unzertrennlich."
„Wow", ist das erste Wort, das mir in den Sinn kommt. „Wie im Film. Sollte ich mal heiraten, will ich das, was ihr habt."
Die Belekes werfen einander vielsagende Blicke zu, dann mir.
„Es scheint, als hättest du bereits einen vielversprechenden Kandidaten gefunden", sagt Harlow, reicht mir dabei die Hand und zieht mich eine kleine Steigung hoch, wo ich mich an ihm vorbeischiebe. Verwirrt blicke ich mich um. Wovon spricht er?
Der Rest der Gruppe ist längst auf der anderen Seite im Wald verschwunden. Dann verstehe ich es endlich. Alle, bis auf Archer, der an der Pforte ins Land der Baumriesen wartet.
Etwa auf mich?
Lächelnd winkt er mir zu, als sich unsere Augen trotz der Entfernung treffen. Der berühmte Schmetterlingsschwarm wird damit so abrupt aufgescheucht, dass mir von dem unkoordinierten Geflatter dutzender Flügelpaare beinahe schwindelig wird.
Endlich betrete auch ich die stabil anmutende Tsocowis Creek Hängebrücke. Dabei kann ich mich nicht entscheiden, was mich mehr beeindruckt: Wie sich der rauschende Bach links durch die wild bewachsene Felsschlucht windet oder die raue Schönheit des menschenleeren Strandes rechts von mir. Vielleicht ist es aber auch das Meer aus Bäumen auf der anderen Seite der Brücke.
Ich stelle mir vor, über die hölzerne Zunge auf den klaffenden Schlund einer giftgrünen Bestie zuzugehen. Bereit, mich freien Willens, unzerkaut von ihr verschlingen zu lassen. Den Wald liebe ich. Auch, wenn er mir oft unheimlich erscheint.
Die Bäume erzählen Geschichten vergessener Tage, wenn man sich nur die Zeit nimmt, ihnen zuzuhören.
„Hey Archer", flöten die Belekes im Vorübergehen, als ich vor ihm stehenbleibe. Er nickt ihnen zu, bevor seine Aufmerksamkeit wieder mir gilt.
„Peach", ist alles, was er zu mir sagt. Nur ein einziges Wort, aber es gehört mir.
„Hast du auf mich gewartet?"
Nach meinem Aufenthalt auf Wolke Sieben mit Emmabelle und Harlow muss ich dringend auch etwas Romantisches aus seinem Mund hören.
„Nein", gibt er zurück. Seine Mundwinkel zucken, während mein Gesichtsausdruck die Enttäuschung über seine Antwort deutlich zum Ausdruck bringen dürfte. „Ich bin für dich zurückgekommen."
Nach dem Nein wollte ich ihm die Ohren lang ziehen. Jetzt will ich ihn küssen.
„Mh, das Zweite nehm' ich", erwidert Archer.
„Oh Gott, habe ich das etwa laut gesagt?"
„Hast du", antwortet er mit demselben jungenhaften Grinsen von eben.
Ich befürchte nur, dass Archers Kopf gleich in zwei Hälften gespalten wird, wenn es sich noch weiter in Richtung Ohren ausbreitet. Und mir wird einmal mehr bewusst, wie wohl ich mich in seiner Nähe fühle und wie viel Spaß wir - trotz aller Umstände - miteinander haben. Dank ihm schaffe ich es, ruhig zu bleiben, bis wir den näheren Umkreis des Gebiets absuchen können, wo meine Schwester zuletzt gesehen wurde.
Warum muss dann - ausgerechnet jetzt - meine Eifersucht von vorhin wieder hochkommen? Zumal mein Gegenüber nichts falsch gemacht hat. Ganz im Gegenteil. Meine eigene Unsicherheit ist für diese Gefühle verantwortlich.
„Gibt es schon ein paar schöne Fotos von Astrid und dir? Ihr seht sicher fabelhaft zusammen aus", rutscht es mir heraus, bevor ich mein loses Mundwerk eines Besseren belehren kann.
Archer seufzt.
„Ich hab schon gemerkt, dass du von Gavins Idee nicht begeistert bist. Du solltest aber wissen, dass ich nur deinetwegen zugesagt habe."
„Meinetwegen? Das verstehe ich nicht."
Er nickt knapp.
„Gavin ... er hat eine Drohne."
Ich ziehe eine Augenbraue hoch.
„Okay ..." Schön für Gavin.
„Damit können wir uns auf dem Trail nach Cynthia umsehen - aus der Vogelperspektive."
Vor lauter Rührung falte ich die Hände über Mund und Nase.
„Arch, das-"
Statt weiterzusprechen trete ich nah, ganz nah, an ihn heran und stelle mich auf die Zehenspitzen, bis wir dieselbe Luft atmen.
Er küsst mich, bevor ich es tun kann.
„Ich weiß nicht, was ich sagen soll."
Fingerspitzen an meinem Kinn lassen mich zu ihm aufblicken.
„Du musst nichts sagen. Lass dir von mir helfen." Er küsst meine Nasenspitze. „Du kannst auf mich zählen."
Als wir uns voneinander lösen, ist der Rest der Gruppe längst weitergezogen.
„Scheiße, wir hängen voll hinterher."
Archer zuckt mit den Schultern.
„Die holen wir ein, keine Sorge. An irgendeiner Stelle staut es sich immer."
Und er behält recht. Unsere Wanderkollegen treffen wir vor einem aus zwei Abschnitten bestehenden Leitersystem an einem mit Farnen bewachsenen Abhang wieder. Dass ich den Kopf ganz in den Nacken legen muss, um die obere Plattform zu erkennen, ist vermutlich kein gutes Zeichen. Aber da muss ich jetzt durch, ob ich will oder nicht.
Ich wage den Aufstieg als Vorletzte. Außer mir ist nur noch Archer übrig.
„Na dann mal los."
Sprosse für Sprosse gräbt sich das Holz in meine Handflächen. Ich verfluche das Leiterungetüm, aber meine mangelnde körperliche Fitness verfluche ich mehr. Und Hunter, weil er mir die Wanderung nicht ausgeredet hat. Und Archer, weil sich auf seinem Körper vermutlich nicht eine Schweißperle gebildet hat, während die Haut zwischen meinen Brüsten soeben zum Feuchtgebiet erklärt wurde.
Elegant, wie Gollum schleppe ich mich weiter, bis ich keuchend die obere Plattform erreiche. Mir ist so schwummrig, dass ich mich vorsichtshalber an der Holzlatte eines Tsunami-Hinweisschildes festhalte.
„Was für eine Scheiße", zische ich und bekomme beinahe einen Hustenanfall, als ich durch den Trinkschlauch meiner Wasserblase mehrere gierige Schlucke aufsauge. Mein Mund ist staubtrocken. Habe ich heute überhaupt schon etwas getrunken?
„So schlimm?", will Hunter von mir wissen.
„Ich glaube, ich verrecke gleich. Ganz ehrlich." Ein weiterer Hustenanfall untermalt meine dramatische Darbietung.
„Quatsch, du hast dich gut geschlagen. Aber du musst mehr trinken als sonst. Viel mehr." Hunter deutet auf meine Hand. „Und lass lieber das Schild los, bevor es umknickt."
Damit klopft mir Archers kleiner Bruder auf die Schulter und wendet sich zum Gehen ab.
„Was bedeutet es? Das Schild, meine ich."
Auf einem blauen quadratischen Hintergrund sind die simplen weißen Umrisse einer Hütte abgebildet.
„Es besagt, dass man sich hier im Falle eines Tsunamis außerhalb der Gefahrenzone befindet."
Meine Lippen formen ein stilles O.
Wenn ich bedenke, wie hoch wir gerade geklettert sind, hat diese Tatsache eher eine beängstigende Wirkung auf mich, als dass sie mich beruhigen würde. So eine Höhe erreicht man nicht innerhalb von fünf Minuten.
Das mulmige Gefühl begleitet mich über die gesamte Länge einer inmitten der Baumwipfel verlaufenden Hängebrücke. Solange, bis wir an zwei roten Klappstühlen vorbeikommen, die jemand hier am Abhang platziert haben muss.
„Wer schleppt denn bitte Stühle mit in den Wald?" Damit spricht Astrid laut aus, was mir gerade selbst durch den Kopf ging.
„Der Ausblick ist es auf jeden Fall wert", mischt Archer sich ein. „Ich meine, von hier oben kann man das Meer sehen."
Harlow und Emmabelle lassen unterdessen achtlos ihre Rucksäcke in den Dreck sinken und bringen als erste den Mut auf, jeweils einen der beiden Sitzplätze einzunehmen.
„Oh mein Gott, bleibt so. Das sieht geil aus", kommt es von Gavin.
Ich grinse in mich hinein, als ich überlege, dass der Fotograf vermutlich den Großteil der Welt durch die Linse einer Kamera betrachtet. Für jemanden, der für die Kunst lebt, muss ein solches Westküsten-Paradies doch der absolute Traum sein. Wir ziehen weiter und stehen bereits kurze Zeit später vor dem nächsten Motiv.
„Was ist das?", frage ich niemand bestimmten, da ich auch bei näherem Betrachten des metallischen ... Geräts nicht selbst darauf komme.
Shawn erscheint an meiner Seite. Er wendet sich erst mir, dann dem Rest der Gruppe zu.
„Leute, bei diesem Baby hier", beginnt er und deutet mit dem Daumen auf das verrostete Etwas hinter sich, „handelt es sich um eine Donkey Engine. Das ist im Großen und Ganzen eine Dampfmaschine mit Seilwinde. Diese sogenannten Dampfesel wurden früher in der Forstwirtschaft eingesetzt, um gerodete Baumstämme abzutransportieren. Und wir haben mit der alten Lady hier Kilometer neunzehn des West Coast Trails erreicht. Für uns geht's jetzt weiter in Richtung Strand. Dort legen wir eine kurze Mittagspause ein."
Shawn liebt seinen Job. Das merke ich am Leuchten in seinen Augen, wenn er mit Fakten und Anekdoten um sich wirft oder an seinen wilden, ausladenden Gesten, wenn er spricht. So sieht echte Leidenschaft aus. Denselben Ausdruck habe ich unzählige Male auf Cynthias Gesicht gesehen. Mit dem Unterschied, dass sie nach einer kurzen heißen Phase immer schnell das Interesse verliert. Wobei das mit zwanzig sicher normal ist. Soll sie sich ruhig austoben, solange sie niemandem damit schadet.
Das kann sie aber nur, wenn wir sie finden - und wenn sie noch ...
Den Gedanken führe ich nicht zu Ende. Natürlich lebt sie noch. Lieber konzentriere ich mich auf die letzten Kilometer des heutigen Tages oder die sich ständig verändernde Landschaft.
Eben stapft man im Wald noch durch knöcheltiefen Matsch und im nächsten Moment hat man schon wieder Sand unter den Füßen. Auch wir haben inzwischen den Strand erreicht.
Es herrscht Ebbe und das Meer hat unzählige Gezeitentümpel zwischen den Felsplatten zurückgelassen, in denen sich Lebewesen wie Seeanemonen, Seepocken oder Krabben tummeln.
Begleitet vom stetigen Geräusch der Brandung wandern wir nach Klanawa River, wo wir uns für eine dreißigminütige Mittagspause auf ein paar Baumstämmen niederlassen. Eingebettet zwischen Wäldern bewegt sich der Fluss gemächlich vorwärts. Auf beiden Ufern fällt der breite Sandstrand flach ab und überall liegt Treibholz.
„Wie machen wir das mit der Seilbahn? Fahren wir einzeln rüber?", murmelt Archer um seinen Energieriegel und zieht damit meine Aufmerksamkeit auf sich.
„Nee", erwidert Hunter. „Wir machen es paarweise. Shawn fährt mit jemandem rüber und ich bleibe hier, bis alle anderen am anderen Ufer sind. Dann komm' ich nach."
Astrid nimmt einen großen Schluck gefiltertes Wasser aus ihrer Trinkflasche und fragt: „Wie funktioniert das Ding?"
„Die Schwerkraft bringt euch ungefähr bis über die Mitte und von dort müsst ihr so lange am Seil ziehen, bis ihr die andere Seite erreicht", erwidert Hunter nüchtern. Mich würde es nicht wundern, wenn meine Puddingärmchen gerade planen, sich vom Rest meines Körpers abzutrennen und schreiend davonzurennen.
Plötzlich lässt sich Astrid direkt neben mir auf den Baumstamm plumpsen.
„Wie wäre es mit einer Girlpower-Gondel? Oder hast du schon einen Mitfahrer?"
Ich schüttle den Kopf.
„Noch nicht. Also, ich bin dabei. Es ist nur, meine Oberarme sind nicht gerade aus Stahl, wenn du verstehst."
Beide lassen wir den Blick zur Gondel wandern, die mich eher an eine offene Werkzeugkiste erinnert.
„Meine hängen auch eher nach unten durch, aber wir bekommen das schon hin", antwortet Astrid kichernd. Sie hält mir ihre flache Hand für eine High Five hin und ich schlage ein. Die Kopenhagenerin hat recht. Wir schaffen das.
Shawn und Archer sind die Ersten. Dann kommen wir.
Wie erwartet huscht die Seilbahn über die Mitte des Klanawa River, ohne dass wir auch nur einen Finger rühren müssen. Das Sonnenlicht bricht sich in der Oberfläche, was das kristallklare Wasser in einem grünlichen Blau leuchten lässt.
Wir lassen die Gondel gar nicht erst stoppen. Mit vereinten Kräften sind wir trotz der jetzt einsetzenden Steigung des Trageseils weiterhin zügig unterwegs und erreichen die andere Seite ohne Zwischenfälle.
Erschöpft ist mein Körper trotzdem, zudem hat mich die Mittagspause etwas träge gemacht. Ich möchte mich einfach nur in den Sand legen und eine Runde schlafen. Dabei sind es nur noch popelige zwei Kilometer bis nach Tsusiat Falls.
Lustlos reihe ich mich neben Hunter ein. Dabei treffen sich unsere Augen.
„Was machst du denn für ein Gesicht?", will er wissen.
„Ich habe keine Lust mehr."
Spielerisch stupst er meine Schulter mit seiner an, wie er das oft tut.
„Ja, die letzten ein bis zwei Kilometer sind die Schlimmsten", sagt er. „Na komm, Zauberpfirsich, ich will dir was zeigen."
„Was habt ihr denn immer mit Pfirsichen? Das ist doch nicht normal."
Hunter lacht.
„Arch hat angefangen. Ich find's einfach nur extrem witzig."
Ich strecke Archers kleinem Bruder die Zunge heraus und trotte ihm und den anderen schweigend durch den Wald hinterher.
„Was wolltest du mir denn nun zeigen?", nörgele ich nach einiger Zeit.
Hunter seufzt.
„Da sind wir doch schon."
„Was-"
Das Wort stirbt auf meiner Zungenspitze, als ich die Lider hebe und mit einem Mal das Meer von oben bewundern kann. Wie hypnotisiert beobachtete ich die Wellen dabei, wie sie an den Felsen vor der Küste zerschellen. In der Ferne ist Land zu erkennen. Begleitet von rhythmischem Gehämmer und dem Dröhnen einer Motorsäge überlege ich, ob es sich dabei um Washington handeln könnte. Moment, was?
Hunter scheint mir meine Verwunderung anzusehen, denn er erklärt: „Die erneuern hier gerade sämtliche Bretterpfade."
Tatsächlich sind die Holzwege auf diesem Abschnitt gut in Schuss und ermöglichen uns auf der Zielgeraden ein zügiges Vorankommen bis hin zur hölzernen Brücke über den Tsusiat Fluss.
„Ist da vorn der Wasserfall?" Ich deute in Fließrichtung.
Hunter nickt.
„Jap, da vorn ist Tsusiat Falls. Wir haben noch einen Leiterabstieg vor uns und dann war's das für heute."
Wenig später erreichen wir das Lager und schlagen am Strand unsere Zelte zwischen herumliegendem Treibholz auf. Meines ist sogar an drei Seiten von Baumstämmen umgeben, was mich heute Nacht hoffentlich ruhiger schlafen lässt.
Aber an Schlaf ist noch lange nicht zu denken. Es ist gerade einmal Nachmittag und es gibt einiges zu entdecken. Ich spaziere den Strand entlang, bis ich mein Ziel erreicht habe.
Von einer abrupt abfallenden Klippe stürzt der Tsusiat Wasserfall steil in die Tiefe auf den Strand hinab, wo sich das Wasser in einer Art Lagune sammelt. Von dort bahnt es sich einen Kanal durch den dunklen Sand, der schließlich ins Meer mündet.
„Dieses Jahr ist der Flusspegel eher niedrig." Ertönt Hunters Stimme hinter mir. Ich zucke zusammen, weil mich das Naturschauspiel so abgelenkt hat, dass ich ihn bisher nicht bemerkt habe. „Bei größerem Volumen bildet das Wasser manchmal sogar einen durchgängigen Schleier."
Ich versuche, es mir bildlich vorzustellen, als ich die kleine Grotte unterhalb der Kaskaden erkunde. Und es tut gut, meine schmerzenden Füße im angestauten Wasser abzukühlen.
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