Epilog | Archer

sechs Jahre Später

„Arch?"

Blinzelnd wende ich den Blick von meiner hochschwangeren Frau ab, die heute ein weißes Umstandskleid mit gelb-violettem Blumenmuster und das sonnengebleichte Haar offen trägt. Ein nacktes Bein baumelt aus der Hängematte, dabei habe ich sie schon so oft gebeten, in ihrem Zustand nicht mehr allein dort hineinzuklettern.

„Arch?", zieht dieselbe Stimme von eben meine Aufmerksamkeit energischer auf sich. „Ist da oben jemand zu Hause oder sind sämtliche Gehirnzellen ausgeflogen?"

Nur mit Mühe gelingt es mir, den Störenfried zu fokussieren.

Tante Sue hat schmunzelnd die Arme vor der Brust verschränkt. Sie trägt das Haar in einem seitlichen Zopf, dazu ein schwarzes, ärmelloses Top und einen Batik-Rock in Blautönen, der ihr bis zu den Knöcheln reicht. Wie Mallory ist auch meine Tante barfuß unterwegs - kein Wunder, wenn kein Schuh der Welt mit dem Gefühl von weichem Gras auf der Haut mithalten kann.

„Entschuldige. Was hast du gesagt?"

Seufzend rollt sie mit den Augen.

„Du bist schlimmer als jede Telenovela, echt", sagt sie. „Wie soll denn das bei der Geburt werden?"

Knurrend vergrabe ich beide Hände in meinen schulterlangen Locken.

„Erinner mich bloß nicht daran."

Ich spüre, wie mir sämtliche Farbe aus dem Gesicht weicht. Tante Sues Hand findet den Weg zu meiner Schulter.

„Du musst locker bleiben, okay?" Sie nickt in Mallorys Richtung. „Frag die Frau nicht alle zwei Sekunden, ob sie auch wirklich nichts braucht. Hunter und dein Vater machen sich hinter deinem Rücken schon über dich lustig."

„Pff, die Arschgeigen", grummle ich. Mit der Spitze meines Turnschuhs kicke ich den Zapfen einer Douglasie über den Rasen.

Tante Sue lacht. Dabei duldet sie Kraftausdrücke sonst nicht.

Als hätte Hunter geahnt, dass gerade über ihn gesprochen wird, kommt er in einem schwarzen T-Shirt und blauen ausgefransten Jeans aus der hinteren Terrassentür auf die Lichtung hinter unserem Haus geschlendert.

Als Wrens damaliges Ferienhaus in Port Renfrew - das mit der gigantischen Glasfront - vor einem Jahr zum Verkauf stand, haben Mallory und ich nicht lange gefackelt. Wir hatten gerade geheiratet und waren ohnehin auf der Suche nach einem Eigenheim, also haben wir es gekauft. Auch, wenn wir dafür natürlich eine Hypothek aufnehmen mussten.

Hinter meinem Bruder drängelt sich Jessie durch den offenen Spalt in der Schiebetür. Sie teilt die Liebe ihrer Adoptivmutter für florale Muster und luftige Kleider, was man heute wieder deutlich an ihrem Outfit erkennen kann.

Sofort straffe ich die Schultern, als ich merke, dass die zwei direkt auf meine Frau zusteuern.

Die sollen Mallory jetzt bloß in Ruhe lassen. Sie hat sich gerade erst hingelegt, nachdem wir für die Vorbereitung ihrer Geburtstagsfeier den ganzen Vormittag in der Küche gestanden haben.

Ich will gerade zum Protest ansetzen, aber Tante Sue platziert ihre Hand auf meinem Unterarm.

„So was meine ich, mein Lieber. Lass Mallory das selbst regeln. Wenn sie schlafen will, wird sie das den beiden schon mitteilen."

Durch die Nase atme ich tief ein und langsam wieder aus.

Mallory lässt sich natürlich breitschlagen. Sie streckt den beiden aus der Hängematte beide Arme entgegen, weil sie bereits seit Wochen nicht mehr ohne Hilfe auf die Füße kommt.

Jessie, für die ich vor fünf Jahren zunächst allein die Vormundschaft übernommen habe, weil Mallory während ihres Studiums in Ontario lebte, nimmt die linke und Hunter die rechte Hand meiner Frau.

Mein Bruder erzählt irgendwas und gestikuliert wild dabei. Kurz darauf werfen Mallory und Jessie laut lachend die Köpfe in den Nacken. Die zwei sind sich vom Charakter her so ähnlich, dass ich mir manchmal wie das fünfte Rad am Wagen vorkomme. Aber das Familien-Gleichgewicht wird durch die bevorstehende Geburt unseres Sohnes hoffentlich bald wieder hergestellt. Dann steht es zwei gegen zwei.

Als Hunter und Jessie mit meiner Frau im Inneren des Hauses verschwinden, werde ich neugierig und pirsche hinterher. Im Gegensatz zu den dreien betrete ich unser Domizil allerdings durch die vordere Haustür. Sie würden mich ansonsten sofort kommen sehen.

„Bleib liegen, alter Junge", sage ich zu Leonidas, unserem dreibeinigen Ridgeback. Als ob er meinetwegen aufstehen würde. Flach wie eine Eidechse hat er sich in sein Hundebett gekuschelt und verändert seine Positionen kaum, als ich ihn im Flur passiere. Lediglich an seinem Schwanz, der wiederholt mit dem Schuhregal kollidiert, erkenne ich, dass er sich über meine Anwesenheit freut.

Mit dem Feldherren, dem er seinen Namen zu verdanken hat, hat unser Opa nicht mehr viel gemeinsam. Aufgrund seines stolzen Alters von fünfzehn Jahren lümmelt er größtenteils hier oder auf seinem Bett neben der Verandatür herum. Am Abend muss ich ihn die Treppe hinauf in unser Schlafzimmer hieven, wo am Fußende unseres Bettes ein weiteres Hundekörbchen für ihn steht.

Er schnarcht, furzt und wälzt sich im Schlaf herum. Mitunter sorgt das für eine interessante Geräuschkulisse. Eine, die wir um nichts in der Welt missen möchten. Wir haben uns in dem Moment in ihn verliebt, als er uns im Tierheim aus einem honigfarbenen und einem milchigen Auge angesehen hat.

Plötzlich ertönen sanfte Klavierklänge aus Richtung des Wohnzimmers. Vorsichtig bewege ich mich in dieselbe Richtung, bis ich vom Türrahmen aus den blonden Schopf meiner Frau entdecke. Der ragt nur knapp über die Rückseite unserer schwarzen L-förmigen Couch hinaus.

Jessie und mein Bruder haben genau in ihrem Sichtfeld am Couchtisch und vor Hunters Keyboard Platz genommen. Sie spielen die ersten Töne von Mallorys absolutem Lieblingslied, das denselben Namen wie unsere sechzehnjährige Adoptivtochter trägt.

Weil Joshua Kadisons Stimme mitunter mehrmals täglich durch das Haus schallt, erkenne ich es nach wenigen Sekunden.

„From a phone booth in Vegas Jessie calls at 5 a.m. To tell me how she's tired of all of them", füllt Hunters butterweiche Stimme den Raum. Augenblicklich lässt Mallory den Kopf in die Lehne der Couch sinken, um zu lauschen.

Wie bei mir ist auch an Jessie keine begnadete Musikerin verloren gegangen und doch übernimmt sie auf dem Klavier denselben Part, den Hunter sonst mit seiner linken Hand gespielt hätte. Das Singen überlässt sie meinem Bruder.

Der bringt das gebrochene Herz des Sängers auf unvergleichliche Weise rüber. Beinahe wünscht man ihm, dass er seinen Wohnwagen in Mexiko bekommt, wo er mit der Liebe seines Lebens am Strand Muscheln sammelt. Gleichzeitig ahnt man, dass es diese Zukunft mit der Jessie aus dem Lied nie geben wird.

Sie wird ihm immer nur Flöhe ins Ohr setzen, Bilder malen, von Dingen, die nie eintreten werden.

Träume sind manchmal nur Schäume, nichts als Luftschlösser, die zwischen vorüberziehenden Wolken untergehen. Vermutlich werden ihm am Ende nur sein Kater Moses, Jessies Bilder an toten Wänden und Hosentaschen voller Sand bleiben.

Hunter und Jessie beenden den Song mit wildem Geklimper und einer dramatischen Verbeugung, was meine Frau mit begeisterten Zurufen und ausgelassenem Geklatsche quittiert.

Als ausgerechnet in dem Moment die Türklingelmelodie ertönt, entdeckt mich Hunter im Türrahmen und grinst schelmisch.

„Na komm, Jess. Schauen wir mal, wer das ist."

Die beiden huschen kichernd an mir vorbei und ich löse mich aus meinem Versteck, bevor ich die Couch umrunde. Mallorys Lächeln strahlt so hell wie die Sonne an einem wolkenlosen Tag.

Sie streckt die Hand nach mir aus. Ich küsse die zarte Haut auf der Rückseite und spüre das schneller werdende Trommeln des Pulses in ihrem Handgelenk. Sie hat auf mich genau dieselbe Wirkung.

„Willst du tanzen?", frage ich im Scherz, denn sie ist darin noch ebenso ungeschickt wie bei unserem ersten Mal in der Küche. Aber das würde ich ihr nie unter die Nase reiben.

„Ohne Musik?"

Aus der engen Hosentasche meiner schwarzen Jeans-Shorts ziehe ich mein iPhone hervor und mache The Dark von SYML an. Das Lied, zu dem wir zum ersten Mal getanzt haben. Das Handy lasse ich achtlos auf das Sitzpolster der Couch fallen.

„Oder mit", gebe ich zurück.

Meine Augen weiten sich, als sie nickt. Das habe ich nicht erwartet und eigentlich sollte sie sich doch ausruhen. Andererseits kann ein Tänzchen nicht schaden.

Mallorys Hände sind weich und warm, wie ihre Persönlichkeit. Ich liebe es, sie an mich zu ziehen, mich zu den melancholischen Klängen mit ihr von links nach rechts zu wiegen. Auch, wenn wir aufgrund ihres kugelrunden Bauches nicht eng umschlungen tanzen können.

Wir bewegen uns gerade so drei Schritte von der Couch weg, da tänzelt Mallorys Handy vibrierend über die Glasplatte des Wohnzimmertisches. Ist heute Tag der Unterbrechung?

„Peach", knurre ich, als ihre Augen an dem elektronischen Störenfried hängen bleiben. „Ignoriere es einfach."

Der Moment ist gerade viel zu schön, um zu enden.

„Aber-" Sie schiebt die Unterlippe hervor. „Es könnte meine Schwester sein. Gestern sind sie von Bangkok nach Phuket weitergeflogen. Ich will nur wissen, ob alles gut ist, dann gehöre ich wieder ganz dir."

Ich seufze. Sie hatte mich schon bei der Schmolllippe und das weiß sie auch. Ein Schmunzeln zieht an ihren Mundwinkeln.

„Na schön."

Da dreht sie mir auch schon den Rücken zu und öffnet den Messenger ihres Handys. Als hätte Mallorys einen sechsten Sinn für solche Dinge, war es tatsächlich Cynthia, die ihr geschrieben hat, genauer gesagt, ihr ein Video aufgenommen hat.

Meeresrauschen füllt den Raum, sobald meine Frau den Play-Button betätigt. Augenblicklich muss ich grinsen.

Wren hängt Kopf über von einer krummen Palme, deren Blätter beinahe das Meer berühren, während die Brandung unaufgeregt an den Strand plätschert. Er trägt eine weiße Badehose mit türkisen Hibiskusblüten darauf, die mich an ein Hawaiihemd erinnern. Cynthia drückt ihm von unten einen Kuss auf die Lippen.

Die Worte Happy Birthday Lory hat ihm vermutlich Cynthia mit rotem Lippenstift in zwei Reihen einmal quer über sein Sixpack geschrieben.

„Elende Angeber", murmle ich und fühle mich wie Gott, als meine Frau deswegen in Gelächter ausbricht. Fuck, ich liebe dieses Lachen.

„Naw, ist es das Sixpack oder der Strand?"

Statt zu antworten, stecke ich ihr die Zunge raus und schlucke meine Antwort herunter. Mit meinem Körper bin ich eigentlich ganz zufrieden, doch irgendwie fehlt mit der Elan, auf ein Waschbrett hinzuarbeiten.

Eine andere Sache verschweige ich Mallory ebenfalls: Aus zuverlässiger Quelle - okay, es war Wren - weiß ich, dass ihre kleine Schwester heute nach fünf turbulenten Beziehungsjahren endlich den Heiratsantrag erhalten wird, den sie sich immer gewünscht hat.

„Was ist das?", ertönt Hunters Stimme hinter uns.

„Wren und Thia leben den Traum, sieh nur", erwidert Mallory über ihre Schulter hinweg. Im selben Moment wie sie reiße auch ich die Augen auf, als ich merke, wer neben meinem Bruder steht.

Ihre Lippen formen ein: „Connor", als sich meine Frau die Hand auf die Brust legt.

Er muss schwer schlucken, was man schon allein am Rollen seines Kehlkopfes merkt.

„Happy Birthday", krächzt er und drückt ihr ein Päckchen in die Hand, das in etwa so groß und dick ist wie eine Bibel. Nicht, dass ich in letzter Zeit eine gesehen hätte, schließlich bin ich nicht religiös.

Peach nimmt es an sich, nur um das Kästchen in der Höhe ihres Gesichts zu schütteln.

„Was ist es?", quietscht sie.

„Es-" Connor kratzt sich am Hinterkopf. „Das Ding ist ein wenig empfindlich. Schütteln ist vermutlich nicht so gut."

„Oh." Mallorys Wangen nehmen eine niedliche Rotfärbung ein. „Bitte entschuldige. Danke für das Geschenk und danke, dass du dich trotz deiner Absage doch noch entschieden hast, zu kommen. Das bedeutet uns allen viel." Sie drückt sich das Geschenk an die Brust. „Das öffne ich jetzt."

Meine Frau begibt sich zu ihrem Eckschreibtisch, wo sie oft bis spätabends über den Unterlagen des Reiterhofs sitzt, den sie in der Nähe von Sooke mit einer Studienkollegin eröffnet hat.

Julie wohnt mit ihrer Lebensgefährtin Anna auf dem kleinen Gehöft, wo man Reitstunden nehmen und sein Pferd zur Pension unterstellen kann. Am beliebtesten ist allerdings der Seepferdchen-Kurs, den Mallory und Julie Reitschülern aller Altersgruppen anbieten.

Dabei lernt man, ob und, wenn ja, wie man sicher einen Fluss durchqueren oder sich beim Baden mit Pferd auf dem Rücken des Tieres halten kann. Das ist nämlich gar nicht so leicht.

Bei dem Stichwort Wasser fällt mir ein, dass ich unseren Gast noch nichts zum Trinken angeboten habe. Während Mallory nach der Schere kramt, um damit das Päckchen aufzuschneiden, lege ich Connor die Hand auf die Schulter.

Seit seiner Entlassung wohnt er bei Hunter, der nach der Trennung von seinem Ex dringend einen neuen Mitbewohner für seine Vierzimmerwohnung brauchte. So konnte Connor sein Haus verkaufen und das Geld nutzen, um eine Möbeltischlerei zu eröffnen. Man könnte sagen, dass er langsam wieder auf die Beine kommt.

Wir sind ihm unendlich dankbar dafür, dass er Jessie seinen Segen für die Adoption gegeben hat. Damit ist er ebenfalls ein Teil unserer Familie geworden. Auch, wenn es scheint, als müsse er sich noch an den Gedanken gewöhnen.

„Möchtest du Bier?", frage ich ihn.

Er schüttelt den Kopf.

„Danke dir, aber Alkohol verträgt sich nicht gut mit meinen Medikamenten." Fuck, was bin ich doch für ein Volltrottel?

Als hätte er meine Gedanken gelesen, winkt er ab.

„Nicht schlimm. Ich nehm' eine Dose Mountain Dew, wenn ihr das habt."

„Klar, Mann, bin gleich zurück."

Doch gerade, als ich mich in Richtung Küche bewegen will, ertönt die glockenhelle Stimme meiner Frau.

„Oh mein Gott, Connor", quiekt sie. „Das ist ja super. Das probiere ich gleich mal aus."

„Wenn du Lautsprecher anschließt, können wir alle mithören."

Meine Augen zoomen an das handgroße rosafarbene Gerät auf der Schreibtischplatte, während Mallory die oberste Schublade durchwühlt.

„Aha", sagt sie, als sie mit Stolz geschwellter Brust einen USB-Lautsprecher in die Höhe hält.

„Hier ist das Gel dafür."

Damit holt Connor ein transparentes Fläschchen aus der Hosentasche seiner dunkelblauen Jeans. Es sieht aus wie Hände-Desinfektionsgel.

„Du hast ja an alles gedacht", sagt Mallory, als sie das Fläschchen mit einer Hand auffängt.

Ich staune nicht schlecht, denn für gewöhnlich sind ihre Fangkünste dürftiger als die von Leonidas.

„Was ist das denn?", höre ich mich fragen, weil ich so ein Teil noch nie gesehen habe.

Meine Frage beantwortet sich von selbst, als sich Mallory mit konzentrierter Miene auf der Couch niederlässt. Ein Bein ist unter ihrem Hintern gefaltet, das andere steht mit dem Fuß auf dem Boden, als sie das T-Shirt hebt und ein wenig Gel auf ihrem Bauch verteilt. Das scheint eine Art Ultraschall-Gerät ohne Bildausgabe zu sein.

Augenblicklich muss ich an den ersten gemeinsamen Frauenarzt-Termin vor ein paar Monaten zurückdenken, als das schönste Geräusch ertönte, das ich je gehört habe.

Bum, bum. Badum. Bum, bum. Badum.

Der Rhythmus eines neuen Lebens. Die reinste Form von Liebe.

Diesen Moment, jetzt gerade, kann nichts toppen.

Ich bin ein verdammter Glückspilz.

═════ ◈ Ende ◈ ═════

So ihr Lieben,
das Ende von Chased by the Cougar ist erreicht. Ich bedanke mich von ❤️-en bei euch allen fürs Lesen, Voten und Kommentieren.
Liebe Grüße
Maria

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