9. [unbenannt_01]


Jim Todds arbeitete schon sein ganzes Leben lang hier am Seattle Airport. Seit Jahren saß er jeden Tag hier, in der Sicherheitskontrolle, am Bildschirm und suchte Scans von Tasche für Tasche, Jacke für Jacke, nach Auffälligkeiten ab. Im Grunde war es wenig abwechslungsreich und zuweilen eintönig, aber er liebte seine Arbeit.

Eigentlich war er überqualifiziert für diesen Beruf. Oft wurde er gefragt, warum er nie studiert hatte und irgendeinen „richtigen" Beruf ergriffen hatte. Die Antwort fiel ihm jedes Mal leicht: Es machte ihm Spaß. Das hier war für ihn kein Beruf, sondern eine Berufung. Er hatte es sich zur Beschäftigung gemacht, zu erraten, was die Leute vorhatten und wohin sie wollten, einfach indem er die Bilder analysierte und versuchte, Schlüsse daraus zu ziehen. Meistens war nicht sehr viel Spannendes dabei, weshalb er sich auch oft damit zufriedengab, die einzelnen Bilder den wartenden Leuten zuzuordnen. Mittlerweile konnte er mit einem Blick auf eine Person und ihre Habseligkeiten feststellen, wohin sie ungefähr flogen, aus welchem Grund sie das taten und wie lange sie weg sein würden. Manchmal gaben sie ihm auch Rätsel auf. Dann brauchte er immer einen Moment. Dann fand er die Lösung. Das mochte er sehr. Vielleicht ein oder zwei Mal im Jahr tat er das nicht. Das machte ihn wütend. Oft sorgte er dann dafür, dass ihr Gepäck untersucht wurde, um sich ein wenig mehr Zeit zu kaufen. Wenn er dann immer noch nicht darauf gekommen war, war diese Person in seinen Augen ein Verbrecher. Sein stilles Spiel hatte er dann verloren, gegen einen Gegner, der nicht wusste, dass er ein solcher war. Das passierte äußerst selten, das letzte Mal vor auf den Tag genau zehn Jahren.

Dieser eine Tag würde ihm immer im Gedächtnis bleiben, genauso wie dieser Mann, dessen Züge sich, so fühlte es sich an, bis in alle Ewigkeit in seine Netzhaut gebrannt hatten. Wenn Jim Todds seine Augen schloss, dann sah er sie genau vor sich. Die hohe Stirn. Die rabenschwarzen Haare, die glatt nach hinten gekämmt waren. Und diese Augen, diese Augen, die von einem so durchdringenden Blau waren, dass er hätte schwören können, dass der Mann Kontaktlinsen getragen hatte. Und dann dieser Gesichtsausdruck, so reglos wie in Marmor gemeißelt, so ausdruckslos wie der einer Statue, und doch alles andere als nichtssagend. Dieser Mann war Stein, und seine marmorne Fassade zu brechen, war schlicht unmöglich gewesen. Das einzige, was er außer einem Jackett mit sich führte, war ein Reisepass, eine Bordkarte und ein seltsam anmutender Schlüssel.

Doch so sehr er auch Kälte und Kontrolle ausstrahlen mochte, etwas an ihm passte nicht zum gesamten Bild. Wenn man ihm in die Augen sah, stellten sich einem die Nackenhaare auf und irgendwo schrie eine Stimme im Kopf nach Flucht, und zur selben Zeit übte er eine unerklärliche Anziehungskraft auf einen aus. Die Fingerspitzen fingen an, zu kribbeln, und gleichzeitig hatte man das Gefühl, man sollte lieber still sein. Das war dieser Mann nämlich: Ein einziger Widerspruch. Für die meisten wohl faszinierend, für Jim Todds ein Dorn im Auge. Er passte nicht ins Muster. Er ließ sich in keine Schublade einsortieren. Wer war er? Jim Todds wusste es bis heute nicht, und nicht ein Tag war in diesen zehn Jahren vergangen, an dem er nicht an ihn gedacht hatte.

Umso schockierter war er, als er heute, als er von seinem Bildschirm aufschaute, direkt in diese stechend blauen Augen blickte, von denen er gedacht hatte, dass er sie nie wieder erblicken würde.

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