7. Ich tue so, als wäre ich nicht da


Gut, ein schwarzer Hoodie war jetzt nicht unbedingt die beste Tarnung und es gab sicherlich unauffälligere Kleidungsstücke, aber etwas Besseres war mir auf die Schnelle nicht wirklich eingefallen, und wenigstens hatte ich meine Sonnenbrille zu Hause gelassen. Während ich in den Büschen an der halb vergammelten Bank herumlungerte und so tat, als wäre ich nicht da, dachte ich darüber nach, ob ich noch die Kapuze aufsetzen sollte.

Dabei wusste ich doch ganz genau, dass sich nie irgendjemand in diese hinterste Ecke des Schulgeländes verirrte. Ich traf mich immer mit Olivia hier, und immer hieß auch wirklich immer. Jeden einzelnen Tag. Seit wir uns kennen gelernt hatten. Auch, wenn ich eigentlich nicht zur Schule gekommen war und den ganzen Tag irgendwo in der Gegend herumgestreunt war, kam ich her. Das war aber auch so ungefähr die einzige Sache, in der man sich auf mich verlassen konnte. Immer. Nur nicht gestern.

Habe ich schon erwähnt, dass ich ein Problem mit Aufmerksamkeit habe? Während ich nämlich in meiner depressiven Gefühlswelt versank, rückte die reale  Welt immer weiter in die Ferne. Und wurde prompt zurückgerissen, als ich plötzlich Schritte durch das Laub stapfen hörte.

„Junge, was das hier? Seit wann steht hier ne Bank?", fragte ein Junge, der so klang, als wäre er noch nicht wirklich mit dem Stimmbruch durch.

„Schon immer. Bist du dumm?"

„Junge, du bist dumm!"

„Fick dich!"

Drei Jungen, vielleicht zwei Jahrgänge unter mir (gemessen an ihren mitleidserregenden Versuchen, cool zu wirken), standen keine drei Meter entfernt von mir. Sie machten nicht den Eindruck, als wären sie besonders intelligent. Es grenzte an ein Wunder, dass sie mich noch nicht entdeckt hatten.

„Nein, im Ernst, wart ihr schon mal hier?"

„Deine Mudda war schon mal hier!"

„Fresse!"

O Gott, wie lange sollte das noch weitergehen? Ich widerstand dem Drang, mich zu bewegen.

„Ist doch scheißegal. Das Ding ist kaputt"

„Junge, Lass mal draufsetzen!"

„Nen Scheiß mach ich!"

Das Krachen von marodem Holz ertönte, gefolgt von Gelächter. Ich ballte meine Fäuste. Klar, eigentlich bedeutete mir dieser Ort nicht viel. Aber es fühlte sich trotzdem an, als wären sie hier Eindringlinge in meinem Reich.

„Junge, hier ist es schon scheiße, lass mal weitergehen."

Sie schlurften davon, sich weiterhin Beleidigungen an den Kopf werfend, die zunehmend unkreativer wurden. Ich wartete noch, bis ich sie nicht mehr hören konnte, dann stand ich auf, zupfte ein paar feuchte Blätter von meiner Hose und ging. Ich wagte es nicht, zu rennen. Ich hatte Angst, Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen.

Sobald ich um die erste Ecke gebogen war, fing ich an zu rennen.

Als ich zu Hause ankam, war ich völlig fertig. Daran, dass ich den restlichen Weg gesprintet war, lag es aber nicht. Also nicht nur. Warum störte es mich nur so sehr, dass an unserem Platz andere Leute gewesen waren? Klar, vorher hatte sich niemand uns auch nur genähert. Fast, als wären wir unsichtbar gewesen. Außerdem hatte sich heute alles so... anders angefühlt. Leer. Stumpf. Nicht echt. Aber das konnte doch nicht von Olivia kommen! Oder? Ich kam mir in diesem kurzen Moment des Zweifelns ziemlich bescheuert vor. Glaubte ich jetzt neuerdings an Magie? Nein. Magie war Quatsch. Es gab für alle scheinbar unerklärlichen Phänomene eine wissenschaftliche Erklärung. Auch, wenn es diese Erklärung vielleicht noch nicht gab. Alles logisch, rational, realistisch. Wenigstens auf diese Gewissheit konnte ich bauen.

Irgendwann kamen Emily und Helen zurück. Ich sprach nicht mit ihnen und zog mich stattdessen in mein Zimmer zurück. Ich dachte nach. Ich nahm Olivias Zettel, faltete ihn, klappte ihn wieder auf, meine Finger spielten mit ihm, hielten ihn immer in Bewegung, aber ich war vorsichtig, als hätte ich Angst, ihn zu zerreißen. Das waren Olivias letzte Worte gewesen, bevor ich sie zum letzten Mal gesehen hatte.

Lass dir nicht die Laune verderben.

Ich sah mir die Schrift an. Sie war nicht unbedingt sehr ordentlich, aber auf ihre eigene Art schön. Die Art, wie sie die Buchstaben schwang. Wie sie schnell schreiben konnte, aber trotzdem leserlich. Die winzigen Stellen, wo sie den Kugelschreiber zu fest aufgedrückt hatte und wo kleine Dellen waren, die ich nur mit den Fingerspitzen erfühlen konnte. Dass sie dieses kleine Stück Papier berührt hatte, dass diese Buchstaben von ihrer Hand kamen, kam mir unglaublich vor. Sie war so unendlich weit weg, und es kam mir seltsam vor, dass ich vor nicht einmal zwei Tagen mit ihr geredet hatte.

Es klopfte. Ich packte hastig den Zettel weg. Mum kam herein.

„Aiden", fragte sie, „können wir reden?"

Ich nickte. Klar, blieb mir etwas anderes übrig? Ich dachte an heute Morgen und an das, was ich rausgefunden hatte. Besser gesagt, an all das, was ich nicht herausgefunden hatte. Sie setzte sich auf mein Bett. Es knarzte.

„Aiden, ich- ich hätte es früher tun sollen. Ich habe zu lange gewartet."

Toller Weg, ein Gespräch anzufangen. Zusammenhangslose Beichten, mit denen ich nichts anfangen konnte.

„Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, wirklich, sei nicht böse, aber wir- ich meine, ich, ich habe beschlossen, dass es- nun ja, das beste ist, wenn du ein wenig Abstand bekommst."

„Abstand?", fragte ich tonlos. Meine Stimme fühlte sich rau an. Vielleicht lag das ja daran, dass ich seit ungefähr 24 Stunden kein Wort geredet hatte. 

„Was ich damit sagen will, ist- bitte sei nicht böse, bitte- es wäre das beste für dich, denken wir- nein, ich-"

Sie holte tief Luft, als wäre das, was sie als Nächstes sagen würde, etwas Schlimmes.

„Wenn wir dich auf ein Internat schicken."

Es dauerte einen kleinen Moment, bis die Information bei mir im Gehirn ankam. Dann machte es Klick: Plötzlich ergab alles Sinn.

"Ich hoffe, du bist jetzt nicht sauer oder so-"

"Mum, ich verstehe, warum du das so entschieden hast.", sagte ich leise. "Wo ist diese Schule?"

Sie sah nervös aus.

„In England."

Ich hatte also Recht mit meiner Vermutung. Ich beschloss aber, keine weiteren Fragen zu stellen. Es war ihr offensichtlich unangenehm, wenn ich sie ausfragte. Ein Internat in England, das war jetzt nicht wirklich die naheliegendste Wahl.

„Dein Flug geht am Samstag. Du weißt, ich kann nicht immer für dich da sein, aber versprich mir bitte, dass du bis dahin- na ja, keinen Schwachsinn machst."

Ich nickte. „Versprochen."

„Und- Ich hab dich lieb, Aiden, egal, was passiert.", sagte sie mit brüchiger Stimme.

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