5. Ich hasse Pseudowerwölfe
Ich saß auf meinem Bett und hatte Kopfschmerzen. Wahrscheinlich, weil es langsam zur Gewohnheit wurde, Löcher in die Luft zu starren, wenn ich etwas nicht verstand, was ja bedauerlicherweise seit heute Morgen sehr oft der Fall war.
Eigentlich tat ich nicht wirklich etwas. Ich dachte nur nach. Über alles. Aber am meisten dachte ich über Olivia nach. Warum hatte Mrs. Johnson gesagt, es gäbe sie gar nicht? Und soweit ich wusste, hatte Mr. Thorn kein Wort über sie verloren. Wo war sie also?
Dumme Frage. Zu Hause natürlich. Sie war wahrscheinlich einfach gegangen. Es war ja nicht so, als hätte ich so etwas Ähnliches noch nie gebracht.
Ich griff zu meinem Handy. Dann fiel mir ein, dass es recht sinnfrei wäre, sie anzurufen, und dass ich ihre Nummer gar nicht hatte. Und erst dann fiel mir auf, wie wenig ich eigentlich über sie wusste. Eigentlich war das außer ihrem Namen und ein paar zusammenhanglosen Dingen nichts. Warum vertraute ich diesem Mädchen? Sie vertraute doch nicht einmal mir. Wenn ich so darüber nachdachte, war unser Freundschaft rein symbiotischer Natur. Sie gab mir das Gefühl, nicht ganz allein auf der Welt zu sein und Ich... was tat ich eigentlich für sie? Klar, manchmal hatte ich für sie geredet, wenn es sein musste. Aber sonst?
Charles' Worte fielen mir wieder ein. 'Was findet sie eigentlich an dir?'
Meine Faust ballte sich. Ich schluckte die Wut herunter, zusammen mit dem merkwürdigen Bedürfnis, irgendetwas kaputt zu machen.
Gott, was war mit mir los? Ich war doch sonst nicht so. Impulsiv war ich, ja, das würde sich nie ändern, aber aggressiv war ich eigentlich nie.
Ich stand auf. Ich musste mich irgendwie bewegen, sonst würde ich verrückt werden. Ich nahm meine Jacke und stahl mich aus dem Zimmer. Ich wusste, dass meine Mutter wollen würde, dass ich im Haus bleibe, vor allem, da es bereits spät am Nachmittag war.
Ich verließ das Haus und fing an zu laufen. Zuerst in einem leichten Trott, durch die Straßen, bis zum Wald. Rein. Ich zog das Tempo an, verließ den geteerten Weg, folgte automatisch meiner üblichen Route über die Trampelpfade. Der Waldboden federte die regelmäßigen Impulse meiner Schritte ab. Rhythmus. Struktur. Das fühlte sich gut an. Zum ersten Mal seit Stunden wurde mein Kopf klar. Es roch nach Erde und nach Harz.
Es ist alles egal, sagte eine Stimme in mir. Ich konnte nicht anders, als ihr zu glauben. Es kommt immer, wie es kommen muss.
Eine merkwürdige Wärme breitete sich in meiner Brust aus. Ja, es war wirklich alles gut. Vielleicht hatte ich es ja vergeigt und vielleicht war ich von der Schule geflogen. Aber die Aussicht auf einen kompletten Neuanfang gab mir das Gefühl, über allem zu schweben. Natürlich würde alles gut werden. Wie auch nicht? Ich merkte kaum mehr, wie ich lief. Es gab nur mich und diese Wärme.
Das alles schwand, als ich mich wieder an einer Kreuzung wiederfand. Das letzte Tageslicht verschwand bereits hinter den Bäumen. Ich blieb stehen, außer Atem. Wie lange war ich unterwegs gewesen? Eine Stunde? Zwei? Ich war mir nicht sicher. Länger als eigentlich geplant auf jeden Fall. Ich kehrte um. Im Dämmerlicht wurde es langsam schwieriger, zu sehen, wo ich hintrat. Ich wurde langsamer. Ohne die goldene Abendsonne wurde es langsam kühl. Dem warmen Gefühl wich ein schlechtes Gewissen. Ich hätte irgendwem Bescheid sagen sollen.
Im Unterholz knackte es. Ich blieb ruckartig stehen. Nichts rührte sich. Ich schüttelte den Kopf. Ich war wohl auf einen Ast getreten, das war alles. Was sollte denn schon da sein? Ein Bär oder ein Werwolf oder was? Gott, wie bescheuert.
Ich lief weiter. Wenn ich zu Hause sein wollte, bevor es endgültig dunkel wurde, musste ich mich beeilen. Ich lief weiter, aber unwillkürlich zuckte ich jedes Mal zusammen, wenn ich mit dem Arm einen Ast oder ein paar Blätter streifte.
Dann ergriff mit einem Mal das beunruhigende Gefühl, von etwas Großem und irgendwie Mächtigem verfolgt zu werden, von mir Besitz.
Ich rannte.
Ich glaubte, einen heißen Atem im Nacken zu spüren, meinte, eine Präsenz zu spüren, die älter war als alles hier. Das Herz klopfte mir bis zum Hals, und das lag nicht daran, dass ich gerade rannte. Mein Atem ging schnell und flach, ich war blind vor Panik, ich hatte Angst, eine falsche Abzweigung zu nehmen- ich war fast nie nachts hier- aber die Angst, von diesem Ding eingeholt zu werden, war größer. Immer wieder stolperte ich fast, fing mich aber wieder, rannte weiter, doch egal was ich tat, es war mir immer auf den Fersen.
Als ich gerade in Erwägung zog, mich diesem Etwas zu stellen, fiel ich. Ein heftiger Schmerz fuhr durch mein linkes Handgelenk. Dann war es vorbei.
Also nicht der Schmerz, meine ich. Sondern der ganze Rest. Es war wieder leise in meinem Kopf. Ich spürte, dass da nichts war. Ich konnte wieder denken. Da war wirklich nichts. Ich lag noch eine ganze Weile auf dem Waldboden, hielt mir mein Handgelenk und wagte es nicht, mich zu bewegen. Mein Herzschlag beruhigte sich langsam.
Ich stand auf. Meine Hände zitterten. Was zum Teufel war das gerade gewesen?
Es war mittlerweile komplett dunkel geworden. In der Ferne leuchteten Straßenlampen. Ein Stein fiel mir vom Herzen. So weit konnte ich mich nicht verlaufen haben.
Zu Hause schälte ich mich aus den dreckigen Klamotten - meine zerrissene Hose konnte ich nach diesem Erlebnis wohl komplett abschreiben - und duschte mich. Das heiße Wasser brannte in den zahlreichen kleinen Kratzern, die ich an den Beinen von den dornigen Sträuchern davongetragen hatte.
Meine Hand war ein wenig blutig. Als ich die Erde abgewaschen hatte, sah ich, dass sie ziemlich aufgeschürft war. Das Gelenk war inzwischen dick geworden und schmerzte dumpf. Wahrscheinlich würde es ziemlich blau werden. Ich verzog bei der Vorstellung daran jetzt schon das Gesicht.
Ich blieb nicht länger als nötig unter der Dusche. Nachdem ich mich abgetrocknet hatte, zog ich mir einen großen Pulli an. Ich wollte nicht, dass irgendjemand sah, dass ich irgendwie verletzt war.
Eine tiefe Erschöpfung, die mehr war als nur Müdigkeit, legte sich über mich. Obwohl es noch nicht spät war, schlief ich ein, sobald ich mich auf mein Bett gelegt hatte.
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